Literatur im Nebel
Erhard Hois
Literatur im Nebel

Literatur im Nebel

Strahlkräfte


Es ist ein kleines Wunder, das einige Enthusiasten 2006 im nördlichen Waldviertel Realität werden ließen. Als sie damals in Heidenreichstein das Festival Literatur im Nebel gründeten, stießen sie zunächst auf Skepsis. Heute können sie auf 13 inspirierende und erfolgreiche Ausgaben einer Veranstaltung zurückblicken, deren Strahlkraft weit über die Grenzen Österreichs weist – und auf eine eindrückliche Liste von Ehrengästen: Sie umfasst prominente Namen wie Salman Rushdie, Amos Oz, Margaret Atwood, Ljudmila Ulitzkaja, J. M. Coetzee (hier im Bild mit Lektor Hans Balmes), Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller. Für dieses Jahr ist der in China geborene Liao Yiwu, der aufgrund seines Gedichts „Massaker“ im Gefängnis saß, als Stargast geladen. Kurz vor Redaktionsschluss wurde der Termin von Literatur im Nebel aufgrund der Corona-Pandemie von März auf 28. und 29. Mai verschoben. Mit unserem Special können Sie sich schon mal auf das Festival einstimmen.

Liao Yiwu
Ali Ghandtschi
Liao Yiwu

Literatur im Nebel

Vom Schreiben im Gefängnis


Der chinesische Dichter Liao Yiwu kümmerte sich nicht um Politik, bis er inhaftiert wurde. Heute lebt er im deutschen Exil. Er ist alert, streitbar und aktiv geblieben. Grund genug für das Festival Literatur im Nebel, ihn 2021 als Ehrengast einzuladen.

Ein Gedicht macht den Unterschied: Mit „Massaker“ reagiert der Schriftsteller Liao Yiwu auf die Gewalttaten um den 4. Juni 1989 in Peking, die sich mit der Niederschlagung der Protestbewegung in China verbinden. Nicht nur die Bilder vom Tian’anmen-Platz gehen um die Welt, auch Liao Yiwus literarische Reflexionen finden den Weg ins Ausland. Die eindringliche, international positiv aufgenommene Arbeit reflektiert unmittelbar die Ereignisse; die Brutalität des Systems wird ausgestellt, seziert und bewertet. Das Gedicht, mittlerweile auch ein literaturgeschichtliches Zeugnis, hat nichts von seiner Wucht und Dringlichkeit eingebüßt. Die deutliche Positionierung zugunsten von Demokratie und Widerstand wird innerhalb Chinas wenig überraschend nicht toleriert, Liao Yiwu inhaftiert, misshandelt, in seiner Karriere behindert – erst 2011 gelingt ihm die Flucht nach Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen folgen, ebenso die Auszeichnungen mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der 1958 in Yanting, Sichuan geborene Schriftsteller ist – glücklicherweise – alert, streitbar und aktiv geblieben. Das Festival Literatur im Nebel lud den heute in Berlin lebenden Dichter 2021 als Ehrengast ein.

morgen: Ihre literarischen Arbeiten ermöglichen der internationalen Leserschaft einen Einblick in die chinesische Gesellschaft. Welchen Stellenwert hat für Sie dabei die Wahl von Textsorten und thematischen Schwerpunkten?

Liao Yiwu

:

Bevor ich ins Gefängnis geworfen wurde, war ich ein Dichter, der sich nicht um Politik scherte. Aber nach dem Gefängnis habe ich mich verändert. Das Gefängnis ist meine Ausbildung und Inspirationsquelle meines Schreibens. Von einem Mönch habe ich im Gefängnis das Flötenspiel erlernt. Ich bin dort zudem mit vielen Menschen aus den untersten Schichten der chinesischen Gesellschaft in Kontakt gekommen. Vier Jahre später wurde ich aus dem ummauerten Gefängnis in ein Gefängnis ohne Mauern entlassen. Seitdem habe ich nie aufgehört, Flöte zu spielen, Interviews zu führen und zu schreiben. In zehn Jahren habe ich mehr als 500 Menschen interviewt und ihre Geschichten aufgeschrieben. „Chinas Solschenizyn“ wurde ich von vielen Rezensentinnen und Rezensenten genannt. Ich selbst sehe mich jedoch als Aufzeichnungsgerät der Epoche. Ich schreibe über ein breites Spektrum an Themen in verschiedenen literarischen Formen, sowohl dokumentarisch wie fiktional. 2020 habe ich ein neues Buch geschrieben, „Als das Wuhan-Virus kam“, einen dokumentarischen Roman.

Ich sehe mich als Aufzeichnungsgerät.

Welche Möglichkeiten oder auch Aufgaben sehen Sie für die Gegenwartsliteratur in Zeiten politischer Extreme?

Als Schriftsteller, der Zeuge der Geschichte ist, sollte ich heute mehr Aufmerksamkeit erhalten als zu gewöhnlichen und ruhigeren Zeiten. Zum Beispiel wurde ich als Hauptgast zu Literatur im Nebel eingeladen, das empfinde ich als große Ehre. Die Veranstaltung sollte ursprünglich im März 2020 stattfinden, aber dann kam aus China das Wuhan-­Virus und die Veranstaltung wurde auf 2021 verschoben. Nächstes Jahr veröffentlicht der Fischer Verlag mein neues Buch über das Virus. Es fühlt sich an, als ob ich damit eine literarische Mission abgeschlossen hätte, nämlich die Wahrheit auszugraben.

Wie erleben Sie Ihre Situation in Deutschland und die Art, wie Ihre Literatur im deutschen Sprachraum wahrgenommen wird?

Ich lebe nun seit zehn Jahren in Berlin, kenne die Geschichte der Berliner Mauer und die heutige Situation der Stadt. Berlin ist ein Teil der zweiten Hälfte meines Lebens geworden. Ich bin ein literarischer Flüchtling aus dem diktatorischen China, doch in Europa bin ich geradewegs in Herta Müller, Paul Celan, Franz Kafka und die Geschwister Scholl hineingelaufen. Obwohl ich bis heute kein Deutsch spreche, konnte ich den Herzschlag und die Körpertemperatur der deutschen Literatur spüren. In gewisser Weise hat der Übersetzer Hans Peter Hoffmann meine Werke zu einem Teil der deutschen Literatur gemacht, zu einem mit dem fernen China verbundenen Teil.

Liao Yiwu bietet einer internationalen Leserschaft in Zeiten ökonomisierter Aufmerksamkeit ungeschönte, erschreckende Einblicke ins heutige China – nicht zuletzt weil er Outsider und Minoritäten thematisiert. In seiner permanenten Auseinandersetzung mit der Volksrepublik das Individuum ins Zentrum eines literarischen Werkes zu stellen, steht in offenem Gegensatz zu einer Gemeinschaft, die auf Kosten von Differenz und Alterität, die zulasten des Einzelnen – und eben auch seiner Handlungsmöglichkeiten – existiert. Im Rahmen seiner radikalen Kritik an der willigen, fehlbaren Mehrheit gewinnt das Subjekt an Bedeutung und Gewicht. Das eigene Ich ist wortwörtlich außerhalb des Systems angesiedelt und bleibt der höchste denkbare Einsatz im sehr ernsten Spiel um die Erzählbarkeit des Faktischen. Auf den Grundlagen von Authentizität, Beleg und Erfahrung wird bei ihm schreibend um nichts weniger gerungen als um eine ästhetisch wie auch politisch selbstbewusste Darstellung, die im normierenden Regime so gewiss nicht vorgesehen war. 

Wie schätzen Sie aktuelle Entwicklungen in China wie die Etablierung des vieldiskutierten Sozialkredit-Systems oder die jüngsten Ereignisse in Hong Kong ein? Unter welchen Bedingungen könnten Sie sich vorstellen, wieder nach China zu reisen oder gar zurückzukehren? 

China ist in allen Bereichen zurückgefallen. In Ideologie, Umwelt und im gesellschaftlichen Leben. Jetzt hat sich das Wuhan-Virus weltweit ausgebreitet, eine Katastrophe, die besser hätte eingedämmt werden können. Ich schreibe Literatur, um das alles zu dokumentieren, auch wenn das für die Politikerinnen und Politiker der Welt keinen Nutzen hat. Aber indem mein neues Buch existiert, werden sie beschämt. Am Ende wird mein Protagonist, Aydin, für seine Suche nach der Wahrheit über das Virus verhaftet. Aydins Schicksal ist das Schicksal vieler allmählich erwachender Chinesinnen und Chinesen. Die chinesische Regierung macht sich die vom Westen erfundene Hochtechnologie zunutze, um damit die Überwachung des Volkes zu perfektionieren. Das ist eine Ära der technologischen Diktatur, radikaler als in Orwells „1984“. In meinem neuen Buch hat der Mensch inmitten der Kopulation von Virus und Diktatur noch weniger Privatsphäre als ein Tier – in ein solches Land möchte ich nicht zurückkehren, es sei denn, China spaltet sich eines Tages in Dutzende von Staaten auf. Dann kann ich in die Heimat vieler berühmter Spirituosen und der Chuan-Küche zurückkehren: in die Republik Sichuan.

Welche Neuerscheinungen der letzten Jahre haben Sie als Leser als besonders spannend und wichtig wahrgenommen? Finden Werke dieser Art Eingang in Ihren Recherche- und Schreibprozess?

Im Jahr 2019 veröffentlichte der Fischer Verlag Edward Snowdens Autobiografie. Es heißt, die chinesische Version des Buches sei zensiert worden. Bemerkenswert finde ich auch die Veröffentlichungen des Verlages Thomas Reche. Er führt in jedem Buch die Werke eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin mit jenen eines Künstlers, einer Künstlerin zusammen. Eine sehr interessante Idee. Die Auflagen sind nicht besonders hoch, aber die Ausstattung ist sehr gut und qualitätsvoll. Ein neues Buch Herta Müllers, das auch dort erschienen ist, gefällt mir sehr. Sie verwendet eine Collagen-Form für ihre Gedichte, da kommt eine Form der körperlichen Arbeit hinzu. 

Sie werden beschämt.

Mit welchen Ihrer Bücher sollte eine Leserin, ein Leser beginnen, um sich mit Ihrem Werk vertraut zu machen?

Sie sollten mit „Als das Wuhan-Virus kam“ anfangen. Ich lebe seit zehn Jahren im Exil in Deutschland, und dieses Buch ist Beweis dafür, dass meine Kreativität immer noch erhalten geblieben ist. ● ○

Herta Müller
Laurence Chaperon
Herta Müller

Herta Müller

„Dinge von unsichtbarer Kraft“


Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Herta Müller, die heuer bei Literatur im Nebel gastiert, sprach mit morgen über Schönheit, Widerstand, Weinen und den Wunsch nach Freiheit.

Volksrepublik Rumänien, Diktatur der 1960er-Jahre, ein im Banat gelegenes Dorf der deutschsprachigen Minderheit. Die Eltern schicken die kleine Herta raus ins Flusstal, den ganzen Tag hat sie dort zuzubringen. Sie muss auf die Kühe achten, sie alleine. Hin und wieder fährt ein Zug vorbei. Danach wieder Stille und Einsamkeit. Herta spricht mit den Pflanzen, untersucht Blätter, Blumen, Blüten. Wie zart und zerbrechlich sie sind – und wie ähnlich ihr selbst. 

Da wir einander coronabedingt nicht gegenübersitzen, sondern telefonieren, stelle ich mir Herta Müller vor. Stelle sie mir vor, wie Leserinnen und Leser eines Gesprächs sich den interviewten Menschen vorstellen, mit jeder Zeile mehr. 

morgen: Woraus bestehen wir Menschen im Inneren, was macht uns aus? 

Herta Müller

:

Ach, wir sind doch undurchschaubar. Wir sind uns doch selbst ein Geheimnis, auch unser Denken. Das Durchschaubare ist doch das Wenigste in einem selbst. 

Hilft Literatur Ihnen, sich besser kennenzulernen?

Nicht nur mich selbst. Alles, was mich umgibt. Ich erfahre beim Schreiben erst, welche Dimensionen die Dinge haben. Das entsteht erst, während ich mich dem Erlebten wieder stelle, in Form von Wörtern. Diese Notwendigkeit entsteht dadurch, dass man mit dem Erlebten nochmals zu tun haben möchte. Oder muss. 

Herta Müller trägt, so sagt sie, schwarze Kleidung wie immer, auch in ihren eigenen vier Wänden, ihrer Wohnung in Berlin. Was fehlt in diesen Corona-Tagen, ist der sonst obligatorische knallige Lippenstift, der an ihr nicht aufdringlich wirkt, sondern wie zur Tarnung, wie zum Schutz der Autorin. Dahinter, hinter diesem selbstbewussten Rot, steckt sie, Herta, das einstige Kuhhütermädchen, steckt die während Jahrzehnten der Diktatur verletzte, sich treu gebliebene Frau, steckt die Schriftstellerin, die in ihrer alten Heimat Rumänien heute oft verächtlich „die Deutsche“ genannt wird und in Deutschland die „Banat-Schwäbin“, dahinter steckt die Frau, die seit Stockholm 2009 für die Öffentlichkeit nur noch „die Literaturnobelpreisträgerin“ ist.

Die Kuppen ihrer Finger berühren einander, wie sie es oft während Gesprächen tun, während des Nachdenkens. Daumen und Mittel- und Ringfinger. Herta Müller tastet nach etwas. Einem passenden Wort? Einem Gefühl? Sich?

Oft steht sie an ihrem Pult vor dem Fenster. Darauf liegen ausgeschnittene Papierschnipsel, Wortschnipsel, die sie zu Prosa und Poesie vereint. Einmal das Fenster auf, einmal kräftig Lüften und die Wörter flögen davon. Rund um die Schriftlegerin, rund um Herta Müller, Bücher in weißen Regalen. Romane, in denen die Wörter bereits festgefügt sind, nicht mehr verrutschen, nicht mehr verwehen. Neben den Regalen: Archivschränke mit Dutzenden schmalen Laden. Darin: Worte. Worte, Worte, Worte. Verschiedenfarbig, mit Gewicht und leichte. Herta Müller klebt sie fest, arrangiert die ihr zugefallenen Wörter zu Collagen, mit Uhu-Stick und Schere. „Was man nicht sagen kann, kann man schreiben.“

„Wir sind uns doch selbst ein Geheimnis.“

Helfen Ihnen neben der Literatur auch Träume, um Erlebtes in neuem Licht zu sehen? 

Nein, ich kann mit meinen Träumen nicht viel anfangen. Sie sind nur bruchstückhaft in meiner Erinnerung, und sie haben darin eine andere Logik, eine nicht zusammenhängende. Ich habe mit Träumen noch ein Problem. Träume sind ja manchmal gruselig. Und bei Leuten, die viele Grenzwertigkeiten, viel Schlimmes erlebt haben, redet man ja von Traumata. Und solche Traumata sind ja auch schrecklich. 

Viele Erwachsene zerbrechen in totalitären Staaten. Wie ging es Ihnen als Kind im kommunistischen Rumänien? 

Dinge, die man sich als Kind nicht erklären kann, zwingen einen durch eine unsichtbare Kraft. Ich wusste schon als Kind, dass es verboten war, Kälber zu schlachten. Die musste man dem Staat abgeben. Nur wenn dem Kalb etwas passierte, wenn es ein Unglück gab, durfte man es notschlachten und das Fleisch selbst essen. Und da es nicht viel Fleisch gab, hat man sich gewünscht, dass ein Unglück passiert. Damit man das Kalb essen darf. Die Bauern im Ort haben also Notschlachtungen provoziert, indem sie dem Kalb zum Beispiel das Bein gebrochen haben. Dann kam der Tierarzt, der natürlich bestochen wurde, und schrieb im medizinischen Gutachten, dass das Kalb getötet werden müsse. Als Kind hat man das alles mitgekriegt und hat geschwiegen, weil man wusste, man würde die Eltern gefährden, wenn man die Wahrheit sagen würde. Anderseits habe ich sie gehasst, weil sie dem Kalb das Bein gebrochen haben. Und dann diese Lüge. Es hat mich lange beschäftigt, dass meine Eltern so was tun, obwohl sie mir sagen, man darf nicht lügen. Allgemein war das gültig, aber in diesem Spezialfall und bei vielem anderen nicht. Das ist verworren und das ist auch ein Stück weit pervers. Man spürt das als Kind, auch wenn man dafür keine Wörter hat. Es teilt sich einem fast körperlich mit. Und so etwas passiert ja nur in totalitären Systemen, in Diktaturen, wo überwacht wird und wo denunziert wird, wo die Denunziation zum politischen Werkzeug gehört, um Menschen gehorsam zu machen.

Kinder und Jugendliche wurden im kommunistischen Rumänien gezwungen, öffentlich Nummern zu tragen. Das diente der Kontrolle und war eine Einladung zur Denunziation.

Jeder Schüler hatte eine Armnummer, so hieß das. Es war ein Stück dunkelblauer Stoff, auf dem war der Name der Schule aufgedruckt und darunter die Nummer, die man als Gymnasiast hatte. Wenn man durch die Stadt ging und etwas getan hat, was nicht erlaubt war, konnte jeder, der wollte, einen denunzieren, und zwar anonym. In der Straßenbahn, im Park, egal wo. Die Nummer wurde morgens kontrolliert, am Schultor. Und auch die Kleidung und die Frisur wurden kontrolliert, die Jungs durften keine längeren Haare haben, die durften nicht das Ohrläppchen berühren, und die Mädchen mussten ein Kopfband tragen, ein weißes, und eine rote Pionier-Krawatte musste man tragen. Es war Gleichschaltung.

Wie gingen Sie damit um?

Man hat versucht, innerhalb der Uniform Individuelles und Privates zu tun. Man hat zum Beispiel nicht die hellblaue Bluse angezogen, sondern einmal oder zweimal die Woche eine andere. Oder ein bisschen Schmuck. Das war wie eine Notwendigkeit.

Ist der Freiheitswunsch uns Menschen immanent? Ist Freiheit ein unabdingbarer Aspekt, um Mensch sein zu können?

Ich glaube schon, ja. Auch das Individuelle. Das ist ja auch ein Hauptcharakteristikum der Diktatur, dass das Individuelle verboten ist. Individualität war ein Schimpfwort. Ich habe auch als Lehrerin gearbeitet, da hat man jedes Jahr eine Charakterisierung bekommen, und ich wurde öfter entlassen – wegen Individualität. Das Individuum war der Feind des Kollektivs. Nicht das Gegenteil, sondern der Feind. Darum wurde auf das Stillhalten der Leute geachtet und darauf, dass niemand ausscherte. Individuelle Freiheit war nicht denkbar, dafür wurde man bestraft. 

Sie wurden jahrelang schikaniert, bei Verhören des Geheimdienstes und an Ihrem Arbeitsplatz.

Nachdem ich mich geweigert habe, für den Geheimdienst zu spitzeln, hat mich der Direktor der Fabrik, in der ich damals gearbeitet habe, jeden Morgen zu sich gerufen und mich eine ganze Stunde traktiert und beschimpft und auch entwürdigt, und da hab ich gedacht, ich darf ihm meine Gefühle und meinen Zustand nicht zeigen, auch wenn ich kaputt bin, und ich darf nie weinen, ich darf ihm das nicht gönnen. Ich hab geheult, wenn ich dann alleine war. Ich war schon ziemlich kaputt, als ich das Land endlich verlassen durfte. Ich hätte es nicht mehr viel länger ausgehalten, es war höchste Zeit.

Hatten Sie eine Überlebensstrategie? Wie kann es unter derart menschenfeindlichen Umständen gelingen, sich zu bewahren, seelisch gesund zu bleiben?

Ich weiß nicht, ob ich seelisch gesund bin, wer weiß das schon von sich. Es gibt ja auch verschiedene Maßstäbe dafür. Wie beschädigt ist man? Ich habe viele Leute, auch Freunde, zerbrechen sehen, die man aber nicht schützen konnte, weil sie eben diesem Leben ausgesetzt waren. Wenn sich das Äußere nicht ändert, kann man sie nicht retten, weil das Leben es nicht zulässt. Das tut sehr weh. Man weiß auch nicht, wie lange man selbst durchhält. Man merkt nicht exakt, wie weit man bereits zerbrochen ist. Das entsteht erst nach und nach. Man wird sich selbst weggenommen. Es ist schwierig, nicht verrückt zu werden, nicht den Verstand zu verlieren. Man verliert ja den Verstand, wenn man nervlich etwas nicht mehr aushält, das geht bis zu Suiziden. Den Verstand zu verlieren, das war genau das Ziel des Geheimdienstes, als er mich täglich schikanierte oder verhörte. Er wollte mich zerbrechen.

Hat Ihnen die eigene Literatur damals geholfen?

Ich weiß nicht. Darüber kann man nur spekulieren. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht geschrieben hätte. Andere stecken diese Dinge ja auch in ihre Arbeit. Ein Friseur, ein Straßenbahnschaffner, ein Apotheker hält sich eben über seine Tätigkeit im Gleichgewicht. Ob das Schreiben da die beste Methode ist, weiß ich nicht. An das Therapeutische im Schreiben glaub ich nicht. Weil man sich den Dingen beim Schreiben nochmals stellen muss, das schont ja nicht unbedingt. Aber vielleicht wäre es noch schlimmer gewesen, wenn ich nicht geschrieben hätte.

War Schreiben auch Lebenssinn?

Nein, überhaupt nicht. Für mich war das etwas Beiläufiges. Weil ich aus einer Familie komme, in der es keine Bücher gab. Die Kunst, die Literatur, überhaupt die Kultur spielte keine Rolle. Man hat auch wenig gesprochen. Bauern reden nicht viel, und über sich selbst schon gar nicht. Lesen war im Grunde genommen verpönt. Dass man sitzt und Romane liest, war das Gegenteil von Lebenstüchtigkeit. 

Zum Wunsch nach Freiheit gehört die Suche nach Schönheit.

Später aber wurde das Schreiben für Sie zentral. Sie riskierten viel dafür. Ihre Texte versteckten Sie bei einer Freundin vor dem Geheimdienst.

Ja, das Schreiben war dann doch eine Notwendigkeit. Sonst hätte ich es nicht getan. Und weil ich mit Sprache vorher so wenig zu tun hatte, haben mich die Bücher sehr in ihren Sog genommen. Ich war so ungeschützt der Sprache gegenüber, sie hat mich unglaublich beeindruckt. Meine Freunde damals haben alle gelesen und auch schon geschrieben. Und diese Freundschaften waren auch eine Notwendigkeit. Um sich zu schützen in der Diktatur. Die Freunde waren die einzigen Menschen, mit denen zusammen man selbst sein konnte, wo man nicht schweigen, lügen oder heucheln musste. Wir hatten politisch und menschlich und moralisch die gleichen Vorstellungen. Was tut man und was tut man nicht? Wie weit kann man in einer Diktatur gehen? Darf man sich anbiedern, um Privilegien zu haben? Was darf man tun, um sich selbst zu schützen, wenn man anderen Menschen schadet? Das sind alles Themen, die ergeben sich jeden Tag, in Tausenden Situationen. 

Unter gänzlich anderen Umständen erleben auch Menschen heute ähnliche moralische Dilemmata. 

Diese Fragen sind ja wahrscheinlich grundlegend für jede Gesellschaft. Sie werden bloß nicht so unabdingbar. Opportunismus gibt es natürlich immer, und die moralische Verantwortung ist genauso gegeben. Auch wenn es nicht auf politische Verfolgung hinausläuft. Freiheit wird einem erst bewusst, wenn man erlebt hat, dass sie einem weggenommen wird. Vielen Leuten hier in Europa ist ihre Freiheit ja gar nicht bewusst, weil sie sie als selbstverständlich betrachten. Und auch wenn sie uns dann langsam abhandenkommt – in vielen, vielen Bereichen, merken sie das gar nicht.

Herta Müller wird bei Literatur im Nebel ein Gespräch mit Liao Yiwu führen, den sie schon seit Langem kennt. Ihre Collagen sind bis 7. März 2021 im Kunstforum Wien zu sehen.

Wie beginnt der Raub der Freiheit?

Die Schritte sind ja so wichtig. Heute sehen wir, wie Diktaturen entstehen. Wir sehen in der Türkei atemberaubende Bewegungen, wie eine Diktatur entstanden ist, in ein paar Jahren, durch Erdoğan mit seiner Sippe, seinem Clan. Wir sehen auch, wie Demokratie zurückgenommen wird, in Ungarn oder in Polen. Gesetze werden außer Kraft gesetzt, die Justiz wird gleichgeschaltet, die Medien werden gleichgeschaltet, leitende Stellen in Institutionen mit Parteigängern besetzt. Das ist das bekannte Muster und es geht immer Schritt für Schritt. Und wenn eine gewisse Stufe überschritten ist, dann ist es oft zu spät. Und darum muss man von Anfang an aufpassen. Wenn die Justiz in den USA nicht so genau auf jede Verrücktheit reagiert hätte, wäre Trump imstande gewesen, nach einer Amtszeit eine Dreiviertel-Diktatur zu installieren. Und wenn aber die Justiz und die Organe, die das verhindern, nicht mehr vorhanden sind, wenn die auch schon geschwächt sind, dann funktioniert das demokratische Prinzip nicht mehr. Kaczyński und Orbán ist das Schritt für Schritt gelungen. Aber sie hatten ja auch mehr Zeit dafür.

Warum lassen Menschen heute zu, dass demokratische Freiheitsrechte beschnitten werden? Warum werden Autokraten gewählt?

Weil viele Menschen nicht politisch denken, weil sie das nicht gewöhnt sind und weil Geschenke gemacht werden, sie werden gekauft, in Ungarn, in Polen. In Rumänien waren vor Kurzem Wahlen, und die sogenannten Sozialdemokraten, die die ehemaligen Kommunisten sind, haben gesagt: „Wir geben euch 40 Prozent mehr Rente.“ Woher sie das Geld nehmen, interessiert die Leute nicht, sie wollen den sofortigen Vorteil haben. „Ich habe mit der Politik nichts zu tun“, sagen sie, „ich halte mich an die Gesetze, mir ist doch egal, was mit der Justiz ist.“ Erst wenn sie draufzahlen, merken sie, dass es nicht egal ist und dass eine unabhängige Justiz das grundlegende Prinzip der Demokratie und die Garantie der Freiheit ist. Aber das durchschauen viele nicht. Darum muss die Demokratie schon ganz zu Beginn erhalten werden, schon, wenn die Zerstörungsversuche anfangen, sonst ist es zu spät. 

Was kann ein Einzelner tun, um Demokratie und Freiheit zu beschützen?

Sich selbst aufklären. Man muss sich selbst die Werte setzen. Sich selbst die Fragen stellen. Wenn man das nicht tut, begreift man das alles nicht. Das war im Sozialismus auch nicht viel anders. Viele Menschen haben geglaubt, das betrifft sie nicht. Und wenn sie dann drangekommen sind, weil die Diktatur und die Repressalien unberechenbar waren, dann haben sie überhaupt nicht standhalten können, dann haben sie die Nerven sofort verloren, weil sie nicht darauf vorbereitet waren, dass auch ihnen das passieren kann. Und sie haben dann viel weniger ausgehalten, als die, die sich damit beschäftigt haben. Das politische Denken schützt einen ja. Darum ist es auch so wichtig. Das muss auch vermittelt werden, im Unterricht, an den Schulen. Diese Werte gehören zu jedem Fach, da ist es egal, ob das Physik, Mathematik oder Chemie ist, das gehört überall dazu, weil man in jedem Beruf diese Werte braucht, um eine demokratische Gesellschaft aufrechtzuerhalten. 

Das politische Denken schützt einen.

Aufklärung, Freiheit, liberale Demokratie – dafür lohnt es, sich einzusetzen. Wofür noch? Für Schönheit? Und wenn ja, was ist Schönheit für Sie?

Schönheit ist für jeden etwas anderes. Gott sei Dank. Schönheit definiert sich durch unsere Individualität. Es ist eine höchst persönliche Kategorie. Das ist ja auch gut so. Aber Schönheit … ja, Schönheit ist sehr wichtig. Und ich glaube, zu dem Wunsch nach Freiheit gehört auch die Suche nach Schönheit.

Herta Müllers Stimme hat einen neuen Ton angenommen, etwas leise Hoffnungsvolles liegt darin. Gewiss wird sie bald wieder an ihr Stehpult treten, ins Licht des Fensters und dort nach Wörtern suchen. Kein Wind wird kommen. Papierschnipsel in ihrer Hand. ● ○

Heidenreichstein
Patrick Münnich
Heidenreichstein

Heidenreichstein

Kultureller Befreiungsschlag


Das Festival Literatur im Nebel beschäftigt sich seit 2006 alljährlich mit Leben und Werk eines Stars der Weltliteratur. Der Ort des Geschehens, Heidenreichstein im nördlichen Waldviertel, liegt weit ab vom Schuss. Ein großer Vorteil. morgen besuchte jene, die das Literaturevent initiierten.

Es ist ungewöhnlich warm für Dezember, speziell fürs nördliche Waldviertel. Am Hauptplatz in Heidenreichstein herrscht im kurzen Zeitfenster zwischen zweitem und drittem Lockdown nicht gerade reges Treiben. Weihnachtsdeko baumelt an den Laternen. Der historische Stadtbrunnen und die Rolandsfigur am Pranger sind gut verpackt, um unbeschadet durch die sonst gern frostigen Wintermonate zu kommen. Einige der 4.000 Einwohnerinnen und Einwohner machen Besorgungen in den wenigen Geschäften. Oben auf der Margithöhe – an der Wasserburg vorbei, dem Wahrzeichen Heidenreichsteins, nicht weit vom Stadtzentrum – schlummert eine Veranstaltungshalle im Winterschlaf. Wie die Anhöhe, auf der sie steht, ist auch die Margithalle nach der Heiligen Margaretha benannt. Als Drachenbezwingerin dient sie vor allem solchen Pfarren als Patronin, die in finsterem Forst oder unwegsamen Mooren gegründet wurden, verrät Wikipedia. Beides findet sich in der unmittelbaren Umgebung. Das streng funktionale, man könnte auch sagen schmucklose Gebäude, das sich gut zwischen Bäumen versteckt, ist seit 2006 Austragungsort des Festivals Literatur im Nebel.

Er erinnere sich noch genau daran, erzählt Hans Pichler bei einem Kaffee in der Kunstakademie Heidenreichstein gleich nebenan, als ihm der frühere Kulturminister Rudolf Scholten bei einem Treffen in dessen Garten vorgeschlagen habe, ein Literaturfestival zu veranstalten. Damals war Pichler Bürgermeister der Stadt. Auf Scholtens Idee, Salman Rushdie als Ehrengast einzuladen, hat er mit nachvollziehbarer Skepsis reagiert: „Na sicher, der wird nach Heidenreichstein kommen!“ Was er nicht wusste: Der britisch-indische Schriftsteller, über den im Iran 1989 wegen angeblicher Gotteslästerung in seinem Roman „Die satanischen Verse“ ein Todesurteil verhängt worden war, hatte sich während geheimer Aufenthalte in Österreich mit Scholten angefreundet.

Als sich überdies herauszukristallisieren begann, welche Persönlichkeiten aus Literatur und Schauspiel als Lesende am Festival mitwirken würden, war für Pichler klar: „Daraus könnte etwas werden.“ Und so war es dann auch: ausverkauftes Haus, überregionales, ja sogar internationales Interesse, ausgebuchte Hotels und Gasthöfe. Natürlich habe es anfangs im Gemeinderat geheißen: „Für wås brauch ma den Schmoan?“ Doch die Überzeugungsarbeit habe sich gelohnt. „Literatur im Nebel ist eine Erfolgsgeschichte für das ganze Waldviertel“, so der Altbürgermeister stolz.

Für die Region, die insbesondere in ihren nördlichen Ecken an Jobmangel und Abwanderung zu leiden hat, ist die Entwicklung Heidenreichsteins beispielhaft. Ein Großteil der in der Nachkriegszeit aufgeblühten Textil, Holz und Metall verarbeitenden Industriebetriebe der Stadt sollte den wirtschaftlichen Strukturwandel und den aufkommenden Wettbewerb aus Niedriglohnländern nicht überleben. Von den einst mehr als 3.000 Arbeitsplätzen in der Gemeinde ging seit den 1970er-Jahren annähernd die Hälfte verloren. Das kulturelle Engagement in den letzten Jahren und Jahrzehnten – von Alf Krauliz’ Sommerakademie Motten und dessen Pfinxt’n Festival über die Produktionen der Bühne Heidenreichstein bis hin eben zu Literatur im Nebel – kann in diesem Zusammenhang als Befreiungsschlag für den Ort gewertet werden. Hans Pichler: „Du kannst mit Kultur sehr wohl wirtschaftliche Akzente setzen, davon lasse ich mich nicht abbringen. Du kannst etwas bewegen. Aber es ist ein hartes Stück Arbeit, keine Frage. Und es geht auch nicht von heute auf morgen.“

Literatur im Nebel ist eine Erfolgsgeschichte für das ganze Waldviertel.

Abseits der Kurzatmigkeit

Akzente setzen für die Region, das wollten auch Christine und Rudolf Scholten. Sie empfangen uns an ihrem Zweitwohnsitz, einem adaptierten ehemaligen Försterhaus in der Nähe von Heidenreichstein. Gemeinsam mit einer Handvoll Gleichgesinnter richten die Medizinerin und der ehemalige Unterrichts- und Kunstminister sowie spätere Generaldirektor der Kontrollbank nun schon zum 14. Mal das Festival aus.

Der damals ebenfalls in der Gegend ansässige Autor Robert Schindel und er hätten nach einem Veranstaltungsformat gesucht, das in der Peripherie besser funktioniere als in der Stadt, erzählt Rudolf Scholten bei einem Spaziergang am Waldrand. „Dabei haben wir erkannt, dass man hier etwas tun kann, das in der Stadt eigentlich unmöglich ist, nämlich sich darauf verlassen, dass man einem Thema über längere Zeit in großer Konzentration folgt. Dass hier, indem man alle Gesetzmäßigkeiten der Kurzatmigkeit, der Schnelligkeit zurücklässt, ein sehr genauer Umgang mit literarischem Schaffen möglich ist.“

So entstand das Konzept, sich an zwei Abenden jeweils fünf Stunden mit den Texten einer einzelnen Autorin, eines einzelnen Autors zu beschäftigen, die fast ausnahmslos von Größen der heimischen Theater- und Literaturszene gelesen werden. Nach der Premiere mit Salman Rushdie folgten weitere internationale Stars wie Amos Oz, Jorge Semprún, Margaret Atwood, Ian McEwan, Herta Müller und J. M. Coetzee der Einladung ins Waldviertel, aber auch wichtige Stimmen aus Weltgegenden, die in literarischer Hinsicht oft nicht so im Fokus stehen – etwa Nuruddin Farah aus Somalia oder Swetlana Alexijewitsch aus Belarus. Neben deren Werk sei auch immer die Lebensgeschichte der Ehrengäste außergewöhnlich, sind sich die Scholtens einig. „Für das Publikum ist es etwas Besonderes, jemanden zu erleben, der eine ganz aus jeder Norm fallende Biografie hat“, meint Rudolf Scholten.

Man langweilt sich keine Sekunde.

Geistige Knochenarbeit

Der Nächste in der Reihe ist Liao Yiwu. Eigentlich wäre er schon 2020 im Fokus von Literatur im Nebel gestanden, pandemiebedingt soll er nun aber erst im Mai 2021 in Heidenreichstein gastieren. Der Autor fiel in seiner Heimat China spätestens mit der Veröffentlichung des Gedichts „Massaker“ in Ungnade. Er wird aus dem Berliner Exil ins Waldviertel anreisen (siehe auch Beitrag auf Seite 30).

Das Schaffen der Literatur-im-Nebel-Ehrengäste kennt kaum jemand so gut wie Bettina Hering, Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele. Die Schweizerin arbeitet als Dramaturgin für Literatur im Nebel. Die Bedeutung ihrer Arbeit lässt sich schon daran ablesen, dass das Festival 2017 vom Herbst in den Frühling verlegt wurde, weil Herings Wechsel vom Landestheater Niederösterreich nach Salzburg eine weitere Zusammenarbeit terminlich andernfalls verunmöglicht hätte.

Auch Liao Yiwus Werk hat sie geradezu seziert, dazu Sekundär- und Fachliteratur gewälzt. Die Lesungen zu erstellen, verrät sie per E-Mail, sei geistige Knochenarbeit. Wie eine Bildhauerin löse sie aus dem gesamten Textblock nach und nach jene Struktur heraus, die dem jeweiligen Buch ihrer Meinung nach am ehesten entspreche. Ihr Ziel sei ein schlüssiges Konzept, das den jeweiligen Ehrengast in vielen Facetten zeigt und dem Gesamtwerk möglichst gerecht wird. „In Liao Yiwus Literatur ist Freiheit ein Lebensthema“, so Hering. „Nicht nur seine persönliche Freiheit, die er unter den schwierigsten Bedingungen erkämpft hat, sondern die Freiheit seiner Generation respektive der ganzen chinesischen Gesellschaft.“ Auch dass der Freiheitsbegriff an sich komplex und auf keinen einfachen Nenner zu bringen sei, werde im Werk des Autors thematisiert, indem dieser Abhängigkeiten aller Art im Kontext ihres kulturellen und politischen Umfelds formuliere.

Dabei unterscheidet Hering im Schaffen Liao Yiwus zwei grundlegende Stränge: Der eine betreffe seine eigene Biografie und die seiner Generation. Gezeichnet werde das Bild eines politischen Studenten und Literaten, der sich gegen die Diktatur auflehnt und dessen demokratischen Intentionen wie die seiner Verbündeten tragisch im Tian’anmen-Massaker gipfeln. Der zweite Strang sei ein quasi dokumentarischer: Als Chronist der chinesischen Gesellschaft decke Liao Yiwu die Zustände der um ihr Überleben kämpfenden, nicht privilegierten Schichten auf. Bei Literatur im Nebel werde je ein Tag einem dieser thematischen Stränge gewidmet sein, so Hering.

Dass die Dramaturgin gute Arbeit leistet und dem Werk der Weltliteratinnen und -literaten tatsächlich gerecht wird – auch in der Auswahl der Lesenden, die sich mit einer Ausnahme nicht wiederholen sollen –, legt die Reaktion des Publikums nahe: Man könnte die gesamte Veranstaltung über eine Stecknadel fallen hören, heißt es immer wieder in den Gesprächen rund um das Festival. Es herrsche eine unglaubliche Aufmerksamkeit unter den 500 Menschen, die in der Halle Platz finden, meint Christine Scholten. Und wenn Elisabeth Orth, die erwähnte Ausnahme unter den Lesenden, Jorge Semprún mit dessen Text über Buchenwald zu Tränen rührt, geht das in der Margithalle vielen unter die Haut.

Man kann hier etwas tun, das in der Stadt unmöglich ist.

Überraschte Begeisterung

Spezielle Momente haben auch Heidi Demmer und Anna-Katharina Wurz bei Literatur im Nebel schon erlebt. Die beiden Heidenreich­steinerinnen sitzen gemeinsam mit Hans Pichler beim morgen-Interview. Die eine sieht sich „einfach nur als begeisterte Besucherin“, die andere – sie studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft – ist als Mitglied der Bühne Heidenreichstein helfende Hand in der Festivaltechnik. Vom Stolz des Altbürgermeisters, der Heidenreichstein gar zur Kulturhauptstadt des Waldviertels erklärt, ist auch bei ihnen etwas zu spüren, wenn sie über die Literatur- und Bühnengrößen sprechen, die alljährlich die Margithalle füllen und dabei ungewohnt nahbar wirken. Überhaupt herrsche eine besondere Atmosphäre: „Selbst wenn Lesungen zum Teil in Originalsprache, etwa auf Russisch, gehalten und erst danach übersetzt werden – man langweilt sich keine Sekunde, weil die Vortragenden die Emotionen so super rüberbringen, sogar wenn man die Sprache nicht versteht“, so Demmer. Wurz wiederum erzählt schmunzelnd von einer Freundin, die ob des kulturellen Angebots in Heidenreichstein meinte: „Dafür, dass du im Nirgendwo wohnst, ist bei euch aber ganz schön viel los.“

Dass es bislang nur ein einziges Mal bei Literatur im Nebel auch wirklich Nebel gab, schadete dem Erfolg des Festivals jedenfalls nicht. „Wir haben mit Glück eine Form gefunden, die auch bei den Ehrengästen eine überraschte Begeisterung auslöst“, resümiert Rudolf Scholten. „Selbst wenn es ein bisschen flapsig klingt: Es gibt so viele Dinge, bei denen man nicht genau weiß, warum sie nicht funktionieren. Jetzt haben wir, Gott sei Dank, einmal etwas, bei dem man nicht genau weiß, warum es funktioniert. Aber es ist so.“ ● ○