Wolkenturm Grafenegg
Lukas Beck
Wolkenturm Grafenegg

Grafenegg

Mythen im Wolkenturm


Wer sich nach Sommerfrische sehnt, aber doch nicht von zu Hause wegkommt, wer internationale Kunst vor einer ländlichen Kulisse erleben will, der oder die ist in Grafenegg bestens aufgehoben. Am Wolkenturm lauscht man nicht nur Stars aus aller Welt, sondern kann auch den stimmungsvollen Park durchstreifen. Längst hat sich Grafenegg mit seinem mittlerweile ganzjährigen Programm weit über die Grenzen Österreichs hinaus einen Namen gemacht. Dieses Jahr wird das Grafenegg Festival zum 15. Mal abgehalten. Ein halbrundes Jubiläum – Anlass genug, Grafenegg ein Special zu widmen. Bei der Eröffnung des ersten Festivals 2007 gastierte Renée Fleming, die auch heuer wieder am Wolkenturm auftritt und uns ein Interview gab. Zudem recherchierten wir, wie sich die signifikante Architektur bewährt hat, und gingen der Frage nach, warum die Grafenegg Academy beim künstlerischen Nachwuchs so beliebt ist. Demnächst startet die Sommersaison mit einer Gala; danach punkten die Sommerkonzerte mit ausgefeilten Programmen („Fake News“, „Mythen und Blüten“) und beim Festival sind internationale Orchester und Künstlergrößen wie die Dirigenten Zubin Mehta und Paavo Järvi sowie die Pianistin Hélène Grimaud zu erleben. Das ist freilich bei weitem nicht alles. Mehr zum diesjährigen Programm finden Sie unter grafenegg.com.

Renée Fleming
Andrew Eccles Decca
Renée Fleming

Renée Fleming

"Als Mädchen wollte ich Präsidentin werden"


Renée Fleming, internationale Starsopranistin, sang 2007 bei der Eröffnung des ersten Grafenegg Festival. Nun kehrt sie an den Ort zurück, an dem man „zum Himmel singen“ kann, wie sie sagt. Im Interview mit morgen erzählt sie über ihre Faszination für die Wissenschaft, die heilende Kraft des Singens und ihren Hang zum Garteln.

Es ist ein warmer Frühlingsvormittag in Virginia. Renée Fleming sitzt in ihrem lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Im Hintergrund blühen die Bäume. Fleming schwenkt die Kamera und zeigt stolz ihre Narzissenpracht. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie sind das Haus und der Garten der Lebensmittelpunkt der 62-jährigen Sopranistin, die auch nach über 30 Jahren auf der Bühne nichts von ihrer Ausstrahlung verloren hat.

1959 in Pennsylvania geboren, wächst Fleming in New York auf. Dort studiert sie Gesang an der renommierten Juilliard School. Danach bringt sie ein Fulbright-Stipendium nach Frankfurt, wo sie bei Arleen Augér weiterlernt und schließlich in einer Meisterklasse der weltberühmten Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf landet. Mitte der 1980er-Jahre debütiert Fleming als Konstanze in Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ am Salzburger Landestheater. Es folgen der „Figaro“ in Houston unter Christoph Eschenbach und „Così fan tutte“ an der New Yorker Metropolitan Opera unter Georg Solti.

Fast zehn Jahre lang singt Renée Fleming nur Mozart – die beste Stimmschule, wie sie sagt. Der große Durchbruch gelingt ihr mit Mitte 30, als sie an der Met als Desdemona in Verdis „Otello“ an der Seite Plácido Domingos einspringt. Seither hat die Künstlerin alle großen Bühnen der Welt erobert – von den Bayreuther Festspielen und der Wiener Staatsoper über die Londoner Royal Opera und das Opernhaus Zürich bis zu der Opéra Paris und der Mailänder Scala. Über 50 Partien hat sie im Repertoire; dabei hat es ihr vor allem Richard Strauss angetan: Neben den Opern „Arabella“ und „Capriccio“ gehörte die Marschallin im „Rosenkavalier“ zu ihren Paraderollen. Es gibt nur wenige Sängerinnen und Sänger, die so vielseitig sind wie Renée Fleming. Sie singt Liederabende ebenso wie Jazz und Rock, lieh ihre Stimme dem Filmsoundtrack zu „Der Herr der Ringe“, gab eine umwerfende „Lustige Witwe“ in Lehárs gleichnamiger Operette und debütierte 2018 am Broadway in Stephen Sondheims Musical „Carousel“.

Auch abseits der klassischen Bühnen trat Renée Fleming auf, etwa bei der Amtseinführung von Barack Obama, beim 70. Geburtstag von Prinz Charles oder beim Superbowl. Seit einigen Jahren widmet sich Fleming verstärkt der zeitgenössischen Musik. 2022 wird die vierfache Grammy-Gewinnerin an der Met in der neuen Oper „The Hours“ nach Michael Cunninghams Roman singen, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und 2002 verfilmt wurde.

Die Musik fließt durch mich hindurch ins Publikum.

Neben dem Gesang setzt sich die Sängerin für die wissenschaftliche Vermittlung von Musik und Gesundheit ein. 2016 wurde sie zur künstlerischen Beraterin des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington ernannt. In dieser Funktion initiierte sie das Projekt „Sound Health“, eine Kooperation zwischen dem Kennedy Center und den National Institutes of Health.

Stets fasziniert über die Vielfalt und die Möglichkeiten der menschlichen Stimme, programmierte und veranstaltete die Sopranistin zudem das genreübergreifende Festival American Voices, bei dem nicht nur gesungen wurde, sondern auch Expertinnen und Experten aus Medizin, Gesang und Wirtschaft ihre Erfahrungen mit dem Publikum teilten. Derzeit arbeitet die Künstlerin gerade mit dem Giganten Google zusammen: an einer Plattform mit Sängerinnen und Sängern, die von Post-Covid betroffenen Menschen durch Atemübungen helfen soll, die Symptome zu lindern.

2007 sang Renée Fleming bei der Eröffnung des ersten Grafenegg Festival. Im September wird sie dorthin zurückkehren und mit der Mailänder Filarmonica della Scala und Dirigent Andrés Orozco-Estrada eines ihrer Lieblingswerke, die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss, aufführen. morgen traf Renée Fleming via Zoom bereits jetzt zu einem Gespräch.

morgen: Frau Fleming, sehe ich einen Garten hinter Ihnen?

Renée Fleming

:

Ja, und ich liebe ihn! Gerade im vergangenen Corona-Jahr war es schön, im Grünen zu sein, auch für das eigene Seelenwohl.

Ich habe gelesen, dass Sie eine leidenschaftliche Gärtnerin sind und sogar einen eigenen Gemüsegarten haben.

Den hatte ich letzten Sommer tatsächlich. Ich weiß aber nicht, ob es sich heuer wieder ausgeht, weil ich die meiste Zeit weg von zu Hause sein werde und es niemanden gibt, der sich darum kümmert.

Kochen Sie gerne?

Eigentlich nicht. Nachdem ich vergangenes Jahr die meiste Zeit zu Hause war, dachte ich, dass ich jetzt endlich mit dem Kochen anfangen könnte. Aber irgendwie ist es nichts für mich.

Wann sind Sie zuletzt auf einer Bühne gestanden?

Vor zwei Wochen habe ich in Miami gesungen, allerdings war das outdoor. In zwei Wochen habe ich gemeinsam mit drei Jazzmusikern einen Auftritt im New Yorker Shed, das ist ein neues Kulturzentrum in Manhattan. Danach sind Konzerte mit dem Baltimore Symphony Orchestra und dem New Jersey Symphony Orchestra geplant, allerdings ohne Publikum.

Wie hat sich Ihr Leben in den letzten anderthalb Jahren verändert?

Am Anfang fand ich es angenehm, weil ich Zeit zum Nachdenken hatte und endlich meinen Haushalt organisieren konnte – ich wohne ja noch nicht so lange hier. Nach einer Weile habe ich mich gefragt, wie meine Stimme in Schwung bleiben soll und wie es sich anfühlen wird, nach so einer langen Pause wieder einen richtigen Auftritt zu absolvieren.

Wie halten Sie Ihre Stimme fit?

Ich habe begonnen, zwei- bis dreimal die Woche mit einem Pianisten bei mir zu Hause zu arbeiten. Das hat mir geholfen, eine gewisse Struktur in meinen Alltag zu bringen. Normalerweise sitze ich alle drei Tage in einem Flugzeug und reise von Auftritt zu Auftritt. Das fehlt mir jetzt.

Haben Sie mehr Freizeit als sonst?

Nicht wirklich. Meine Tage sind voll mit Zoom-Gesprächen und Interviews. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Wirkung von Musik auf das mentale und physische Wohlbefinden von Menschen. Der Lockdown in den USA war der Anlass, gemeinsam mit dem John F. Kennedy Center das Onlineformat „Music and Mind“ ins Leben zu rufen. Auf Facebook und Youtube haben wir einmal in der Woche mit Expertinnen und Experten darüber diskutiert, wie die Musik zu unserer Gesundheit beitragen kann.

Wie sind Sie auf das Thema Musik und Gesundheit gekommen?

Als Sängerin muss man lernen, die Verbindung zwischen Geist und Körper zu verstehen, weil unser Instrument im Innenraum des Leibes ist. Jeder Mensch ist anders, hat eine andere Physiologie, einen anderen Knochenbau. Ich selbst habe lange gebraucht, um meine Stimme zu verstehen und das Singen zu meistern.

Wie hat Ihnen die Wissenschaft geholfen?

Ich habe begonnen, mich für die Psychologie hinter dem Singen zu interessieren. Musik wird schon länger neurowissenschaftlich untersucht, um mehr über das menschliche Gehirn zu erfahren. Ich hatte vor ein paar Jahren das Glück, den Direktor der National Institutes of Health, Francis Collins, kennenzulernen. Er gehört zu den renommiertesten Wissenschaftlern in den USA und hat nicht nur die Genforschung revolutioniert, sondern auch an der Entwicklung von Impfstoffen mitgearbeitet. Damals hatte ich gerade angefangen, im John F. Kennedy Center for the Performing Arts zu arbeiten. Also schlug ich Collins vor, das Wissen über Musik und Gesundheit mit der Öffentlichkeit zu teilen. Er war von der Idee begeistert, auch weil er selbst ein sehr guter Amateurmusiker ist. Mittlerweile nimmt dieses Projekt einen großen Teil meiner Arbeit ein.

Welche Erkenntnisse haben Sie als Musikerin besonders fasziniert?

Es gibt zum Beispiel eine Initiative für Sprachintonationstherapie. Dabei lernen Menschen, die eine traumatische Hirnverletzung oder einen Schlaganfall erlitten haben, durch das Singen wieder zu sprechen. Demenz- und Alzheimerkranke erinnern sich an die Texte von Liedern, die sie als Kinder gelernt haben. Jemand, der oder die an Parkinson erkrankt ist, kann mit Hilfe von Musik und Tanz wieder gehen lernen. Kinder, die ein Instrument erlernen, sind weniger von ADHS betroffen. Musik ist das beste Beispiel, wie man Menschen auch ohne Operationen und Einsatz von Medikamenten behandeln kann.

War Sängerin schon immer ihr Traumberuf?

Überhaupt nicht. Als kleines Mädchen wollte ich Präsidentin werden. Aber da meine Eltern beide Gesang unterrichteten, war die Musik bei uns zu Hause immer präsent. Ich habe als Kind Klavier, Geige, Bratsche gespielt, später auch Gitarre.

Wann haben Sie sich für den Gesang entschieden?

Ich habe mich nicht wirklich entschieden, weil das Singen immer ein Teil meines Lebens war und es mir nie in den Sinn gekommen ist, etwas anderes zu studieren. Als ich im College war, habe ich zwei Jahre lang jedes Wochenende zu Jazzmusik in einer Bar gesungen. Der Saxophonist wollte sogar auf Tournee mit mir gehen, aber ich war damals zu schüchtern und bin stattdessen auf die Graduate School gegangen. In meiner Generation wurde man nicht gefragt, was man als erwachsener Mensch tun möchte. Für mich hat das zum Glück gut funktioniert.

Was ist das Schönste, wenn Sie auf der Bühne stehen?

Für mich ist es dieser ganz besondere Zustand, der Flow. Wenn ich im Flow bin, habe ich das Gefühl, dass die Musik durch mich hindurch in das Publikum fließt. Es ist die viel beschworene Magie des Augenblicks.

Sie beschäftigen sich intensiv mit zeitgenössischer Musik. Woher kommt diese Leidenschaft?

Ich habe schon als Kind lieber Igor Strawinsky als Johannes Brahms gehört. Am liebsten mochte ich Sergej Prokofjews „Peter und der Wolf“. Heute macht es mir Spaß, neue Dinge zu lernen und sie dem Publikum vorzustellen. Ich bin jetzt an einem Punkt in meinem Leben, wo ich ausschließlich das tun möchte, was mir Freude bereitet.

Sie haben 2007 bei der Eröffnung des ersten Grafenegg Festivals gesungen. Haben Sie noch Erinnerungen daran?

Ich erinnere mich an eine herrlich idyllische Landschaft und üppiges Grün. Außerdem liebe ich Open-Air-Konzerte. Es fühlt sich an, als würde ich zum Himmel singen. Für mich gibt es nichts Schöneres. ● ○

Wolkenturm
Klaus Vyhnalek
Wolkenturm

Architektur

Himmelfahrtskommando


Einzigartig und intensiv: So erinnert sich das Architekturbüro the next ENTERprise an Planung und Bau des Wolkenturms in Grafenegg. Wie hat sich die Landmark bewährt? Was schätzen Dirigenten und Musikerinnen daran? Und wie gehen Technik und Gastronomie damit um?

Die Idee war so verwegen wie ambitioniert: Im Park von Schloss Grafenegg sollte ein Freiluftfestival für klassische Orchestermusik aus dem Boden gestampft werden. Und zwar auf dem Niveau der ehrwürdigen Konzertserie The Proms in London, der Musikstätte Tanglewood in Massachusetts und des Schleswig-Holstein Musik Festivals. So etwas fehlte in Niederösterreich bis vor rund eineinhalb Jahrzehnten. Der Ort war vielversprechend. Die Architekten Leopold und Hugo Ernst hatten das Schloss Grafenegg im 19. Jahrhundert in ein Juwel des romantischen Historismus verwandelt. Damals wurde auch der 32 Hektar große Park mit Baumpflanzungen, geschwungenen Wegen und Hügeln zum englischen Landschaftsgarten umgestaltet.

Tiefstapelei

Doch Grafenegg war in der klassischen Musikwelt trotz kleinerer kultureller Aktivitäten lange ein weißer Fleck, die öffentliche Verkehrsanbindung lausig. Per Auto braucht man von Wien etwa 50 Minuten, von St. Pölten eine halbe Stunde, von Krems 15 Minuten. „Anfangs war die Skepsis groß. Da will jemand im Nirgendwo ein Festival hochziehen“, sagt Philipp Stein, seit 2018 Grafenegg-Geschäftsführer. Allerdings: Das Land Niederösterreich war bereit zu investieren, der große Pianist Rudolf Buchbinder war bereit, die künstlerische Leitung zu übernehmen, das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich war bereit, seine Zelte dort aufzuschlagen. Was noch fehlte: eine Freiluftbühne. 2005 wurden einige handverlesene Architekturbüros zum Wettbewerb geladen. Das Projekt von the next ENTERprise Architects (tnE) – Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs – gewann. „Ausgeschrieben war eine Freiluftbühne für klassische Sommerkonzerte ohne elektroakustische Verstärkung. Wir aber entwarfen etwas, das vordergründig nicht aussieht wie eine Bühne“, erklärt Fuchs. „Der Park ist 365 Tage im Jahr öffentlich zugänglich, die Konzertsaison im Sommer ist kurz. Uns interessierte daher auch, was die restliche Zeit passiert“, ergänzt Harnoncourt, die auch als Professorin an der Uni Kassel lehrt. „Der historische Landschaftsgarten besteht aus Hügeln, Teichen, Ruinen. Unser Bauwerk sollte zum Verweilen einladen und sich verwandeln – je nachdem, von wo aus man es betrachtet.“

Als Fuchs und Harnoncourt, denen das Land Niederösterreich 2018 den Würdigungspreis für Architektur verlieh, im März 2005 nach Grafenegg fuhren, schneite es. „Es war ein tolles Erlebnis. Der Park ist topografisch angelegt, und wir rodelten den Napoleonhügel hinunter. Das war für unsere Vision prägend.“ Sie entwickelten die Geometrie ihres Bühnenbauwerks aus den Landschaftselementen. Dazu vermaßen sie alle Bäume, Hügel, Höhenschichtlinien und Teiche, hielten Blickachsen und Wege fest. Unweit vom Wiener Tor gab es auf der Wiese neben dem Schloss zwei große Mulden, die ineinander übergingen. „Wir mussten nur etwas tiefer graben und das ausgehobene Volumen wie einen Massentausch auftürmen“, erklärt Harnoncourt. Reinste Tiefstapelei. Denn die Mulde, in der sich die Sitzstufen des Freiluftauditoriums von der Bühne aus kreisförmig aufwärts entwickeln, hält mit dem Volumen des Wolkenturms eine subtile Balance. Seine Basis bildet einen Hohlraum und erzeugt mithilfe von Paneelen eine Konzertsaalakustik für die Bühne. Ihre Rückwand reflektiert die Schallenergie so, dass sich der Klang trichterförmig ins Auditorium ausbreitet. Man hört nur, was man sieht. Wie im griechischen Amphitheater. Das akustische Feintuning der Freiluftspielstätte stammt von der Müller-BBM GmbH.

Feuerwehreinsatz

Als begeh- und bespielbare Skulptur ist der Wolkenturm heute ein Teil des Parks. 90 Tonnen Stahl stecken in der Konstruktion seiner expressiven Gestalt, die sich 23 Meter hoch über der Bühne auftürmt. „Die Baustelle war intensiv. Nichts war alltäglich. So etwas baut man nur einmal“, gesteht Architekt Fuchs. Sowohl das Architektenteam als auch die Tragwerksplaner vom Büro Bergmeister Ingenieure hatten ihre Feuerprobe beim Bau des hochgestemmten Beckens aus Sichtbeton im Freibad in Kaltern bestanden. „Betonieren ist wie Kochen: die Rezeptur, die Konsistenz, der Zeitpunkt der Einbringung, die Rüttlung – alles spielt zusammen“, erklärt Fuchs. Eine der schlanken Wände musste mehrmals betoniert werden. Bis zuletzt war unklar, ob die Musikerinnen und Musiker das Bauwerk auch akzeptieren würden. „Das Einspielen mit den Tonkünstlern hat das Projekt akustisch und atmosphärisch bestätigt – sie haben es freigegeben.“

Fünf Stunden vor dem Eröffnungskonzert am 22. Juni 2007 entlud sich ein heftiges Sommergewitter. „Die Sessel standen 30 cm im Wasser, alles war verschlammt“, weiß Ernst Süss aus Erzählungen. „Alle umliegenden Feuerwehren waren im Großeinsatz – vier Stunden später war es sauber.“ Seit zwölf Jahren ist Süss technischer Leiter in Grafenegg. Das leichte Prickeln, ob das Wetter halten wird, blieb. Vor jedem Konzert liegt Elektrizität in der Luft. Der Wolkenturm reagiert auf die Witterung. „Er ist etwas Lebendiges. Man muss alles so einfach wie möglich halten“, sagt Süss. Nur keine Chemie.

Heute zeigen sich erste Alterungsspuren: Die Dämpfmatten der Akustikelemente müssen bald getauscht werden, wie ein leichter Flaum überziehen Moose die Stirnflächen am Beton. Blasse rostrote Streifen deuten darauf hin, dass die Betondeckung hier und dort schon ausgedünnt ist. „Glas, Stahl, Beton: Bei diesem Bauwerk gibt es viele Verschneidungen und Wartungsfugen, in die Wasser eindringen kann“, sagt Süss. „Wasser und Elektronik vertragen sich schlecht.“ Raben picken gern die Dichtungsmasse aus den Fugen. „Wir haben Vogelnetze aufgezogen, sonst gäbe es bald ein Problem.“ 2013 landete eine Technikkabine per Kran über dem Durchgang zur Publikumstribüne, durch den auch Nebengeräusche eindrangen. Man justierte nach: Vorhänge, betongrau, in acht Lagen doppelt genäht. Fast 15 Jahre ist der Wolkenturm ständig ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt – bestens gepflegt, naht die Zeit einer ersten Sanierung. Auch das wird spannend.

Atmosphärisches Gesamterlebnis

„Die ersten Proben waren sehr schön. Wir waren alle neugierig auf die Naturakustik“, sagt Barbara Ritter, Solo-Oboistin der Tonkünstler. Sie vermutet sogar, diese könne die Hörgewohnheiten des Publikums schulen. „Es ist als Musikerin sehr befriedigend, dort zu spielen.“ Das Wetter bleibt aber ein ständiges Risiko. Bei einer Sommernachtsgala mit TV-Übertragung hielten die Musikerinnen und Musiker bis 13 Grad durch. „Wird es kälter als 18 Grad, hat man klamme Finger, Holz- und Blechblasinstrumente leiden.“ Worunter Kunstschaffende leiden: den „üblichen Details“ – zu wenige Toiletten bei den Garderoben, heiße Aufenthaltsräume. An lauen Sommerabenden aber ist Grafenegg unschlagbar. „Wenn die Vögel mitzwitschern, ist das ein atmosphärisches Gesamterlebnis“, so die Künstlerin.

„Ob Streicher, Bläser, Sänger – man hört alle. Die Akustik ist wundervoll“, freut sich Rudolf Buchbinder. „Zubin Mehta, Renée Fleming – viele sagten mir, es sei die beste Freiluftbühne der Welt.“ Auch Einheimische mögen den Wolkenturm. Franz Ehmoser wohnt 15 Autominuten entfernt in Königsbrunn am Wagram. Seit der Sommernachtsgala 2008 – „die war so richtig romantisch“ – haben er und seine Frau ein Abo. „Bei gutem Wetter ist das Ambiente mit dem Wolkenturm und der Silhouette vom Schloss durch nichts zu ersetzen.“

2007 fand die erste Sommernachtsgala statt und startete das erste Festival mit zwölf Konzerten, drei Wochen Spielzeit, 14.700 Gästen. „Da wussten alle, dass es nicht nur ein komisches Hirngespinst war“, sagt Philipp Stein. Bald reichten die 1.700 Sitzplätze des Wolkenturms und die 300 Rasenplätze nicht mehr. Man erweiterte die Sitzmöglichkeiten auf dem künstlich aufgeschütteten Hügel um weitere 100 Rasenplätze. Die Pausenbewirtung, so zeigte sich bald, war zu Beginn zu wenig bedacht worden. Toni Mörwald, Herr über die Grafenegg-Gastro, hatte zuvor beim Auditorium Stehtische aufgestellt, die der Wind umwehte. Weil Gläser zu laut klirrten, sattelte er auf Plastikbecher um. Später stellte er grüne Container auf der Wiese seitlich des Durchgangs auf. Eine dauerhafte Lösung für die Pausendrinks fand sich erst 2015, als die Freiluftbar Wolke 7 fertig wurde. Auch sie wurde von tnE architects geplant. Ihre Betondecke wirkt wie ein vom Wind verwehtes Blatt, das sacht auf den schwarzen Stahlstützen gelandet ist. Seine Geometrie folgt der Biegelinie des Kräfteverlaufs – daher ist es so hauchdünn. 25 Meter Tresen, eine Kühllade und mehrere Kassenstationen stehen dem neunköpfigen Serviceteam hier zur Verfügung. Weil 20 Minuten für hunderte Menschen, die bestellen, zahlen und konsumieren, immer noch ein Himmelfahrtskommando sind, bietet Mörwald nun Pausenpakete an. Grafenegg optimiert sich ständig. Matinee, Picknick, Spaziergang, Dinner, Konzert, ein, zwei Gläschen Wein: Programm für einen Tag oder sogar mehrere, wenn man in einem der Grafenegg Cottages nächtigt.

Im Rekordjahr 2018 kamen 52.800 Menschen zu den Konzerten während des Sommers, heute ist Grafenegg eine fixe Größe in der Musikwelt. Künstlerinnen und Künstler lieben es. „Es ist sehr, sehr angenehm, auf dieser Bühne zu spielen. Das Publikum hört jedes Pianissimo bis hinauf, unser größter Feind ist der Wind“, sagt der künstlerische Leiter Rudolf Buchbinder. Einziger Wermutstropfen: „Der Applaus klingt sehr schütter.“ Der Preis der guten Akustik ist verschmerzbar. ● ○

Magnet für den musikalischen Nachwuchs: Schlosspark Grafenegg
Grafenegg
Magnet für den musikalischen Nachwuchs: Schlosspark Grafenegg

Academy

Klangvolle Versuchsanordnungen


Ein Orchester probt ganz ohne Dirigent? Experimente wie dieses wagt die Grafenegg Academy, wo Profis und Nachwuchs auf Augenhöhe bemerkenswerte Programme erarbeiten.

Als 2007 das Grafenegg Festival startete, konnte wahrscheinlich noch niemand wirklich erahnen, was sich daraus entwickeln würde. „Ein klassisches Musikfestival in romantischem Rahmen“ war angekündigt. Das wurde es auch – und es wuchs rasant, mit Sommerkonzerten, dem Campus Grafenegg und mehr. 2018 kam die Grafenegg Academy hinzu: Hier erarbeiten junge Musikerinnen und Musiker mit international renommierten Profis Stücke, die sie dann vor einem neugierigen Publikum aufführen.

Die Grafenegg Academy gehört, wie beispielsweise der Composer-Conductor-Workshop „Ink Still Wet“, zum Campus Grafenegg, der jungen Talenten Fortbildung und inspirierende Momente bietet. Campus-Leiterin Magdalena Klamminger erläutert im Gespräch mit morgen: „Der Campus Grafenegg schafft ein ergänzendes Angebot für junge Profimusikerinnen und -musiker und berücksichtigt Aspekte, die im regulären Hochschulbetrieb oft zu kurz kommen. Zudem bietet er ein interdisziplinäres Programm, das über das perfekte Spiel hinausgeht.“

Im ersten Jahr übernahm der US-amerikanische Dirigent und Musikwissenschaftler Leon Bot­stein die Academy als künstlerischer Leiter. Er entwickelte ein spartenübergreifendes Konzept, mit einem ausgewählten Raritäten-Repertoire sowie namhaften Mitwirkenden – von Thomas Hampson über Christopher Maltman bis Elisabeth Kulman. Die Veranstaltungen fanden ein vergleichsweise überschaubares Publikum, zeugten aber von der Realisierbarkeit eines inhaltlichen roten Fadens und anspruchsvoller Alternativen zum gängigen Mainstream.

2019 legte die Grafenegg Academy eine kreative Pause ein. Als künstlerische Kuratoren wurden dann der Schwede Håkan Hardenberger und der schottische Perkussionist Colin Currie bestellt. Hardenberger gilt als führender Trompetenvirtuose der Gegenwart und engagiert sich besonders für zeitgenössische Musik; Currie hat ein spezielles Faible für Minimal-Music-Pionier Steve Reich. Die Academy verstehen beide nicht bloß als ein weiteres Jugendorchester, sondern als Thinktank für junge Profimusikerinnen und -musiker, als Gelegenheit, Fragen zu stellen, Querverbindungen zu ziehen und zum Gedankenaustausch in einer wesentlichen Phase des Musikerdaseins.

Gruppendynamik

Kein Wunder, dass das Interesse an einer Teilnahme 2020 enorm war: Für die 60 ausgeschriebenen Orchesterstellen trafen 460 Bewerbungen aus 59 Ländern und vier Kontinenten ein. Doch das Virus machte den Plänen einen Strich durch die Rechnung. In einer virtuellen Fassung sorgte die Academy dennoch für Anregung und Inspiration. Die ursprünglich geplanten Aktivitäten werden nun im Juli 2021 nachgeholt – selbstverständlich mit allen, die damals das Rennen gemacht haben.

Die jungen Musikerinnen und Musiker werden nun zwei Wochen in enger Zusammenarbeit mit anderen Assen ihrer Generation sowie einem internationalen Team aus erfahrenen Tutorinnen und Tutoren verbringen. Dabei lernen sie neue Arten von Konzertformaten kennen. Music Labs und Meisterklassen ergänzen das Programm. Dazu arbeiten sie zu größeren Themenstellungen: Ein Workshop von Hardenberger trägt den Titel „Line... a Vertical Reality“; Curries Pendant dazu heißt „Keeping Time – Internalising Pulse in Music“. Neben den täglichen Proben, so Campus-Chefin Klamminger, „werden gesundheitliche Aspekte wie Verletzungsprävention und Entspannungstechniken thematisiert.“

Die international tätige Hornistin Melissa Danas freut sich schon, wenn sie dieses Jahr an der Academy teilnimmt. Sie stammt aus New York, erhielt den renommierten Fulbright Award und kennt das Umfeld in Grafenegg bereits: „Es ist perfekt, um meine künstlerischen Fähigkeiten auszubilden, in einem Ambiente, in dem Neugier belohnt und Innovation kultiviert wird.“ Der italienische Flötist Matteo Sampaolo, Alumnus des Campus Grafenegg, pflichtet ihr bei: „Es gibt keinen vergleichbaren Ort, der so eine einzigartige Atmosphäre atmet. Jeder und alles ermöglicht dir wunderbare Musik und das Gefühl, dich zu Hause zu fühlen.“

Auf die Musikerinnen und Musiker warten ungewöhnliche Experimente. So probt das Orchester die meisten seiner Konzertprogramme selbstständig unter der Anleitung der Tutorinnen und Tutoren, aber ohne Dirigentin und Dirigent. Das, so die Idee, fördert die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung innerhalb des Klangkörpers. Also eine Art basisdemokratische Orchesterarbeit – und somit eine gesellschaftlich, gruppendynamisch wie politisch höchst relevante und spannende Versuchsanordnung. Diese macht auch bewusst, dass es ein exponiertes Dirigat im heutigen Sinn erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts gibt; davor war allenfalls vom „Capellmeister“ und „Musik-Regenten“ oder vom „Musik-Direktor“ die Rede. Vor diesem Hintergrund kommt der Grafenegg Academy Modellcharakter zu. Ob dann auch die Konzerte ohne Dirigent, ohne Dirigentin auskommen werden? Klamminger zeigt sich gespannt. Bei Experimenten weiß man eben nie ganz genau, was herauskommt – Überraschungen sind Programm.

Die Academy mündet in zwei Veranstaltungen im Juli: Colin Currie präsentiert mit dem Orchester das „Konzert für Schlagwerk und Orchester“ der schottischen Komponistin Helen Grime, eine österreichische Erstaufführung. Außerdem erklingen Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagwerk und Celesta“ sowie zwei Werke von Igor Strawinsky. Am zweiten Academy-Abend rückt Håkan Hardenberger das Thema „Krieg und Frieden“ in den Mittelpunkt. Beethovens symphonisches Schlachtengemälde „Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria“ steht in Kontrast zu Mauricio Kagels 1979 entstandener humorvoller Komposition „10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen“ sowie zu HK Grubers „Demilitarized Zones“, die das Pathos kunstvoll verfremden. Joseph Haydn, Meister der Ironie und der Überraschungseffekte, liegt mit seiner stimmungsvollen „Militärsymphonie“ irgendwo dazwischen.

Bei der Academy denkt man freilich über die jeweilige Saison hinaus. „Im Idealfall kehren die Akteurinnen und Akteure in ein paar Jahren als Mitglieder der großen Orchester zu uns zurück“, hofft Magdalena Klamminger. Wohl nicht zu Unrecht. ● ○