Wolkenturm
Klaus Vyhnalek
Wolkenturm

Architektur

Himmelfahrtskommando


Einzigartig und intensiv: So erinnert sich das Architekturbüro the next ENTERprise an Planung und Bau des Wolkenturms in Grafenegg. Wie hat sich die Landmark bewährt? Was schätzen Dirigenten und Musikerinnen daran? Und wie gehen Technik und Gastronomie damit um?

Die Idee war so verwegen wie ambitioniert: Im Park von Schloss Grafenegg sollte ein Freiluftfestival für klassische Orchestermusik aus dem Boden gestampft werden. Und zwar auf dem Niveau der ehrwürdigen Konzertserie The Proms in London, der Musikstätte Tanglewood in Massachusetts und des Schleswig-Holstein Musik Festivals. So etwas fehlte in Niederösterreich bis vor rund eineinhalb Jahrzehnten. Der Ort war vielversprechend. Die Architekten Leopold und Hugo Ernst hatten das Schloss Grafenegg im 19. Jahrhundert in ein Juwel des romantischen Historismus verwandelt. Damals wurde auch der 32 Hektar große Park mit Baumpflanzungen, geschwungenen Wegen und Hügeln zum englischen Landschaftsgarten umgestaltet.

Tiefstapelei

Doch Grafenegg war in der klassischen Musikwelt trotz kleinerer kultureller Aktivitäten lange ein weißer Fleck, die öffentliche Verkehrsanbindung lausig. Per Auto braucht man von Wien etwa 50 Minuten, von St. Pölten eine halbe Stunde, von Krems 15 Minuten. „Anfangs war die Skepsis groß. Da will jemand im Nirgendwo ein Festival hochziehen“, sagt Philipp Stein, seit 2018 Grafenegg-Geschäftsführer. Allerdings: Das Land Niederösterreich war bereit zu investieren, der große Pianist Rudolf Buchbinder war bereit, die künstlerische Leitung zu übernehmen, das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich war bereit, seine Zelte dort aufzuschlagen. Was noch fehlte: eine Freiluftbühne. 2005 wurden einige handverlesene Architekturbüros zum Wettbewerb geladen. Das Projekt von the next ENTERprise Architects (tnE) – Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs – gewann. „Ausgeschrieben war eine Freiluftbühne für klassische Sommerkonzerte ohne elektroakustische Verstärkung. Wir aber entwarfen etwas, das vordergründig nicht aussieht wie eine Bühne“, erklärt Fuchs. „Der Park ist 365 Tage im Jahr öffentlich zugänglich, die Konzertsaison im Sommer ist kurz. Uns interessierte daher auch, was die restliche Zeit passiert“, ergänzt Harnoncourt, die auch als Professorin an der Uni Kassel lehrt. „Der historische Landschaftsgarten besteht aus Hügeln, Teichen, Ruinen. Unser Bauwerk sollte zum Verweilen einladen und sich verwandeln – je nachdem, von wo aus man es betrachtet.“

Als Fuchs und Harnoncourt, denen das Land Niederösterreich 2018 den Würdigungspreis für Architektur verlieh, im März 2005 nach Grafenegg fuhren, schneite es. „Es war ein tolles Erlebnis. Der Park ist topografisch angelegt, und wir rodelten den Napoleonhügel hinunter. Das war für unsere Vision prägend.“ Sie entwickelten die Geometrie ihres Bühnenbauwerks aus den Landschaftselementen. Dazu vermaßen sie alle Bäume, Hügel, Höhenschichtlinien und Teiche, hielten Blickachsen und Wege fest. Unweit vom Wiener Tor gab es auf der Wiese neben dem Schloss zwei große Mulden, die ineinander übergingen. „Wir mussten nur etwas tiefer graben und das ausgehobene Volumen wie einen Massentausch auftürmen“, erklärt Harnoncourt. Reinste Tiefstapelei. Denn die Mulde, in der sich die Sitzstufen des Freiluftauditoriums von der Bühne aus kreisförmig aufwärts entwickeln, hält mit dem Volumen des Wolkenturms eine subtile Balance. Seine Basis bildet einen Hohlraum und erzeugt mithilfe von Paneelen eine Konzertsaalakustik für die Bühne. Ihre Rückwand reflektiert die Schallenergie so, dass sich der Klang trichterförmig ins Auditorium ausbreitet. Man hört nur, was man sieht. Wie im griechischen Amphitheater. Das akustische Feintuning der Freiluftspielstätte stammt von der Müller-BBM GmbH.

Feuerwehreinsatz

Als begeh- und bespielbare Skulptur ist der Wolkenturm heute ein Teil des Parks. 90 Tonnen Stahl stecken in der Konstruktion seiner expressiven Gestalt, die sich 23 Meter hoch über der Bühne auftürmt. „Die Baustelle war intensiv. Nichts war alltäglich. So etwas baut man nur einmal“, gesteht Architekt Fuchs. Sowohl das Architektenteam als auch die Tragwerksplaner vom Büro Bergmeister Ingenieure hatten ihre Feuerprobe beim Bau des hochgestemmten Beckens aus Sichtbeton im Freibad in Kaltern bestanden. „Betonieren ist wie Kochen: die Rezeptur, die Konsistenz, der Zeitpunkt der Einbringung, die Rüttlung – alles spielt zusammen“, erklärt Fuchs. Eine der schlanken Wände musste mehrmals betoniert werden. Bis zuletzt war unklar, ob die Musikerinnen und Musiker das Bauwerk auch akzeptieren würden. „Das Einspielen mit den Tonkünstlern hat das Projekt akustisch und atmosphärisch bestätigt – sie haben es freigegeben.“

Fünf Stunden vor dem Eröffnungskonzert am 22. Juni 2007 entlud sich ein heftiges Sommergewitter. „Die Sessel standen 30 cm im Wasser, alles war verschlammt“, weiß Ernst Süss aus Erzählungen. „Alle umliegenden Feuerwehren waren im Großeinsatz – vier Stunden später war es sauber.“ Seit zwölf Jahren ist Süss technischer Leiter in Grafenegg. Das leichte Prickeln, ob das Wetter halten wird, blieb. Vor jedem Konzert liegt Elektrizität in der Luft. Der Wolkenturm reagiert auf die Witterung. „Er ist etwas Lebendiges. Man muss alles so einfach wie möglich halten“, sagt Süss. Nur keine Chemie.

Heute zeigen sich erste Alterungsspuren: Die Dämpfmatten der Akustikelemente müssen bald getauscht werden, wie ein leichter Flaum überziehen Moose die Stirnflächen am Beton. Blasse rostrote Streifen deuten darauf hin, dass die Betondeckung hier und dort schon ausgedünnt ist. „Glas, Stahl, Beton: Bei diesem Bauwerk gibt es viele Verschneidungen und Wartungsfugen, in die Wasser eindringen kann“, sagt Süss. „Wasser und Elektronik vertragen sich schlecht.“ Raben picken gern die Dichtungsmasse aus den Fugen. „Wir haben Vogelnetze aufgezogen, sonst gäbe es bald ein Problem.“ 2013 landete eine Technikkabine per Kran über dem Durchgang zur Publikumstribüne, durch den auch Nebengeräusche eindrangen. Man justierte nach: Vorhänge, betongrau, in acht Lagen doppelt genäht. Fast 15 Jahre ist der Wolkenturm ständig ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt – bestens gepflegt, naht die Zeit einer ersten Sanierung. Auch das wird spannend.

Atmosphärisches Gesamterlebnis

„Die ersten Proben waren sehr schön. Wir waren alle neugierig auf die Naturakustik“, sagt Barbara Ritter, Solo-Oboistin der Tonkünstler. Sie vermutet sogar, diese könne die Hörgewohnheiten des Publikums schulen. „Es ist als Musikerin sehr befriedigend, dort zu spielen.“ Das Wetter bleibt aber ein ständiges Risiko. Bei einer Sommernachtsgala mit TV-Übertragung hielten die Musikerinnen und Musiker bis 13 Grad durch. „Wird es kälter als 18 Grad, hat man klamme Finger, Holz- und Blechblasinstrumente leiden.“ Worunter Kunstschaffende leiden: den „üblichen Details“ – zu wenige Toiletten bei den Garderoben, heiße Aufenthaltsräume. An lauen Sommerabenden aber ist Grafenegg unschlagbar. „Wenn die Vögel mitzwitschern, ist das ein atmosphärisches Gesamterlebnis“, so die Künstlerin.

„Ob Streicher, Bläser, Sänger – man hört alle. Die Akustik ist wundervoll“, freut sich Rudolf Buchbinder. „Zubin Mehta, Renée Fleming – viele sagten mir, es sei die beste Freiluftbühne der Welt.“ Auch Einheimische mögen den Wolkenturm. Franz Ehmoser wohnt 15 Autominuten entfernt in Königsbrunn am Wagram. Seit der Sommernachtsgala 2008 – „die war so richtig romantisch“ – haben er und seine Frau ein Abo. „Bei gutem Wetter ist das Ambiente mit dem Wolkenturm und der Silhouette vom Schloss durch nichts zu ersetzen.“

2007 fand die erste Sommernachtsgala statt und startete das erste Festival mit zwölf Konzerten, drei Wochen Spielzeit, 14.700 Gästen. „Da wussten alle, dass es nicht nur ein komisches Hirngespinst war“, sagt Philipp Stein. Bald reichten die 1.700 Sitzplätze des Wolkenturms und die 300 Rasenplätze nicht mehr. Man erweiterte die Sitzmöglichkeiten auf dem künstlich aufgeschütteten Hügel um weitere 100 Rasenplätze. Die Pausenbewirtung, so zeigte sich bald, war zu Beginn zu wenig bedacht worden. Toni Mörwald, Herr über die Grafenegg-Gastro, hatte zuvor beim Auditorium Stehtische aufgestellt, die der Wind umwehte. Weil Gläser zu laut klirrten, sattelte er auf Plastikbecher um. Später stellte er grüne Container auf der Wiese seitlich des Durchgangs auf. Eine dauerhafte Lösung für die Pausendrinks fand sich erst 2015, als die Freiluftbar Wolke 7 fertig wurde. Auch sie wurde von tnE architects geplant. Ihre Betondecke wirkt wie ein vom Wind verwehtes Blatt, das sacht auf den schwarzen Stahlstützen gelandet ist. Seine Geometrie folgt der Biegelinie des Kräfteverlaufs – daher ist es so hauchdünn. 25 Meter Tresen, eine Kühllade und mehrere Kassenstationen stehen dem neunköpfigen Serviceteam hier zur Verfügung. Weil 20 Minuten für hunderte Menschen, die bestellen, zahlen und konsumieren, immer noch ein Himmelfahrtskommando sind, bietet Mörwald nun Pausenpakete an. Grafenegg optimiert sich ständig. Matinee, Picknick, Spaziergang, Dinner, Konzert, ein, zwei Gläschen Wein: Programm für einen Tag oder sogar mehrere, wenn man in einem der Grafenegg Cottages nächtigt.

Im Rekordjahr 2018 kamen 52.800 Menschen zu den Konzerten während des Sommers, heute ist Grafenegg eine fixe Größe in der Musikwelt. Künstlerinnen und Künstler lieben es. „Es ist sehr, sehr angenehm, auf dieser Bühne zu spielen. Das Publikum hört jedes Pianissimo bis hinauf, unser größter Feind ist der Wind“, sagt der künstlerische Leiter Rudolf Buchbinder. Einziger Wermutstropfen: „Der Applaus klingt sehr schütter.“ Der Preis der guten Akustik ist verschmerzbar. ● ○