Magnet für den musikalischen Nachwuchs: Schlosspark Grafenegg
Grafenegg
Magnet für den musikalischen Nachwuchs: Schlosspark Grafenegg

Academy

Klangvolle Versuchsanordnungen


Ein Orchester probt ganz ohne Dirigent? Experimente wie dieses wagt die Grafenegg Academy, wo Profis und Nachwuchs auf Augenhöhe bemerkenswerte Programme erarbeiten.

Als 2007 das Grafenegg Festival startete, konnte wahrscheinlich noch niemand wirklich erahnen, was sich daraus entwickeln würde. „Ein klassisches Musikfestival in romantischem Rahmen“ war angekündigt. Das wurde es auch – und es wuchs rasant, mit Sommerkonzerten, dem Campus Grafenegg und mehr. 2018 kam die Grafenegg Academy hinzu: Hier erarbeiten junge Musikerinnen und Musiker mit international renommierten Profis Stücke, die sie dann vor einem neugierigen Publikum aufführen.

Die Grafenegg Academy gehört, wie beispielsweise der Composer-Conductor-Workshop „Ink Still Wet“, zum Campus Grafenegg, der jungen Talenten Fortbildung und inspirierende Momente bietet. Campus-Leiterin Magdalena Klamminger erläutert im Gespräch mit morgen: „Der Campus Grafenegg schafft ein ergänzendes Angebot für junge Profimusikerinnen und -musiker und berücksichtigt Aspekte, die im regulären Hochschulbetrieb oft zu kurz kommen. Zudem bietet er ein interdisziplinäres Programm, das über das perfekte Spiel hinausgeht.“

Im ersten Jahr übernahm der US-amerikanische Dirigent und Musikwissenschaftler Leon Bot­stein die Academy als künstlerischer Leiter. Er entwickelte ein spartenübergreifendes Konzept, mit einem ausgewählten Raritäten-Repertoire sowie namhaften Mitwirkenden – von Thomas Hampson über Christopher Maltman bis Elisabeth Kulman. Die Veranstaltungen fanden ein vergleichsweise überschaubares Publikum, zeugten aber von der Realisierbarkeit eines inhaltlichen roten Fadens und anspruchsvoller Alternativen zum gängigen Mainstream.

2019 legte die Grafenegg Academy eine kreative Pause ein. Als künstlerische Kuratoren wurden dann der Schwede Håkan Hardenberger und der schottische Perkussionist Colin Currie bestellt. Hardenberger gilt als führender Trompetenvirtuose der Gegenwart und engagiert sich besonders für zeitgenössische Musik; Currie hat ein spezielles Faible für Minimal-Music-Pionier Steve Reich. Die Academy verstehen beide nicht bloß als ein weiteres Jugendorchester, sondern als Thinktank für junge Profimusikerinnen und -musiker, als Gelegenheit, Fragen zu stellen, Querverbindungen zu ziehen und zum Gedankenaustausch in einer wesentlichen Phase des Musikerdaseins.

Gruppendynamik

Kein Wunder, dass das Interesse an einer Teilnahme 2020 enorm war: Für die 60 ausgeschriebenen Orchesterstellen trafen 460 Bewerbungen aus 59 Ländern und vier Kontinenten ein. Doch das Virus machte den Plänen einen Strich durch die Rechnung. In einer virtuellen Fassung sorgte die Academy dennoch für Anregung und Inspiration. Die ursprünglich geplanten Aktivitäten werden nun im Juli 2021 nachgeholt – selbstverständlich mit allen, die damals das Rennen gemacht haben.

Die jungen Musikerinnen und Musiker werden nun zwei Wochen in enger Zusammenarbeit mit anderen Assen ihrer Generation sowie einem internationalen Team aus erfahrenen Tutorinnen und Tutoren verbringen. Dabei lernen sie neue Arten von Konzertformaten kennen. Music Labs und Meisterklassen ergänzen das Programm. Dazu arbeiten sie zu größeren Themenstellungen: Ein Workshop von Hardenberger trägt den Titel „Line... a Vertical Reality“; Curries Pendant dazu heißt „Keeping Time – Internalising Pulse in Music“. Neben den täglichen Proben, so Campus-Chefin Klamminger, „werden gesundheitliche Aspekte wie Verletzungsprävention und Entspannungstechniken thematisiert.“

Die international tätige Hornistin Melissa Danas freut sich schon, wenn sie dieses Jahr an der Academy teilnimmt. Sie stammt aus New York, erhielt den renommierten Fulbright Award und kennt das Umfeld in Grafenegg bereits: „Es ist perfekt, um meine künstlerischen Fähigkeiten auszubilden, in einem Ambiente, in dem Neugier belohnt und Innovation kultiviert wird.“ Der italienische Flötist Matteo Sampaolo, Alumnus des Campus Grafenegg, pflichtet ihr bei: „Es gibt keinen vergleichbaren Ort, der so eine einzigartige Atmosphäre atmet. Jeder und alles ermöglicht dir wunderbare Musik und das Gefühl, dich zu Hause zu fühlen.“

Auf die Musikerinnen und Musiker warten ungewöhnliche Experimente. So probt das Orchester die meisten seiner Konzertprogramme selbstständig unter der Anleitung der Tutorinnen und Tutoren, aber ohne Dirigentin und Dirigent. Das, so die Idee, fördert die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung innerhalb des Klangkörpers. Also eine Art basisdemokratische Orchesterarbeit – und somit eine gesellschaftlich, gruppendynamisch wie politisch höchst relevante und spannende Versuchsanordnung. Diese macht auch bewusst, dass es ein exponiertes Dirigat im heutigen Sinn erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts gibt; davor war allenfalls vom „Capellmeister“ und „Musik-Regenten“ oder vom „Musik-Direktor“ die Rede. Vor diesem Hintergrund kommt der Grafenegg Academy Modellcharakter zu. Ob dann auch die Konzerte ohne Dirigent, ohne Dirigentin auskommen werden? Klamminger zeigt sich gespannt. Bei Experimenten weiß man eben nie ganz genau, was herauskommt – Überraschungen sind Programm.

Die Academy mündet in zwei Veranstaltungen im Juli: Colin Currie präsentiert mit dem Orchester das „Konzert für Schlagwerk und Orchester“ der schottischen Komponistin Helen Grime, eine österreichische Erstaufführung. Außerdem erklingen Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagwerk und Celesta“ sowie zwei Werke von Igor Strawinsky. Am zweiten Academy-Abend rückt Håkan Hardenberger das Thema „Krieg und Frieden“ in den Mittelpunkt. Beethovens symphonisches Schlachtengemälde „Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria“ steht in Kontrast zu Mauricio Kagels 1979 entstandener humorvoller Komposition „10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen“ sowie zu HK Grubers „Demilitarized Zones“, die das Pathos kunstvoll verfremden. Joseph Haydn, Meister der Ironie und der Überraschungseffekte, liegt mit seiner stimmungsvollen „Militärsymphonie“ irgendwo dazwischen.

Bei der Academy denkt man freilich über die jeweilige Saison hinaus. „Im Idealfall kehren die Akteurinnen und Akteure in ein paar Jahren als Mitglieder der großen Orchester zu uns zurück“, hofft Magdalena Klamminger. Wohl nicht zu Unrecht. ● ○