Lydia Steinbacher
Helmut Steinbacher
Lydia Steinbacher

Steinbacher

Mikrokosmos der Sprache


Hier kommt die Zukunft: An dieser Stelle präsentieren wir in jeder Ausgabe Kunstschaffende in und aus Niederösterreich, die jünger als 35 Jahre sind. Diesmal: Lydia Steinbacher.

Reseden sind hochwachsende krautige Pflanzen mit kleinteiligen grünlich gelben Blüten. Anzutreffen sind sie im Mittelmeerraum oder in Lydia Steinbachers Erzählung „Reseden im Verblühen“. Dort schlagen ihre langen, im Regen zitternden Hälse gegen eine Balkontür, hinter der sich ein erzählerisches Ich mit noch nassen Haaren auf einen Tag vorbereitet, über Existenz, Tod und eine vergangene Beziehung nachdenkt. Dies ist so präzise verfasst, dass Lesende meinen könnten, sie steckten selbst im Körper dieses Ichs. Die sprachlichen Bilder, die Lydia Steinbacher verwendet, sind ungewöhnlich, philosophisch; wenn etwa die Protagonistin ein Holzbrett unter ihren Händen davonschwimmen und zu Treibholz werden sieht – als Metapher für die allem eingeschriebene Entropie.

Worte aus der Botanik oder aus Sprachen, mit denen sich die Autorin beschäftigt hat, schillern wie kostbare Schmuckstücke in ihren Texten. Nyktinastie, die Lageveränderung pflanzlicher Organe durch Licht- und Temperaturreize, übersetzt sie im gleichlautenden Gedicht in einen sprachlichen Rhythmus. „Sich aussetzen, sich erleben, sich fühlen“, sagt Lydia Steinbacher, sei essenziell für sie, und das funktioniere am besten in der Natur, wo Gerüche und Sinnesreizungen intensiver seien. „Landschaften, die ich in- und auswendig kenne, finden in verschiedenen Formen Eingang in meine Texte“, beschreibt sie den Umgang mit ihren sprachlichen und biografischen Umgebungen.

Aufgewachsen im niederösterreichischen Hollenstein, begann die 1993 geborene Lyrikerin ihren schriftstellerischen Werdegang bereits im Alter von 13 Jahren als Mitglied der Schreibakademie Waidhofen an der Ybbs. Deren damalige Leiterin, die Autorin Evelyn Schlag, empfahl sie später für einen Gedichtband in der Reihe „Neue Lyrik aus Österreich“. „silex“ erschien 2014 und machte Steinbacher sofort in der Lyrikszene bekannt. Sie erhielt Einladungen zu Festivals und Lesungen von Berlin bis New York. 2017 erschien ihre zweite Lyrikausgabe „Im Grunde sind wir sehr verschieden“, die sie mit eigenen Zeichnungen versah. 2018 trug sie einen Text zur Anthologie „Frauen.Wahl.Recht.“ der Literaturedition Niederösterreich bei. Ein Jahr später folgte unter dem Titel „Schalenmenschen“ das erste Buch mit Erzählungen. In den 20 Texten geht es um Beziehungen, Verwundungen, Irritationen und Wendungen. Dafür begibt sich Steinbacher in einen Mikrokosmos der Wahrnehmung, auf die Teilchenebene menschlicher Interaktion. Wenn auch hin und wieder ein Name oder eine Beschreibung einen Hinweis auf einen konkreten Ort gibt, so haben ihre Geschichten doch universellen Charakter. Sprache, so zeigt Steinbacher, ist die Vergegenwärtigung des Seins, der Kern menschlicher Identität und gleichzeitig wandelbar und grenzenlos.

Derzeit lebt Lydia Steinbacher, die auch in einem Schulbuchverlag als Lektorin arbeitet, in Wien und Niederösterreich. Immer wieder sucht sie für längere Zeit das Weite, geht an Orte, an die sie ihre Neugier führt. Einer davon war Almaty, wo sie einige Monate lang für ihre Masterarbeit über Menschen deutscher Muttersprache in Kasachstan forschte. Oder Nizza, wo sie ein halbes Jahr Deutsch unterrichtete. Momentan wechselt sie zwischen der Arbeit an ihrer Dissertation über russlanddeutsche Literatur seit 1991 und dem Schreiben an ihrem ersten Roman, den sie während einer Writers Residency im ungarischen Pécs begonnen hat. Dabei gebe es vereinzelt sogar Schnittstellen zwischen wissenschaftlicher und literarischer Arbeit, wenn auch nur dezent. „Im Roman geht es“, verrät sie, „um Weitergabe, das Sich-Einschreiben ins Gedächtnis anderer und um den potenziellen Missbrauch der Aneignung.“ Die Rohfassung ist bereits fertig. ● ○