Editorial

Liebe Leserin, liebe Leser


Wer hat heute schon die Möglichkeit, den Wohnsitz für so lange Zeit zu verlegen?

Sind Sie auf Social Media? Wenn ja, ist es Ihnen wie mir ins Auge gestochen: Im vorigen Sommer überschwemmten Fotos von Seen und Bergen die Plattformen, anstatt Impressionen von Sandstränden und Frutti di Mare wie noch im Jahr zuvor. Die Pandemie führte dazu, dass Urlaubsbedürftige das Land nicht verließen, und es schien, als würde ein längst vergessenes Konzept mit einem altmodischen Namen wieder aufleben: die Sommerfrische. Ganz streng genommen, so betont der Kulturhistoriker Wolfgang Kos, unterscheidet sich das Reiseverhalten im ersten Coronajahr von dem Phänomen Sommerfrische insofern, als Letztere sich traditionell auf mehrere Wochen erstreckte. Wer hat heute schon die Möglichkeit, den Wohnsitz für so lange Zeit zu verlegen? Auf der anderen Seite: Liegt nicht gerade jetzt die Sommerfrische als Möglichkeit, die heißen Monate angenehm zu übertauchen, auf der Hand – wo das mobile Arbeiten von der Ausnahme zur Regel wurde? In Zeiten von Klimawandel und Flugscham wird der Urlaub im eigenen Land zudem attraktiver.

Wenn Städterinnen und Städter ihr Leben für eine gewisse Zeitspanne aufs Land verlegen, dann entstehen Wechselbeziehungen zwischen dem Urbanen und dem Ländlichen, zwischen Metropolen und Dörfern – wie auch immer sie geartet sind. Diese beleuchten wir, über den Begriff der Sommerfrische im engen Sinn hinausgehend, im aktuellen Heft. In der Kunst machen sie sich in Initiativen wie dem Dialektmusikfestival Herztöne in Reinsberg bemerkbar, bei Sommertheatern oder in Grafenegg, dem wir diesmal unser Special widmen. Im Gespräch mit meiner Kollegin Karin Cerny sagt Regisseur Lukas Johne: „Wir sind ein Stück Avantgardetheater, das es aufs Land geweht hat.“

Ich wünsche Ihnen in diesem Sommer schöne und inspirierende Kulturerlebnisse – und natürlich viel Freude bei der Lektüre dieses morgen. ● ○

Herzlichst

Ihre Nina Schedlmayer