Es ist ungewöhnlich warm für Dezember, speziell fürs nördliche Waldviertel. Am Hauptplatz in Heidenreichstein herrscht im kurzen Zeitfenster zwischen zweitem und drittem Lockdown nicht gerade reges Treiben. Weihnachtsdeko baumelt an den Laternen. Der historische Stadtbrunnen und die Rolandsfigur am Pranger sind gut verpackt, um unbeschadet durch die sonst gern frostigen Wintermonate zu kommen. Einige der 4.000 Einwohnerinnen und Einwohner machen Besorgungen in den wenigen Geschäften. Oben auf der Margithöhe – an der Wasserburg vorbei, dem Wahrzeichen Heidenreichsteins, nicht weit vom Stadtzentrum – schlummert eine Veranstaltungshalle im Winterschlaf. Wie die Anhöhe, auf der sie steht, ist auch die Margithalle nach der Heiligen Margaretha benannt. Als Drachenbezwingerin dient sie vor allem solchen Pfarren als Patronin, die in finsterem Forst oder unwegsamen Mooren gegründet wurden, verrät Wikipedia. Beides findet sich in der unmittelbaren Umgebung. Das streng funktionale, man könnte auch sagen schmucklose Gebäude, das sich gut zwischen Bäumen versteckt, ist seit 2006 Austragungsort des Festivals Literatur im Nebel.
Er erinnere sich noch genau daran, erzählt Hans Pichler bei einem Kaffee in der Kunstakademie Heidenreichstein gleich nebenan, als ihm der frühere Kulturminister Rudolf Scholten bei einem Treffen in dessen Garten vorgeschlagen habe, ein Literaturfestival zu veranstalten. Damals war Pichler Bürgermeister der Stadt. Auf Scholtens Idee, Salman Rushdie als Ehrengast einzuladen, hat er mit nachvollziehbarer Skepsis reagiert: „Na sicher, der wird nach Heidenreichstein kommen!“ Was er nicht wusste: Der britisch-indische Schriftsteller, über den im Iran 1989 wegen angeblicher Gotteslästerung in seinem Roman „Die satanischen Verse“ ein Todesurteil verhängt worden war, hatte sich während geheimer Aufenthalte in Österreich mit Scholten angefreundet.
Als sich überdies herauszukristallisieren begann, welche Persönlichkeiten aus Literatur und Schauspiel als Lesende am Festival mitwirken würden, war für Pichler klar: „Daraus könnte etwas werden.“ Und so war es dann auch: ausverkauftes Haus, überregionales, ja sogar internationales Interesse, ausgebuchte Hotels und Gasthöfe. Natürlich habe es anfangs im Gemeinderat geheißen: „Für wås brauch ma den Schmoan?“ Doch die Überzeugungsarbeit habe sich gelohnt. „Literatur im Nebel ist eine Erfolgsgeschichte für das ganze Waldviertel“, so der Altbürgermeister stolz.
Für die Region, die insbesondere in ihren nördlichen Ecken an Jobmangel und Abwanderung zu leiden hat, ist die Entwicklung Heidenreichsteins beispielhaft. Ein Großteil der in der Nachkriegszeit aufgeblühten Textil, Holz und Metall verarbeitenden Industriebetriebe der Stadt sollte den wirtschaftlichen Strukturwandel und den aufkommenden Wettbewerb aus Niedriglohnländern nicht überleben. Von den einst mehr als 3.000 Arbeitsplätzen in der Gemeinde ging seit den 1970er-Jahren annähernd die Hälfte verloren. Das kulturelle Engagement in den letzten Jahren und Jahrzehnten – von Alf Krauliz’ Sommerakademie Motten und dessen Pfinxt’n Festival über die Produktionen der Bühne Heidenreichstein bis hin eben zu Literatur im Nebel – kann in diesem Zusammenhang als Befreiungsschlag für den Ort gewertet werden. Hans Pichler: „Du kannst mit Kultur sehr wohl wirtschaftliche Akzente setzen, davon lasse ich mich nicht abbringen. Du kannst etwas bewegen. Aber es ist ein hartes Stück Arbeit, keine Frage. Und es geht auch nicht von heute auf morgen.“