Roundtable

„Die Wahrheit wird missbraucht“


Wie steht es um die Freiheit der Kunst in Osteuropa? morgen konnte eine hochkarätige Runde – den ungarischen Maler Ádám Dallos, die polnische Performance- und Videokünstlerin Zuzanna Janin sowie die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko – für ein (virtuelles) Gespräch über Selbstzensur und Freiräume, künstlerische Proteste und problematische Neubesetzungen gewinnen.

morgen: Oksana Sabuschko, die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass die Ukraine einzigartig dasteht, was den Kampf für die Freiheit betrifft. Nicht jedes Land kann drei Revolutionen in einer Generation aufweisen. Wie erleben Sie als Literatin das?

Oksana Sabuschko

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Wenn die Menschen auf die Straße gehen, geht auch die Kunst auf die Straße. Dann verwandelt sich der öffentliche Raum in einen Raum der Freiheit, der flammenden Ideen, des Experiments. Das ist das Beste, was eine Gesellschaft hervorbringen kann. Doch dann lässt diese Bewegung nach. 2014, nach den Protesten des Euromaidan, gab es zunächst unglaublich viele Neugründungen im Kulturbereich. Sie tauchten in jeder Stadt, in jedem Dorf auf – neue Hubs, neue Start-ups, neue Kunstzentren, neue Galerien, neue Festivals, neue Buch- und Kunstmessen. Jetzt ist der Enthusiasmus gewichen und Budgets werden gekürzt. Außerdem tritt zutage, was bisher höchstens von einigen Weltklasse-Intellektuellen erfasst wurde, etwa von Umberto Eco. Wie ein Prophet sprach er über den medialen Populismus und davon, dass Zustände wie in den 1930er-Jahren zurückkehren würden. Seine 2007 erschiene Essaysammlung nannte er „A passo di gambero. Guerre calde e populismo mediatico“, auf Englisch erschienen unter dem Titel „Turning Back the Clock: Hot Wars and Media Populism“. Das im Titel zitierte „Zurückdrehen der Uhr“ verwendet Eco als Metapher für eine Gesellschaft, die zurück in die dunklen Zeiten des Totalitarismus im 20. Jahrhundert geht. Der Unterschied ist, dass diese nun über neue Technologien verfügt. Es ist eine Neo-Orwell-Welt, in der wir leben.

Zuzanna Janin, sehen Sie diese Bedrohung ähnlich?

Zuzanna Janin

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Das kann ich nur unterschreiben. Die Welt ist sehr orwellistisch geworden.

Sabuschko

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Ich versuchte nach 2014, in meiner Arbeit zu beschreiben, wie die Wahrheit missinterpretiert, missbraucht und gefälscht wird. Wie kann es sein, dass wir uns in einer Welt wiederfinden, wo wir nicht wissen, wer am Wort ist, wer das Mikrofon in Händen hält, wem bestimmte Plattformen gehören, wer die Sprechenden auswählt, wer moderiert und wer im gegebenen Moment die Mikrofone abschaltet?

Es sieht so aus, als würde das Internet uns zu mehr individueller Freiheit verhelfen, de facto aber entzieht es uns die Kontrolle.

Sabuschko

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Dem stimme ich zu. Es geht in diesem Zusammenhang ausschließlich um Freiheit. Denn Meinungsfreiheit bedeutet nichts anderes als das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Freiheit der Meinungsäußerung setzt per definitionem voraus, dass ich der Wahrheit treu bin.

Janin

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Da widerspreche ich. Die freie Meinungsäußerung wurde jetzt zum Werkzeug, um jene zu bekämpfen, die für die Demokratie eintreten. Um etwas durchzusetzen, das nicht der Wahrheit entspricht.

Sabuschko

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Das ist genau der Punkt. Die Wahrheit zu erforschen und ihr treu zu sein, ist eines der Menschenrechte. Diese Lawine von Fake News, die uns überschwemmt, diese Spindoktoren, die in den Medien Szenarien entwickeln: All das fasse ich unter dem Begriff „Hacking Democracy“ zusammen. Wir haben immer weniger physische und immer mehr virtuelle Realität. Und diese virtuelle Realität kann modelliert und instrumentalisiert werden.

Zuzanna Janin, geboren 1961, eine der wichtigsten zeitgenössischen polnischen Künstlerinnen, beschäftigt sich mit Skulptur, Installation, Video, Fotografie und Performance. Ihre Freundin, die Nobelreisträgerin Olga Tokarczuk, widmete ihrer Kunst bereits 1999 einen Text. Janins Arbeiten waren im Museum of Contemporary Art in Chicago, in der Fundació Joan Miró in Barcelona, im Berliner Martin-Gropius-Bau sowie in der Kunsthalle Wien zu sehen. Die Künstlerin lebt in Warschau.

Ádám Dallos, Sie reflektieren in Ihrer Malerei das Thema Homosexualität. Wie frei sind Sie mit Ihrer Kunst in Ungarn, wo sich das Klima zusehends gegen Lesben und Schwule wendet?

Ádám Dallos

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Als Maler habe ich in meiner Arbeit selbst völlige Freiheit. Ich darf aufgrund meiner geografischen Lage keine Selbstzensur betreiben: Wäre ich in Berlin oder New York, würde ich wohl dieselbe Kunst machen wie in Budapest. Für mich stellt sich eher die Frage der Sichtbarkeit. In den vergangenen paar Jahren konnte ich meine Arbeiten hauptsächlich in Fabrikgebäuden am Stadtrand, in Vororten von Budapest oder in Räumen, die von Kunstschaffenden betrieben werden, zeigen. Wenn ich in einer Galerie im Stadtzentrum ausstelle, ist es besser, wenn der Innenraum nicht straßenseitig sichtbar ist. Und im Moment sehe ich nicht die geringste Chance, mit staatlichen Institutionen in Budapest oder kleineren Städten in Ungarn zusammenzuarbeiten.

Janin

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Auch in Polen werden Minderheiten angegriffen. So werden uns Schritt für Schritt die Freiheiten genommen. Die LGBTQ-Community wird zurückgestuft, ebenso die Frauen – Letztere reduziert man auf ihre Mutterrolle. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Die Freiheit der Frauen ist die Freiheit der Gesellschaft.

Oksana Sabuschko, wie spiegelt die Kunstszene in der Ukraine den Streit zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kräften?

Sabuschko

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Die Spaltung zwischen fortschrittlich und reaktionär oder proeuropäisch und nationalistisch ist für ukrainische Künstlerinnen und Künstler keine vorrangige Herausforderung, da wir weitaus schlimmere haben: In der Ukraine herrscht seit sieben Jahren Krieg, das stellt uns in Bezug auf Ethik vor völlig neue Herausforderungen.

Oksana Sabuschko, Jahrgang 1960, gilt als wichtigste ukrainische Literatin der Gegen- wart. Sie studierte Philosophie. Ihr erster Roman, „Feldstudien über ukrainischen Sex“ (deutsche Übersetzung: Droschl, 2006), machte sie über Nacht berühmt. In „Museum der vergessenen Geheimnisse“ (Droschl, 2010) entfaltet sie ein komplexes Panorama der gesellschaftlichen Verhältnisse ihres Landes. Auch in kritischen Essays bezieht sie Stellung dazu. Zuletzt erschien ihr Roman „Schwestern“ (Klak Verlag).

Die Kunst ist eine Sprache, die ihren Ausdruck unmittelbar und über Emotionen findet. Wie kann sie Freiräume schaffen? 

Janin

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Kunst ist eine Art von Kommunikation, die ohne das Explizite auskommt. Als bildende Künstlerinnen und Künstler erzeugen wir kein Narrativ, sondern wir zeigen auf, wir verbildlichen. Freilich ist Kunst extrem anfällig und kann manipuliert werden. Viele machen sich eine progressive künstlerische Sprache zunutze, die formal durchaus poetisch und schlau erscheint, sind dabei aber sehr konservativ, was die unterschwellig transportierten Inhalte betrifft. 

Dallos

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In Zusammenhang mit künstlerischen Freiräumen möchte ich die Ausstellung „Ars Homo Erotica“ erwähnen, die 2010 im Nationalmuseum in Warschau stattfand, gestaltet vom Kunsthistoriker und Kurator Paweł Leszkowicz. Bereits ein Jahr vor der Eröffnung diskutierte das polnische Parlament über ein mögliches Verbot der Ausstellung. Während der Vorbereitung erhielten die Verantwortlichen anonyme Drohbriefe. Abgesehen von Protesten vor der Eröffnung gab es jedoch keine größeren Zwischenfälle. Aus den Kritiken und Reaktionen auf die Ausstellung ging hervor, dass männliche Nacktheit im Gegensatz zu weiblicher gesellschaftlich nicht akzeptiert wird. Meiner Ansicht nach kann die Sichtbarkeit des homoerotischen Verlangens in der Kunst einen heilenden Prozess erleichtern, bei dem Vorurteile, Ängste und die Kriminalisierung männlicher Nacktheit, die heute noch existieren, geringer werden. Ich bin stolz darauf, dass meine Arbeiten auch in dieser Ausstellung gezeigt wurden. 

Wie wäre das heute?

Dallos

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Heute, im Jahr 2021, wäre es meiner Meinung nach unmöglich, in Warschau oder in Budapest eine solche institutionelle Ausstellung zu organisieren.

Janin

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Es wird in vielen Museen die Leitungsebene ausgewechselt. Das Zentrum für zeitgenössische Kunst in Warschau wurde von Leuten übernommen, die dem rechten Lager angehören. Wir sind in einer Epoche des Anti-Modernismus, der sich gegen die Gegenwartskunst richtet. Technologisch hat unser Land ein hohes Niveau, aber mental, sozial oder im Bereich der humanistischen Wissenschaften nähern wir uns dem Nullpunkt. Diese Entwicklung ist sehr gefährlich, und sie ist nicht nur in Polen, sondern global zu beobachten.

Ádám Dallos wurde 1986 in Szombathely geboren und studierte an Kunstuniversitäten in Budapest, Berlin und Nürnberg. In seiner expressiven Malerei beschäftigt er sich mit Homosexualität. Bereits 2010 zeigte er seine Werke in der Schau „Ars Homo Erotica“ im polnischen Nationalmuseum. Weitere Ausstellungen in der Blitz Galéria und im Ludwig Museum in Budapest, wo er heute lebt. Zuletzt war Dallos als Artist in Residence Niederösterreich auf der Kunstmeile Krems.

Wie geht die Kunst damit um? 

Janin

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Wir werden nicht still sein, wir werden nicht schweigen. Natürlich machen wir weiter – unabhängig und im Privaten. In Polen gibt es derzeit zahlreiche Künstlerinnengruppen, das ist in unserer Geschichte etwas ganz Neues. Sie nutzen ihre künstlerische Sprache, indem sie mit ihrer Arbeit auf die Straße gehen, zum Beispiel ein Performancekollektiv mit dem Namen Żubrzyce Mówimy Nie, das bei Demos auf Plakaten Botschaften transportiert wie: „Wir wollen keine Homophobie“, „Wir wollen keinen Antisemitismus“ oder „Wir protestieren gegen das Fehlen weiblicher Kunstschaffender in den Museen und Ausstellungen“. Die Künstlerinnengruppe Kariatyda arbeitet zum Thema Wikipedia, wo Frauen bekanntlich sehr schlecht vertreten sind. Auch die lesbische Bewegung ist in der Avantgarde momentan sehr stark. Vor 30 Jahren war sie noch nicht sichtbar. 

Wie kommt das?

Janin

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Es ist ein Wandel der Kultur, der Zivilisation. 

Dallos

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Allerdings kann man sich nicht sicher fühlen. Ich arbeite schon seit Langem zu Homoerotik. Wenn man in Budapest eine Ausstellung zu einem queeren Thema plant, engagiert man besser einen Sicherheitsdienst. Selbst kleinste LGBTQ-Events werden angegriffen. Auch von offizieller Seite wird stark gegen die Community polemisiert. Sogar der Premierminister redet von „Gender-Gefahr“, spricht über ungarische Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite und Homosexuelle auf der anderen Seite – so, als handle es sich dabei um verschiedene Gruppen von Personen.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks bestand in westlichen Ländern großes Interesse an der Kunst Osteuropas. Mit der Zeit ließ es nach, wachte dann aber in unregelmäßigen Zyklen wieder auf. Es scheint, dass Kunstschaffende aus den Visegrád-Staaten untereinander kooperieren. Wie ist die Zusammenarbeit mit den Kunstszenen westeuropäischer Länder? 

Dallos

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Meiner Ansicht nach hat die westliche Welt heute ein sehr starkes Interesse an der ungarischen Neo-Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre, die sich gegen den sozialistischen Realismus wandte. Ich selbst gehöre zu einer viel jüngeren Generation, deren Kunst international noch nicht so ein Echo findet wie die Neo-Avantgarde. Aber wir können heute viel einfacher reisen und international arbeiten. Daher betrachte ich Europa als Einheit – als Einheit ohne Mauern.

Janin

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Wir stehen in regem internationalem Austausch, zum Beispiel beim alljährlichen Warsaw Gallery Weekend. Die dort beteiligten Galerien sind nicht nur total unabhängig, sie repräsentieren auch ein sehr hohes künstlerisches Niveau. 2018 haben ich und einige andere einen internationalen Kunstpreis geschaffen, benannt nach den polnischen Avantgardistinnen Maria Anto und Elsa von Freytag-Loringhoven, den wir bisher unter anderem an die polnische Künstlerin Teresa Gierzyńska sowie, auf internationaler Ebene, an Barbara Kruger, Phyllida Barlow und Carolee Schneemann verliehen haben. Der Kontakt nach außen ist immens wichtig – großartig, um Ideen auszutauschen und in der gegenwärtigen Situation zu kämpfen. Ich will nicht, dass Länder wie Polen abdriften. 

Es ist ein Wandel der Kultur.

Wie blicken Sie der Zukunft entgegen?

Dallos

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Ich sehe in letzter Zeit gute Anzeichen dafür, dass die Menschen ihre Augen öffnen. Obwohl Massenproteste im Moment aufgrund der Corona-Pandemie verboten sind, werden immer mehr Stimmen der Unzufriedenheit laut. Es ist Zeit, dass wir selbstbewusst für unsere Anliegen eintreten. 

Sabuschko

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Im Jänner 2020 haben wir in einem über Crowdfunding finanzierten Restaurant einen Leseclub ins Leben gerufen. Wie in Boccaccios „Dekameron“ kommen Freundinnen und Freunde aus verschiedenen Gebieten der Kunst zusammen. Wir diskutieren über ein Buch und streamen dieses Gespräch. Wir wollen, dass möglichst viele Leute ebenfalls diese Art sokratisches Symposion organisieren. Es geht nicht nur darum, über Bücher zu reden und zu zeigen, wie sie Menschen vereinen können, sondern auch darum, eine gewisse Kultur des Lesens aufrechtzuerhalten. Dass sie ausgelöscht wird, werde ich nicht zulassen. Das ist meine Antwort auf die Herausforderung eines neuen Totalitarismus: Let’s stay strong! ● ○