Heidenreichstein
Patrick Münnich
Heidenreichstein

Heidenreichstein

Kultureller Befreiungsschlag


Das Festival Literatur im Nebel beschäftigt sich seit 2006 alljährlich mit Leben und Werk eines Stars der Weltliteratur. Der Ort des Geschehens, Heidenreichstein im nördlichen Waldviertel, liegt weit ab vom Schuss. Ein großer Vorteil. morgen besuchte jene, die das Literaturevent initiierten.

Es ist ungewöhnlich warm für Dezember, speziell fürs nördliche Waldviertel. Am Hauptplatz in Heidenreichstein herrscht im kurzen Zeitfenster zwischen zweitem und drittem Lockdown nicht gerade reges Treiben. Weihnachtsdeko baumelt an den Laternen. Der historische Stadtbrunnen und die Rolandsfigur am Pranger sind gut verpackt, um unbeschadet durch die sonst gern frostigen Wintermonate zu kommen. Einige der 4.000 Einwohnerinnen und Einwohner machen Besorgungen in den wenigen Geschäften. Oben auf der Margithöhe – an der Wasserburg vorbei, dem Wahrzeichen Heidenreichsteins, nicht weit vom Stadtzentrum – schlummert eine Veranstaltungshalle im Winterschlaf. Wie die Anhöhe, auf der sie steht, ist auch die Margithalle nach der Heiligen Margaretha benannt. Als Drachenbezwingerin dient sie vor allem solchen Pfarren als Patronin, die in finsterem Forst oder unwegsamen Mooren gegründet wurden, verrät Wikipedia. Beides findet sich in der unmittelbaren Umgebung. Das streng funktionale, man könnte auch sagen schmucklose Gebäude, das sich gut zwischen Bäumen versteckt, ist seit 2006 Austragungsort des Festivals Literatur im Nebel.

Er erinnere sich noch genau daran, erzählt Hans Pichler bei einem Kaffee in der Kunstakademie Heidenreichstein gleich nebenan, als ihm der frühere Kulturminister Rudolf Scholten bei einem Treffen in dessen Garten vorgeschlagen habe, ein Literaturfestival zu veranstalten. Damals war Pichler Bürgermeister der Stadt. Auf Scholtens Idee, Salman Rushdie als Ehrengast einzuladen, hat er mit nachvollziehbarer Skepsis reagiert: „Na sicher, der wird nach Heidenreichstein kommen!“ Was er nicht wusste: Der britisch-indische Schriftsteller, über den im Iran 1989 wegen angeblicher Gotteslästerung in seinem Roman „Die satanischen Verse“ ein Todesurteil verhängt worden war, hatte sich während geheimer Aufenthalte in Österreich mit Scholten angefreundet.

Als sich überdies herauszukristallisieren begann, welche Persönlichkeiten aus Literatur und Schauspiel als Lesende am Festival mitwirken würden, war für Pichler klar: „Daraus könnte etwas werden.“ Und so war es dann auch: ausverkauftes Haus, überregionales, ja sogar internationales Interesse, ausgebuchte Hotels und Gasthöfe. Natürlich habe es anfangs im Gemeinderat geheißen: „Für wås brauch ma den Schmoan?“ Doch die Überzeugungsarbeit habe sich gelohnt. „Literatur im Nebel ist eine Erfolgsgeschichte für das ganze Waldviertel“, so der Altbürgermeister stolz.

Für die Region, die insbesondere in ihren nördlichen Ecken an Jobmangel und Abwanderung zu leiden hat, ist die Entwicklung Heidenreichsteins beispielhaft. Ein Großteil der in der Nachkriegszeit aufgeblühten Textil, Holz und Metall verarbeitenden Industriebetriebe der Stadt sollte den wirtschaftlichen Strukturwandel und den aufkommenden Wettbewerb aus Niedriglohnländern nicht überleben. Von den einst mehr als 3.000 Arbeitsplätzen in der Gemeinde ging seit den 1970er-Jahren annähernd die Hälfte verloren. Das kulturelle Engagement in den letzten Jahren und Jahrzehnten – von Alf Krauliz’ Sommerakademie Motten und dessen Pfinxt’n Festival über die Produktionen der Bühne Heidenreichstein bis hin eben zu Literatur im Nebel – kann in diesem Zusammenhang als Befreiungsschlag für den Ort gewertet werden. Hans Pichler: „Du kannst mit Kultur sehr wohl wirtschaftliche Akzente setzen, davon lasse ich mich nicht abbringen. Du kannst etwas bewegen. Aber es ist ein hartes Stück Arbeit, keine Frage. Und es geht auch nicht von heute auf morgen.“

Literatur im Nebel ist eine Erfolgsgeschichte für das ganze Waldviertel.

Abseits der Kurzatmigkeit

Akzente setzen für die Region, das wollten auch Christine und Rudolf Scholten. Sie empfangen uns an ihrem Zweitwohnsitz, einem adaptierten ehemaligen Försterhaus in der Nähe von Heidenreichstein. Gemeinsam mit einer Handvoll Gleichgesinnter richten die Medizinerin und der ehemalige Unterrichts- und Kunstminister sowie spätere Generaldirektor der Kontrollbank nun schon zum 14. Mal das Festival aus.

Der damals ebenfalls in der Gegend ansässige Autor Robert Schindel und er hätten nach einem Veranstaltungsformat gesucht, das in der Peripherie besser funktioniere als in der Stadt, erzählt Rudolf Scholten bei einem Spaziergang am Waldrand. „Dabei haben wir erkannt, dass man hier etwas tun kann, das in der Stadt eigentlich unmöglich ist, nämlich sich darauf verlassen, dass man einem Thema über längere Zeit in großer Konzentration folgt. Dass hier, indem man alle Gesetzmäßigkeiten der Kurzatmigkeit, der Schnelligkeit zurücklässt, ein sehr genauer Umgang mit literarischem Schaffen möglich ist.“

So entstand das Konzept, sich an zwei Abenden jeweils fünf Stunden mit den Texten einer einzelnen Autorin, eines einzelnen Autors zu beschäftigen, die fast ausnahmslos von Größen der heimischen Theater- und Literaturszene gelesen werden. Nach der Premiere mit Salman Rushdie folgten weitere internationale Stars wie Amos Oz, Jorge Semprún, Margaret Atwood, Ian McEwan, Herta Müller und J. M. Coetzee der Einladung ins Waldviertel, aber auch wichtige Stimmen aus Weltgegenden, die in literarischer Hinsicht oft nicht so im Fokus stehen – etwa Nuruddin Farah aus Somalia oder Swetlana Alexijewitsch aus Belarus. Neben deren Werk sei auch immer die Lebensgeschichte der Ehrengäste außergewöhnlich, sind sich die Scholtens einig. „Für das Publikum ist es etwas Besonderes, jemanden zu erleben, der eine ganz aus jeder Norm fallende Biografie hat“, meint Rudolf Scholten.

Man langweilt sich keine Sekunde.

Geistige Knochenarbeit

Der Nächste in der Reihe ist Liao Yiwu. Eigentlich wäre er schon 2020 im Fokus von Literatur im Nebel gestanden, pandemiebedingt soll er nun aber erst im Mai 2021 in Heidenreichstein gastieren. Der Autor fiel in seiner Heimat China spätestens mit der Veröffentlichung des Gedichts „Massaker“ in Ungnade. Er wird aus dem Berliner Exil ins Waldviertel anreisen (siehe auch Beitrag auf Seite 30).

Das Schaffen der Literatur-im-Nebel-Ehrengäste kennt kaum jemand so gut wie Bettina Hering, Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele. Die Schweizerin arbeitet als Dramaturgin für Literatur im Nebel. Die Bedeutung ihrer Arbeit lässt sich schon daran ablesen, dass das Festival 2017 vom Herbst in den Frühling verlegt wurde, weil Herings Wechsel vom Landestheater Niederösterreich nach Salzburg eine weitere Zusammenarbeit terminlich andernfalls verunmöglicht hätte.

Auch Liao Yiwus Werk hat sie geradezu seziert, dazu Sekundär- und Fachliteratur gewälzt. Die Lesungen zu erstellen, verrät sie per E-Mail, sei geistige Knochenarbeit. Wie eine Bildhauerin löse sie aus dem gesamten Textblock nach und nach jene Struktur heraus, die dem jeweiligen Buch ihrer Meinung nach am ehesten entspreche. Ihr Ziel sei ein schlüssiges Konzept, das den jeweiligen Ehrengast in vielen Facetten zeigt und dem Gesamtwerk möglichst gerecht wird. „In Liao Yiwus Literatur ist Freiheit ein Lebensthema“, so Hering. „Nicht nur seine persönliche Freiheit, die er unter den schwierigsten Bedingungen erkämpft hat, sondern die Freiheit seiner Generation respektive der ganzen chinesischen Gesellschaft.“ Auch dass der Freiheitsbegriff an sich komplex und auf keinen einfachen Nenner zu bringen sei, werde im Werk des Autors thematisiert, indem dieser Abhängigkeiten aller Art im Kontext ihres kulturellen und politischen Umfelds formuliere.

Dabei unterscheidet Hering im Schaffen Liao Yiwus zwei grundlegende Stränge: Der eine betreffe seine eigene Biografie und die seiner Generation. Gezeichnet werde das Bild eines politischen Studenten und Literaten, der sich gegen die Diktatur auflehnt und dessen demokratischen Intentionen wie die seiner Verbündeten tragisch im Tian’anmen-Massaker gipfeln. Der zweite Strang sei ein quasi dokumentarischer: Als Chronist der chinesischen Gesellschaft decke Liao Yiwu die Zustände der um ihr Überleben kämpfenden, nicht privilegierten Schichten auf. Bei Literatur im Nebel werde je ein Tag einem dieser thematischen Stränge gewidmet sein, so Hering.

Dass die Dramaturgin gute Arbeit leistet und dem Werk der Weltliteratinnen und -literaten tatsächlich gerecht wird – auch in der Auswahl der Lesenden, die sich mit einer Ausnahme nicht wiederholen sollen –, legt die Reaktion des Publikums nahe: Man könnte die gesamte Veranstaltung über eine Stecknadel fallen hören, heißt es immer wieder in den Gesprächen rund um das Festival. Es herrsche eine unglaubliche Aufmerksamkeit unter den 500 Menschen, die in der Halle Platz finden, meint Christine Scholten. Und wenn Elisabeth Orth, die erwähnte Ausnahme unter den Lesenden, Jorge Semprún mit dessen Text über Buchenwald zu Tränen rührt, geht das in der Margithalle vielen unter die Haut.

Man kann hier etwas tun, das in der Stadt unmöglich ist.

Überraschte Begeisterung

Spezielle Momente haben auch Heidi Demmer und Anna-Katharina Wurz bei Literatur im Nebel schon erlebt. Die beiden Heidenreich­steinerinnen sitzen gemeinsam mit Hans Pichler beim morgen-Interview. Die eine sieht sich „einfach nur als begeisterte Besucherin“, die andere – sie studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft – ist als Mitglied der Bühne Heidenreichstein helfende Hand in der Festivaltechnik. Vom Stolz des Altbürgermeisters, der Heidenreichstein gar zur Kulturhauptstadt des Waldviertels erklärt, ist auch bei ihnen etwas zu spüren, wenn sie über die Literatur- und Bühnengrößen sprechen, die alljährlich die Margithalle füllen und dabei ungewohnt nahbar wirken. Überhaupt herrsche eine besondere Atmosphäre: „Selbst wenn Lesungen zum Teil in Originalsprache, etwa auf Russisch, gehalten und erst danach übersetzt werden – man langweilt sich keine Sekunde, weil die Vortragenden die Emotionen so super rüberbringen, sogar wenn man die Sprache nicht versteht“, so Demmer. Wurz wiederum erzählt schmunzelnd von einer Freundin, die ob des kulturellen Angebots in Heidenreichstein meinte: „Dafür, dass du im Nirgendwo wohnst, ist bei euch aber ganz schön viel los.“

Dass es bislang nur ein einziges Mal bei Literatur im Nebel auch wirklich Nebel gab, schadete dem Erfolg des Festivals jedenfalls nicht. „Wir haben mit Glück eine Form gefunden, die auch bei den Ehrengästen eine überraschte Begeisterung auslöst“, resümiert Rudolf Scholten. „Selbst wenn es ein bisschen flapsig klingt: Es gibt so viele Dinge, bei denen man nicht genau weiß, warum sie nicht funktionieren. Jetzt haben wir, Gott sei Dank, einmal etwas, bei dem man nicht genau weiß, warum es funktioniert. Aber es ist so.“ ● ○