Picknick

Grüne Wiese


Was liegt in Zeiten der Pandemie näher als ein Picknick? Die kulinarischen Zusammenkünfte bergen ein Moment der Freiheit und suchen Lücken im System.

Benötigt werden:
1 Decke
1 Plätzchen im Gras
Etwas zu essen
Etwas zu trinken

Schon kann es losgehen: das Picknick! Allein der Name scheint eine Verheißung. Die allermeisten haben wohl sofort überwiegend positive Assoziationen dazu. Frische Luft, Grashalme, die an den Fußsohlen kitzeln, Vogelgezwitscher, kleine Leckereien, Sonne, ein angenehm leichter Wind im Gesicht …

Entstanden ist das Wort Picknick aus dem Französischen piquer – aufpicken und nique – Kleinigkeit. Auch in anderen Sprachen tauchte es in leicht abgeänderter Form als das auf, was es meint: eine unkomplizierte Mahlzeit im Freien.

Carl Spitzweg malte das Bild zu dieser Art des unbeschwerten Zusammenkommens. „Das Picknick“ zeigt eine illustre Runde, auf einer kleinen Lichtung versammelt, am Boden platziert. Es geht heiter zu. Vor allem ein Gefühl vermittelt die dargestellte Szene: Leichtigkeit. Édouard Manet nahm die Unbeschwertheit des Picknicks wörtlich und ließ seine Damen beim „Frühstück im Grünen“ gleich ganz ohne Kleidung im Walde speisen.

Und dass es ausgerechnet Boccaccios um 1350 verfasstes „Decamerone“ gewesen sein soll, in dem das erste Mal in der Literaturgeschichte eine picknickartige Zusammenkunft beschrieben wurde, ergänzt die Zwanglosigkeit noch durch einen weiteren Aspekt: den der Flucht. Sieben Frauen und drei Männer fliehen vor der Pest, die in den Gassen von Florenz wütet. Außerhalb der Stadt lassen sie sich in einem Landhaus nieder und vertreiben sich die Zeit mit Erzählen. Zehn Tage lang haben alle zehn Anwesenden jeweils eine Geschichte zu erzählen. So entstehen zehn mal zehn Novellen, die vor allem dazu dienen, die schreckliche Wirklichkeit unweit des Landhauses zu vergessen. Triebhafte, erotisch ausufernde Szenen werden geschildert, derb und frivol geht es mitunter zu, oft komisch und im Ganzen vor allem: äußerst lebensfroh. Die überschäumende Freude am Erzählen und dadurch auch am Leben an sich, mit all seinen Facetten, steht im Mittelpunkt dieses Klassikers der Weltliteratur. Es handelt sich hier also um eine Flucht im doppelten Sinn: vor der Epidemie, aber auch vor herrschenden gesellschaftlichen Normen, Konventionen, einengenden Moralvorstellungen, die durch das Erzählen und das Erzählte immer neu aus den Angeln gehoben werden. Wie gut kann man sich diese ausufernd fröhliche Runde vorstellen, wie sie bei einem Picknick da sitzt und lustvoll der Bitterkeit des von der Pest vergifteten Alltags trotzt! Und wie (erschreckend) bekannt und aktuell scheint plötzlich wieder der Duktus, der dieser Novellensammlung zugrunde liegt!

Denn ja, die Zeiten sind anstrengend. Die Pandemie hat uns im Griff. Unser Handlungsspielraum ist eng geworden, wir haben uns seit mehr als einem Jahr zwischen unsicheren bis düsteren Prognosen, Beschränkungen von allen Seiten, bedrückenden Szenarien und sehr vielen Ängsten durch unseren Alltag gezwängt. Dabei fehlt uns zusätzlich seit Monaten die Möglichkeit, uns einer der scheinbar nebensächlichsten, aber doch essenziellen Arten des Müßiggangs hinzugeben: dem Besuch eines Kaffeehauses, eines Restaurants, einer Bar. Orte, an denen wir vor der Pandemie zusammenkamen, um uns, wenn nötig, den „niederen“, aber für unsere seelische Konstitution eben doch wichtigen Genüssen hinzugeben. Kulinarik, gute Gesellschaft, oder, wie es früher hieß: Gesang, Spiel und Tanz. Nicht zu vergessen: das Ausleben von Trieben. Mitunter Maßlosigkeit. Mitunter Zügellosigkeit. Ausschweifung. Zerstreuung. Die „braven“ Begriffe dafür: Freiraum, Verschnaufpause, Lüften des Gemütes. Die Gastronomie konnte uns über Monate hinweg nicht zu dieser „kleinen großen Pause“ verhelfen. Was also liegt näher als das Picknick?

Und ist das Picknick – ohne die Bedeutung der Gastronomie für unsere Lebensqualität herabspielen zu wollen – vielleicht sogar mehr als nur ein der Kulinarik gewidmetes Zusammentreffen im Freien? Birgt es nicht ein Moment der Freiheit, das uns in seinem Ausmaß und mit all den Möglichkeiten, die darin schlummern, gar nicht richtig bewusst ist?

Im Sommer 1989 war es ein Picknick, das den Beginn einer friedlichen Revolution markierte. In Sopron, einer kleinen ungarischen Stadt an der Grenze zu Österreich, fand man sich am 19. August 1989 zu einer „völkerverbindenden“ Aktion, dem „Paneuropäischen Picknick“ zusammen. Die Paneuropa-Union hatte per Wurfzettel zu Speis und Trank an den Grenzzaun geladen. Die langsame Auflösung des Eisernen Vorhangs sollte symbolisch gefeiert werden. Doch aus der Symbolik wurde Wirklichkeit, aus dem Picknick der erste massenhafte Grenzübertritt von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern. Diese waren zu Hunderten vom Urlaub am nahegelegenen Plattensee erschienen. Und als sie spontan und unerwartet begannen, über die Grenze nach Österreich zu strömen, hielt niemand sie auf. Der ehemalige deutsche Kanzler Helmut Kohl sollte später sagen, bei diesem Picknick sei der erste Stein aus der Berliner Mauer geschlagen worden. Drei Monate nach den Ereignissen in Sopron fiel sie. Es dürfte – sicherlich neben einer Reihe anderer Faktoren – nicht zuletzt die besagte Unbeschwertheit, welche einem Picknick zu Grunde liegt, mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass der Beginn dieser Revolution völlig gewaltfrei verlief.

Das Picknick an sich findet für gewöhnlich frei von Kommerz statt. Es geht dabei nicht um wirtschaftlichen Konsum, also auch nicht um Konkurrenz oder Druck jedweder Art. Das Picknick ist somit eine Art „Lücke im System“, und diese Lücke bietet Raum für Ideen, für Gedanken, die drinnen, an einem Wirtshaustisch oder Schreibtisch, womöglich so nie gedacht werden können. Es lässt sich anders denken ohne Druck, unter freiem Himmel, auf der grünen Wiese. Und genau diese grüne Wiese ist es vielleicht, die es benötigt, um sich entfalten zu können.

Der Begriff „grüne Wiese“ bezeichnet in der Stadtplanung und als Redewendung einen Ort, an dem noch nichts gebaut ist, an dem noch alles offen und möglich ist. Hierher kann nicht nur geflüchtet werden. Hier kann die Flucht nach vorn angetreten werden. Hier kann etwas begonnen werden. Trotz aller Beschränkungen und Widrigkeiten: Die grüne Wiese als Ort existiert! Und dieser Ort steht uns offen. Ohne Einladung, Voranmeldung, Registrierungs- oder Testpflicht. Jederzeit.

Also worauf warten? Beginnen wir!

Benötigt werden:
1 Decke
1 Plätzchen im Gras
Etwas zu essen
Etwas zu trinken ● ○