Herta Müller
Laurence Chaperon
Herta Müller

Herta Müller

„Dinge von unsichtbarer Kraft“


Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Herta Müller, die heuer bei Literatur im Nebel gastiert, sprach mit morgen über Schönheit, Widerstand, Weinen und den Wunsch nach Freiheit.

Volksrepublik Rumänien, Diktatur der 1960er-Jahre, ein im Banat gelegenes Dorf der deutschsprachigen Minderheit. Die Eltern schicken die kleine Herta raus ins Flusstal, den ganzen Tag hat sie dort zuzubringen. Sie muss auf die Kühe achten, sie alleine. Hin und wieder fährt ein Zug vorbei. Danach wieder Stille und Einsamkeit. Herta spricht mit den Pflanzen, untersucht Blätter, Blumen, Blüten. Wie zart und zerbrechlich sie sind – und wie ähnlich ihr selbst. 

Da wir einander coronabedingt nicht gegenübersitzen, sondern telefonieren, stelle ich mir Herta Müller vor. Stelle sie mir vor, wie Leserinnen und Leser eines Gesprächs sich den interviewten Menschen vorstellen, mit jeder Zeile mehr. 

morgen: Woraus bestehen wir Menschen im Inneren, was macht uns aus? 

Herta Müller

:

Ach, wir sind doch undurchschaubar. Wir sind uns doch selbst ein Geheimnis, auch unser Denken. Das Durchschaubare ist doch das Wenigste in einem selbst. 

Hilft Literatur Ihnen, sich besser kennenzulernen?

Nicht nur mich selbst. Alles, was mich umgibt. Ich erfahre beim Schreiben erst, welche Dimensionen die Dinge haben. Das entsteht erst, während ich mich dem Erlebten wieder stelle, in Form von Wörtern. Diese Notwendigkeit entsteht dadurch, dass man mit dem Erlebten nochmals zu tun haben möchte. Oder muss. 

Herta Müller trägt, so sagt sie, schwarze Kleidung wie immer, auch in ihren eigenen vier Wänden, ihrer Wohnung in Berlin. Was fehlt in diesen Corona-Tagen, ist der sonst obligatorische knallige Lippenstift, der an ihr nicht aufdringlich wirkt, sondern wie zur Tarnung, wie zum Schutz der Autorin. Dahinter, hinter diesem selbstbewussten Rot, steckt sie, Herta, das einstige Kuhhütermädchen, steckt die während Jahrzehnten der Diktatur verletzte, sich treu gebliebene Frau, steckt die Schriftstellerin, die in ihrer alten Heimat Rumänien heute oft verächtlich „die Deutsche“ genannt wird und in Deutschland die „Banat-Schwäbin“, dahinter steckt die Frau, die seit Stockholm 2009 für die Öffentlichkeit nur noch „die Literaturnobelpreisträgerin“ ist.

Die Kuppen ihrer Finger berühren einander, wie sie es oft während Gesprächen tun, während des Nachdenkens. Daumen und Mittel- und Ringfinger. Herta Müller tastet nach etwas. Einem passenden Wort? Einem Gefühl? Sich?

Oft steht sie an ihrem Pult vor dem Fenster. Darauf liegen ausgeschnittene Papierschnipsel, Wortschnipsel, die sie zu Prosa und Poesie vereint. Einmal das Fenster auf, einmal kräftig Lüften und die Wörter flögen davon. Rund um die Schriftlegerin, rund um Herta Müller, Bücher in weißen Regalen. Romane, in denen die Wörter bereits festgefügt sind, nicht mehr verrutschen, nicht mehr verwehen. Neben den Regalen: Archivschränke mit Dutzenden schmalen Laden. Darin: Worte. Worte, Worte, Worte. Verschiedenfarbig, mit Gewicht und leichte. Herta Müller klebt sie fest, arrangiert die ihr zugefallenen Wörter zu Collagen, mit Uhu-Stick und Schere. „Was man nicht sagen kann, kann man schreiben.“

„Wir sind uns doch selbst ein Geheimnis.“

Helfen Ihnen neben der Literatur auch Träume, um Erlebtes in neuem Licht zu sehen? 

Nein, ich kann mit meinen Träumen nicht viel anfangen. Sie sind nur bruchstückhaft in meiner Erinnerung, und sie haben darin eine andere Logik, eine nicht zusammenhängende. Ich habe mit Träumen noch ein Problem. Träume sind ja manchmal gruselig. Und bei Leuten, die viele Grenzwertigkeiten, viel Schlimmes erlebt haben, redet man ja von Traumata. Und solche Traumata sind ja auch schrecklich. 

Viele Erwachsene zerbrechen in totalitären Staaten. Wie ging es Ihnen als Kind im kommunistischen Rumänien? 

Dinge, die man sich als Kind nicht erklären kann, zwingen einen durch eine unsichtbare Kraft. Ich wusste schon als Kind, dass es verboten war, Kälber zu schlachten. Die musste man dem Staat abgeben. Nur wenn dem Kalb etwas passierte, wenn es ein Unglück gab, durfte man es notschlachten und das Fleisch selbst essen. Und da es nicht viel Fleisch gab, hat man sich gewünscht, dass ein Unglück passiert. Damit man das Kalb essen darf. Die Bauern im Ort haben also Notschlachtungen provoziert, indem sie dem Kalb zum Beispiel das Bein gebrochen haben. Dann kam der Tierarzt, der natürlich bestochen wurde, und schrieb im medizinischen Gutachten, dass das Kalb getötet werden müsse. Als Kind hat man das alles mitgekriegt und hat geschwiegen, weil man wusste, man würde die Eltern gefährden, wenn man die Wahrheit sagen würde. Anderseits habe ich sie gehasst, weil sie dem Kalb das Bein gebrochen haben. Und dann diese Lüge. Es hat mich lange beschäftigt, dass meine Eltern so was tun, obwohl sie mir sagen, man darf nicht lügen. Allgemein war das gültig, aber in diesem Spezialfall und bei vielem anderen nicht. Das ist verworren und das ist auch ein Stück weit pervers. Man spürt das als Kind, auch wenn man dafür keine Wörter hat. Es teilt sich einem fast körperlich mit. Und so etwas passiert ja nur in totalitären Systemen, in Diktaturen, wo überwacht wird und wo denunziert wird, wo die Denunziation zum politischen Werkzeug gehört, um Menschen gehorsam zu machen.

Kinder und Jugendliche wurden im kommunistischen Rumänien gezwungen, öffentlich Nummern zu tragen. Das diente der Kontrolle und war eine Einladung zur Denunziation.

Jeder Schüler hatte eine Armnummer, so hieß das. Es war ein Stück dunkelblauer Stoff, auf dem war der Name der Schule aufgedruckt und darunter die Nummer, die man als Gymnasiast hatte. Wenn man durch die Stadt ging und etwas getan hat, was nicht erlaubt war, konnte jeder, der wollte, einen denunzieren, und zwar anonym. In der Straßenbahn, im Park, egal wo. Die Nummer wurde morgens kontrolliert, am Schultor. Und auch die Kleidung und die Frisur wurden kontrolliert, die Jungs durften keine längeren Haare haben, die durften nicht das Ohrläppchen berühren, und die Mädchen mussten ein Kopfband tragen, ein weißes, und eine rote Pionier-Krawatte musste man tragen. Es war Gleichschaltung.

Wie gingen Sie damit um?

Man hat versucht, innerhalb der Uniform Individuelles und Privates zu tun. Man hat zum Beispiel nicht die hellblaue Bluse angezogen, sondern einmal oder zweimal die Woche eine andere. Oder ein bisschen Schmuck. Das war wie eine Notwendigkeit.

Ist der Freiheitswunsch uns Menschen immanent? Ist Freiheit ein unabdingbarer Aspekt, um Mensch sein zu können?

Ich glaube schon, ja. Auch das Individuelle. Das ist ja auch ein Hauptcharakteristikum der Diktatur, dass das Individuelle verboten ist. Individualität war ein Schimpfwort. Ich habe auch als Lehrerin gearbeitet, da hat man jedes Jahr eine Charakterisierung bekommen, und ich wurde öfter entlassen – wegen Individualität. Das Individuum war der Feind des Kollektivs. Nicht das Gegenteil, sondern der Feind. Darum wurde auf das Stillhalten der Leute geachtet und darauf, dass niemand ausscherte. Individuelle Freiheit war nicht denkbar, dafür wurde man bestraft. 

Sie wurden jahrelang schikaniert, bei Verhören des Geheimdienstes und an Ihrem Arbeitsplatz.

Nachdem ich mich geweigert habe, für den Geheimdienst zu spitzeln, hat mich der Direktor der Fabrik, in der ich damals gearbeitet habe, jeden Morgen zu sich gerufen und mich eine ganze Stunde traktiert und beschimpft und auch entwürdigt, und da hab ich gedacht, ich darf ihm meine Gefühle und meinen Zustand nicht zeigen, auch wenn ich kaputt bin, und ich darf nie weinen, ich darf ihm das nicht gönnen. Ich hab geheult, wenn ich dann alleine war. Ich war schon ziemlich kaputt, als ich das Land endlich verlassen durfte. Ich hätte es nicht mehr viel länger ausgehalten, es war höchste Zeit.

Hatten Sie eine Überlebensstrategie? Wie kann es unter derart menschenfeindlichen Umständen gelingen, sich zu bewahren, seelisch gesund zu bleiben?

Ich weiß nicht, ob ich seelisch gesund bin, wer weiß das schon von sich. Es gibt ja auch verschiedene Maßstäbe dafür. Wie beschädigt ist man? Ich habe viele Leute, auch Freunde, zerbrechen sehen, die man aber nicht schützen konnte, weil sie eben diesem Leben ausgesetzt waren. Wenn sich das Äußere nicht ändert, kann man sie nicht retten, weil das Leben es nicht zulässt. Das tut sehr weh. Man weiß auch nicht, wie lange man selbst durchhält. Man merkt nicht exakt, wie weit man bereits zerbrochen ist. Das entsteht erst nach und nach. Man wird sich selbst weggenommen. Es ist schwierig, nicht verrückt zu werden, nicht den Verstand zu verlieren. Man verliert ja den Verstand, wenn man nervlich etwas nicht mehr aushält, das geht bis zu Suiziden. Den Verstand zu verlieren, das war genau das Ziel des Geheimdienstes, als er mich täglich schikanierte oder verhörte. Er wollte mich zerbrechen.

Hat Ihnen die eigene Literatur damals geholfen?

Ich weiß nicht. Darüber kann man nur spekulieren. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht geschrieben hätte. Andere stecken diese Dinge ja auch in ihre Arbeit. Ein Friseur, ein Straßenbahnschaffner, ein Apotheker hält sich eben über seine Tätigkeit im Gleichgewicht. Ob das Schreiben da die beste Methode ist, weiß ich nicht. An das Therapeutische im Schreiben glaub ich nicht. Weil man sich den Dingen beim Schreiben nochmals stellen muss, das schont ja nicht unbedingt. Aber vielleicht wäre es noch schlimmer gewesen, wenn ich nicht geschrieben hätte.

War Schreiben auch Lebenssinn?

Nein, überhaupt nicht. Für mich war das etwas Beiläufiges. Weil ich aus einer Familie komme, in der es keine Bücher gab. Die Kunst, die Literatur, überhaupt die Kultur spielte keine Rolle. Man hat auch wenig gesprochen. Bauern reden nicht viel, und über sich selbst schon gar nicht. Lesen war im Grunde genommen verpönt. Dass man sitzt und Romane liest, war das Gegenteil von Lebenstüchtigkeit. 

Zum Wunsch nach Freiheit gehört die Suche nach Schönheit.

Später aber wurde das Schreiben für Sie zentral. Sie riskierten viel dafür. Ihre Texte versteckten Sie bei einer Freundin vor dem Geheimdienst.

Ja, das Schreiben war dann doch eine Notwendigkeit. Sonst hätte ich es nicht getan. Und weil ich mit Sprache vorher so wenig zu tun hatte, haben mich die Bücher sehr in ihren Sog genommen. Ich war so ungeschützt der Sprache gegenüber, sie hat mich unglaublich beeindruckt. Meine Freunde damals haben alle gelesen und auch schon geschrieben. Und diese Freundschaften waren auch eine Notwendigkeit. Um sich zu schützen in der Diktatur. Die Freunde waren die einzigen Menschen, mit denen zusammen man selbst sein konnte, wo man nicht schweigen, lügen oder heucheln musste. Wir hatten politisch und menschlich und moralisch die gleichen Vorstellungen. Was tut man und was tut man nicht? Wie weit kann man in einer Diktatur gehen? Darf man sich anbiedern, um Privilegien zu haben? Was darf man tun, um sich selbst zu schützen, wenn man anderen Menschen schadet? Das sind alles Themen, die ergeben sich jeden Tag, in Tausenden Situationen. 

Unter gänzlich anderen Umständen erleben auch Menschen heute ähnliche moralische Dilemmata. 

Diese Fragen sind ja wahrscheinlich grundlegend für jede Gesellschaft. Sie werden bloß nicht so unabdingbar. Opportunismus gibt es natürlich immer, und die moralische Verantwortung ist genauso gegeben. Auch wenn es nicht auf politische Verfolgung hinausläuft. Freiheit wird einem erst bewusst, wenn man erlebt hat, dass sie einem weggenommen wird. Vielen Leuten hier in Europa ist ihre Freiheit ja gar nicht bewusst, weil sie sie als selbstverständlich betrachten. Und auch wenn sie uns dann langsam abhandenkommt – in vielen, vielen Bereichen, merken sie das gar nicht.

Herta Müller wird bei Literatur im Nebel ein Gespräch mit Liao Yiwu führen, den sie schon seit Langem kennt. Ihre Collagen sind bis 7. März 2021 im Kunstforum Wien zu sehen.

Wie beginnt der Raub der Freiheit?

Die Schritte sind ja so wichtig. Heute sehen wir, wie Diktaturen entstehen. Wir sehen in der Türkei atemberaubende Bewegungen, wie eine Diktatur entstanden ist, in ein paar Jahren, durch Erdoğan mit seiner Sippe, seinem Clan. Wir sehen auch, wie Demokratie zurückgenommen wird, in Ungarn oder in Polen. Gesetze werden außer Kraft gesetzt, die Justiz wird gleichgeschaltet, die Medien werden gleichgeschaltet, leitende Stellen in Institutionen mit Parteigängern besetzt. Das ist das bekannte Muster und es geht immer Schritt für Schritt. Und wenn eine gewisse Stufe überschritten ist, dann ist es oft zu spät. Und darum muss man von Anfang an aufpassen. Wenn die Justiz in den USA nicht so genau auf jede Verrücktheit reagiert hätte, wäre Trump imstande gewesen, nach einer Amtszeit eine Dreiviertel-Diktatur zu installieren. Und wenn aber die Justiz und die Organe, die das verhindern, nicht mehr vorhanden sind, wenn die auch schon geschwächt sind, dann funktioniert das demokratische Prinzip nicht mehr. Kaczyński und Orbán ist das Schritt für Schritt gelungen. Aber sie hatten ja auch mehr Zeit dafür.

Warum lassen Menschen heute zu, dass demokratische Freiheitsrechte beschnitten werden? Warum werden Autokraten gewählt?

Weil viele Menschen nicht politisch denken, weil sie das nicht gewöhnt sind und weil Geschenke gemacht werden, sie werden gekauft, in Ungarn, in Polen. In Rumänien waren vor Kurzem Wahlen, und die sogenannten Sozialdemokraten, die die ehemaligen Kommunisten sind, haben gesagt: „Wir geben euch 40 Prozent mehr Rente.“ Woher sie das Geld nehmen, interessiert die Leute nicht, sie wollen den sofortigen Vorteil haben. „Ich habe mit der Politik nichts zu tun“, sagen sie, „ich halte mich an die Gesetze, mir ist doch egal, was mit der Justiz ist.“ Erst wenn sie draufzahlen, merken sie, dass es nicht egal ist und dass eine unabhängige Justiz das grundlegende Prinzip der Demokratie und die Garantie der Freiheit ist. Aber das durchschauen viele nicht. Darum muss die Demokratie schon ganz zu Beginn erhalten werden, schon, wenn die Zerstörungsversuche anfangen, sonst ist es zu spät. 

Was kann ein Einzelner tun, um Demokratie und Freiheit zu beschützen?

Sich selbst aufklären. Man muss sich selbst die Werte setzen. Sich selbst die Fragen stellen. Wenn man das nicht tut, begreift man das alles nicht. Das war im Sozialismus auch nicht viel anders. Viele Menschen haben geglaubt, das betrifft sie nicht. Und wenn sie dann drangekommen sind, weil die Diktatur und die Repressalien unberechenbar waren, dann haben sie überhaupt nicht standhalten können, dann haben sie die Nerven sofort verloren, weil sie nicht darauf vorbereitet waren, dass auch ihnen das passieren kann. Und sie haben dann viel weniger ausgehalten, als die, die sich damit beschäftigt haben. Das politische Denken schützt einen ja. Darum ist es auch so wichtig. Das muss auch vermittelt werden, im Unterricht, an den Schulen. Diese Werte gehören zu jedem Fach, da ist es egal, ob das Physik, Mathematik oder Chemie ist, das gehört überall dazu, weil man in jedem Beruf diese Werte braucht, um eine demokratische Gesellschaft aufrechtzuerhalten. 

Das politische Denken schützt einen.

Aufklärung, Freiheit, liberale Demokratie – dafür lohnt es, sich einzusetzen. Wofür noch? Für Schönheit? Und wenn ja, was ist Schönheit für Sie?

Schönheit ist für jeden etwas anderes. Gott sei Dank. Schönheit definiert sich durch unsere Individualität. Es ist eine höchst persönliche Kategorie. Das ist ja auch gut so. Aber Schönheit … ja, Schönheit ist sehr wichtig. Und ich glaube, zu dem Wunsch nach Freiheit gehört auch die Suche nach Schönheit.

Herta Müllers Stimme hat einen neuen Ton angenommen, etwas leise Hoffnungsvolles liegt darin. Gewiss wird sie bald wieder an ihr Stehpult treten, ins Licht des Fensters und dort nach Wörtern suchen. Kein Wind wird kommen. Papierschnipsel in ihrer Hand. ● ○