Essay

Wer ist der Souverän?


Wie ist es um die bürgerlichen Freiheiten in Zeiten der Pandemie bestellt? Was bedeutet es, wenn wir uns so einschränken müssen wie gegenwärtig? Einige Betrachtungen mit Blick in die Philosophie.

Mit der Freiheit beschäftigt sich die Philosophie, seit es sie gibt. Zwei Freiheitsbegriffe sind nach Isaiah Berlin zu unterscheiden: die „positive Freiheit“ und die „negative Freiheit“. Die negative Freiheit ist ihm zufolge jene, die uns frei von Zwang und Einschränkungen macht („frei sein von …“), die also unseren Handlungsspielraum durch den Abbau von Schranken erweitert. Die positive Freiheit ermögliche uns das tatsächliche Handeln, etwa durch das Etablieren von Strukturen oder Rahmenbedingungen („frei sein zu …“). Ein Beispiel dafür sind Rechte. 

Blicken wir nun auf die derzeit notwendige Pandemiepolitik, so ist leicht zu erkennen, dass diese beide Freiheitsdimensionen einschränkt. Die negative Freiheit wird durch Ausgangssperren und Reisebeschränkungen unterminiert. Die positive Freiheit wird durch schwer zugängliche Bildungseinrichtungen, Unternehmensschließungen und Veranstaltungsverbote verunmöglicht. Natürlich ist es momentan nicht anders vorstellbar. Aber welche Freiheit bleibt uns? Gehen wir dazu etwas genauer auf den Freiheitsbegriff ein.

Freiheit ist Vernunft

In zahlreichen philosophischen Theorien steht die Freiheit in Verbindung mit der Vernunft, die den Menschen auszeichnet. Bei Sokrates und Platon ist der Mensch frei, wenn er mittels Vernunft das Beste wählt – die Vernunft leite den Menschen so zum Guten. Auch bei René Descartes wächst die Freiheit mit der Zunahme der geistigen Klarheit über die Willensziele. Selbstbestimmung und Autonomie stehen hier im Mittelpunkt. Nachdem jedoch der Wille allein nicht über unser Handeln entscheidet, wurde bald zwischen Willens- und Handlungsfreiheit unterschieden. Frei im Willen sind wir, wenn wir dazu in der Lage sind, diesen selbst zu bestimmen. Dementsprechend ist bei Immanuel Kant die Willensfreiheit das Vermögen, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“, wie er in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ schreibt. Dieses Vermögen nannte er die „praktische Vernunft“. Wir handeln aber erst frei, wenn wir tun können, was wir tun wollen. Wir wissen alle, dass dies nicht immer gelingt.

In Zeiten der Pandemie stellt sich die Frage nach dem Willen etwas anders. Wir müssen Einschränkungen im individuellen Handlungsspielraum in Kauf nehmen, und der Individualwille wird hintangestellt. Wir wissen, dass unsere Bedürfnisse und Lebensweisen momentan größtenteils zum Stillstand gebracht werden müssen. Der Wille könnte sich aber auch auf etwas anderes richten als das Individuelle; und vielleicht ist es auch höchste Zeit, dass das geschieht?

Freiheit ist nicht nur ein Wert für das Individuum, sondern auch zentral für demokratisch verfasste Systeme. Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel sind wir dann frei, wenn wir der sittlichen Idee des Staates folgen. Denn der Staat habe keinen Zweck außer sich, vielmehr verwirkliche sich in ihm der Mensch selbst. Jean-Jacques Rousseau nannte dies die „bürgerliche Freiheit“, über die wir verfügen, weil wir uns selbst Gesetze geben. Die Frage in Pandemiezeiten lautet aber: Gibt sich der Bürger, die Bürgerin in dieser Zeit noch selbst die Gesetze? Wer ist tatsächlich der Souverän in diesem Zustand?

Ausnahmezustand

Wir befinden uns im „Ausnahmezustand“. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben formuliert es so: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Der Ausnahmezustand stellt für ihn eine Schwelle zwischen Chaos und Ordnung dar, der Bereich oder der Moment, in dem über Leben und Tod willkürlich entschieden werden darf und muss. Das Recht werde in diesem Moment ausgesetzt oder umgedeutet. Hier entfaltet sich laut Agamben die volle Macht derer, die politische Entscheidungen tragen.

Legitimiert werden diese Ausnahmezustände stets über das Thema Sicherheit. Die Polizei tritt verstärkt in Erscheinung und bekommt mehr Handlungsspielraum. Freiheitsrechte werden eingeschränkt, indem auf die Notwendigkeit von Überwachung und Kontrolle hingewiesen wird (von Corona-App und Massentests bis hin zu Impfausweisen). Im Ausnahmezustand überwiegt die Angst. Hat der Sicherheitsstaat die Angst meist rhetorisch provoziert (etwa unter dem Szenario einer Terrorismusgefahr), so entspringt sie heute aus der tatsächlichen Bedrohung des Corona-Sterbens. Sie zu dementieren, wäre höchst unvernünftig.

Wollen wir aber Souverän sein, so müssen wir uns darüber bewusst werden, dass sich der Freiheitsspielraum momentan vor allem auf ein vernünftiges Handeln in Richtung Gemeinwohl orientieren muss. Wenn wir uns Massentests unterziehen, so hat dies mit einem solidarischen Verhalten zu tun. Daher sollte von der Politik auch kein individueller Nutzen versprochen werden. Das – mittlerweile wieder verworfene – Versprechen, Gutscheine im Anschluss an eine Testung zu verteilen, unterminiert unsere Autonomie im Handeln für die Gemeinschaft. Wir werden dadurch behandelt wie unmündige Menschen, die zum solidarischen Handeln nicht fähig sind. Gerade das entzieht uns den Rest der Freiheit, den wir noch besitzen: entsprechend unserer Vernunft zu handeln.

Sapere aude

Für den Begründer des politischen Liberalismus, John Stuart Mill, gab es einige nicht verhandelbare, individuelle Freiheiten: Freiheit des eigenen Gewissens, Freiheit im Denken und Fühlen sowie Meinungsfreiheit. Letztere sei vor allem notwendig, um ein möglichst breites Spektrum an Denk- und Handlungsspielräumen zu eröffnen. Was uns bleibt, ist also die Möglichkeit zum Meinungsaustausch und die bewusste Perspektivenvielfalt. 

Immanuel Kant formulierte dies sogar als bürgerliche Pflicht: „Sapere
aude“, also: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Der Verstand diene dazu, das Erlebte, die Phänomene zu ordnen und zu strukturieren. Die Vernunft lasse uns schließlich größere Zusammenhänge erkennen, vielleicht sogar Theorien entwickeln. Und die praktische Vernunft erlaube es uns, ethische Prinzipien zu setzen. Frei sind wir Kant zufolge, wenn wir entsprechend dieser Überlegungen handeln. 

Zugegeben, den Bürgerinnen und Bürgern wird derzeit viel zugemutet. Sie müssen sich ein Bild über die Gefahrenlage, über Zahlen und Statistiken, über Impfstoffe und Behandlungen und zusätzlich über rechtliche Rahmenbedingungen machen. Wen wundert es, dass sich manche davon überfordert fühlen und abstrusesten Verschwörungstheorien glauben? 

Doch was ist die Alternative? In einer Demokratie regiert der demos, das Wahlvolk. Das heißt auch, dass wir für politisches Entscheiden Verantwortung übernehmen müssen. Dies kann nur über politische und zivilgesellschaftliche Partizipation und Dialog gelingen. Und schlussendlich müssen wir spätestens bei Wahlen die Politik zur Verantwortung ziehen. Es darf keinen Defätismus geben, es darf das Funktionieren von Demokratie nicht infrage gestellt werden, sondern wir müssen uns für ihr Gelingen täglich einsetzen. Wer aufgibt, ist nicht frei. Wer sich kein Bild macht und seine Vernunft nicht gebraucht, ist nicht frei. Nur wer den Mut hat, seiner vernünftigen Einsicht nach zu handeln, ist frei. ● ○