Volha Hapeyeva
Rita Newman
Volha Hapeyeva

Hapeyeva

„Im Inneren war ich immer frei“


Die Dichterin Volha Hapeyeva ist Writer in Residence des Literaturhauses Niederösterreich in Krems. In ihrer Heimat Belarus erlebt sie die Unterdrückung durch ein autoritäres Regime. Im Gespräch mit morgen erzählt sie über das Schreiben unter existenziellen Bedrohungen, ihre Kindheit im Minsk der 1980er-Jahre und das weibliche Gesicht der Revolution.

morgen: Wann waren Sie das letzte Mal in Belarus?

Volha Hapeyeva

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Ich habe in Minsk gelebt, bis ich im Herbst 2019 als Stadtschreiberin Graz besuchte, ursprünglich für ein Jahr. Aber dann kamen Corona und der Lockdown, schließlich die Revolution in Belarus. Wann und ob ich zurückkehren kann, hängt von der politischen Situation ab. 

Wäre eine Rückkehr nach Minsk für Sie gefährlich? 

Das weiß man nie. Ich habe mich in Interviews in internationalen Medien offen gegen das Lukaschenko-Regime gestellt. Wer die Opposition unterstützt, wird verfolgt. Es könnte auch sein, dass man mir die Einreise verweigert. Momentan wäre es jedenfalls keine gute Idee, wenn ich zurückginge.

Sie sind derzeit Ateliergast im Literaturhaus Krems. Davor waren Sie Stipendiatin in Bayern und Graz. Wie fühlt es sich für Sie an, die Ereignisse in Ihrer Heimat aus der Ferne zu beobachten?

Es ist ein seltsames Gefühl. Wenn ich mit Freundinnen und Freunden zu Hause spreche, merke ich, dass sich bereits vieles verändert hat. Die Menschen fühlen sich jetzt stärker verbunden und sehen, dass sie nicht allein sind. Das beflügelt sie. Umgekehrt herrschen Frustration und Erschöpfung, und viele sind traumatisiert. Was immer sie tun, das Regime ist immer noch da! Für die Geschichte sind ein, zwei Jahre nichts. Für das Leben Einzelner ist es eine lange Zeit. Man kann nicht ständig wie eine Gitarrensaite unter Hochspannung stehen.

Die Freiheit ist zum Greifen nah.

Ja, und die Menschen haben gemerkt, dass sie 25 Jahre lang vom Regime missbraucht wurden. Sie brauchen Hilfe – wie eine missbrauchte Frau.

Die Sanktionen des Westens gegen Lukaschenko und seine Getreuen reichen nicht.

Nein, aber es tut gut zu sehen, dass die Welt zuhört und Belarus Thema in der internationalen Berichterstattung ist.

Verstehen Sie sich als politische Schriftstellerin?

Erst einmal bin ich Dichterin. Schreiben auf Belarussisch an sich ist in Belarus schon ein politscher Akt. Unabhängiges Denken ebenfalls. Meine Dichtung ist eher philosophisch als politisch. Ich beschreibe das Leben, wie es ist, und lasse die Leserschaft für sich entscheiden.

Mein Name, Volha, bedeutet Freiheit.

Welche Rolle spielt das Nachdenken über das Thema Freiheit für Ihr Schreiben?

Mein Name, Volha, oder auch Volja, bedeutet Freiheit und Wille. Die Freiheit muss man im Kopf haben; in dem Sinn, dass man sich nicht selbst zensuriert. Für einen kreativen Menschen ist es wichtig, keine Angst davor zu haben, anders zu sein.

Ist Ihnen diese Angst vertraut?

Ja, und ich hasse dieses Gefühl. Das ist es, was alle autoritären Regimes tun: Sie halten die Menschen in Angst. Ich und viele Leute, die ich kenne, haben das erfahren: willkür­liche Anklagen und Beschuldigungen, anonyme Drohbriefe, Besuche vom Geheimdienst.

Auch bei Ihnen?

Ja, einmal tauchte ein KGBler bei mir auf und stellte mir Fragen. Er war nett, drohte aber damit, dass das nächste Mal vielleicht jemand kommen würde, der weniger nett sei. Ich erinnere mich an das Gefühl der Paranoia danach: als sei die Welt geschrumpft und ich in der Falle. Man weiß nicht, was passiert. Sicher ist, dass der Geheimdienst Aufzeichnungen über alle Aktivitäten von Regimegegnerinnen und -gegnern führt. Wie früher in der DDR.

Der Widerstand gegen das Lukaschenko-Regime wird, so scheint es, vor allem von den Frauen getragen. Wie kommt das?

Weil die Männer verhaftet wurden. Also sind die Frauen in die erste Reihe getreten. Swetlana Tichanowskaja folgte ihrem Mann nach, der für die Präsidentschaftswahlen im August kandidieren wollte, aber schon davor verhaftet wurde. Maria Kalesnikava war im Wahlkampfteam eines anderen Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Viktar Babaryka. Er ist ebenfalls seit Juni 2020 in Haft.

Dann trügt der Eindruck vom weiblichen Gesicht der Revolution?

Die Opposition hat wohl bewusst entschieden, diese Karte zu spielen. Erstens als Gegengewicht zum Machotum des Regimes von Lukaschenko, der sich „baćka“, also „Vater“ der Nation nennt. Also hat sich die Opposition als „Mutter der Nation“ neu erfunden, womit sie auch für Gewaltfreiheit, Fürsorge, Sauberkeit und anderes steht. Vielleicht hatte die Opposition auch die Hoffnung, dass das Regime auf Frauen weniger brutal reagieren würde. Diese hat sich leider nicht erfüllt.

Das Belarus, das Sie in Ihrem Prosaband „Camel Travel“ beschreiben, ist eine sehr patriarchale Gesellschaft. Ist es da nicht folgerichtig, dass es Frauen sind, die für ein neues politisches System und eine freie Gesellschaft kämpfen?

Frauen in der ersten Reihe, das bedeutet nicht automatisch, dass diese sich auch für Frauenthemen einsetzen. Auch im belarussischen Parlament gibt es Frauen – für die Statistik. Sie haben nichts zu sagen. Einerseits freue ich mich, dass die Welt viele Frauengesichter in der Opposition sieht. Wenn man aber Tichanowskaja zuhört, bin ich weniger glücklich: Sie sagt, sie vertrete nur ihren Mann und Frauen sollten eigentlich zu Hause bei den Kindern bleiben. Da geht es nicht um Geschlechtergleichheit. Es gibt so viele Frauen, die das patriarchale System mittragen!

Die Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin sowie promovierte Linguistin Volha Hapeyeva wurde 1982 in Minsk geboren. Neben ihrer Dichtung veranstaltet sie audiovisuelle Performances. Ihre vielfach ausgezeichneten Gedichte, Prosastücke und Dramen wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt.

Im Jänner und Februar 2021 lebt sie als Writer in Residence des Literaturhauses Niederösterreich in Krems. Auf Deutsch erschienen kürzlich ihre Gedichtsammlung „Mutantengarten“ (Edition Thanhäuser, 2020) sowie ihr autobiografisch gefärbter Debütroman „Camel Travel“ (Literaturverlag Droschl, 2021).

Wie ist denn die Situation für Frauen in Belarus tatsächlich?

Sie war immer sehr schwer. In meiner Kindheit wusch meine Mutter die Wäsche noch mit der Hand – in den 1980er-Jahren! Es ist eine verkehrte Welt: Frauen hatten etwa nie die Wahl, ob sie arbeiten wollten oder nicht. Sie mussten. Jene feministischen Ideen, die ihren Ursprung in den USA hatten, greifen da kaum. Für mich geht es in dem Zusammenhang um die Freiheit der Wahl, für Frauen und Männer. Will man berufstätig sein oder lieber Hausfrau, Hausmann? Beides soll möglich sein, aber das ist in Belarus undenkbar. Außerdem gibt es seit 2014 eine offizielle Liste von über 180 Berufen, für die Frauen per Gesetz nicht rekrutiert werden dürfen, darunter Bus- und Metrofahrer, Pilot, Arbeit im Bergbau oder bei der Feuerwehr. 

In „Camel Travel“ beschreiben Sie Ihre Kindheit und Jugend im Belarus der 80er- und 90er-Jahre. Persönliche Freiheit von Kindern und Frauen wurde da nicht groß geschrieben.

Ich glaube nicht, dass das nur die sowjetische Tradition war. Es hat mehr mit der globalen Geschichte des Umgangs mit Kindern zu tun: Sie sollten ihren Platz kennen, sich nicht in Belange und Gespräche von Erwachsenen einmischen. Ein sehr hierarchisches System. Heute genießen Kinder weit mehr Freiheit und Aufmerksamkeit. In einer Diktatur wie der belarussischen interessiert die persönliche Freiheit allerdings niemanden. Sie soll der Gesellschaft untergeordnet werden, die Einzelnen sollen sich der Gesellschaft opfern. Um auch einmal etwas Positives zu sagen: Vielleicht hat das dazu geführt, dass die Leute nicht ganz so egoistisch waren, wie ich das anderswo oft beobachte.

Sie sind zweifellos ohne den Konsumwahn der kapitalistischen Welt aufgewachsen. In „Camel Travel“ schreiben Sie einmal: „Es ist einfach so: Auswahl verdirbt.“ Sind Sie immun gegen die Verführungen der Konsumfreiheit?

Ich kann nur für mich sprechen. Nicht alle erleben das so. Ich habe einen belarussischen Bekannten, der früher sehr arm war und jetzt wie wild shoppt. Es ist in jedem Fall ein Kompensationsmechanismus. Wir waren alle mehr oder weniger arm und hatten alle mehr oder weniger das Gleiche. Deshalb haben wir auch nicht groß darauf geachtet, was wir tragen oder besitzen. Jetzt höre ich, dass Kinder Gleichaltrige mobben, weil sie nicht das neueste I-Phone haben. Das kommt mir absurd vor.

Wir waren alle mehr oder weniger arm.

Wenn von Belarus die Rede ist, taucht häufig das Schlagwort von „der letzten Diktatur Europas“ auf.

Ich glaube, Lukaschenko gefällt es, das zu hören. Es macht ihn zum Helden, wenn auch zum bösen Helden. Wie im Märchen. Dabei wird die persönliche Freiheit an vielen Orten eingeschränkt.

Wie hat es Sie geprägt, in einer unfreien Gesellschaft aufzuwachsen?

Als Kind hat man keine Vergleichsmöglichkeiten. In der Schule fühlte ich mich definitiv nicht frei; in der Natur, der Sprache, der Dichtung dagegen immer. Das half mir. In meinem Inneren war ich immer frei. ● ○