Liao Yiwu
Ali Ghandtschi
Liao Yiwu

Literatur im Nebel

Vom Schreiben im Gefängnis


Der chinesische Dichter Liao Yiwu kümmerte sich nicht um Politik, bis er inhaftiert wurde. Heute lebt er im deutschen Exil. Er ist alert, streitbar und aktiv geblieben. Grund genug für das Festival Literatur im Nebel, ihn 2021 als Ehrengast einzuladen.

Ein Gedicht macht den Unterschied: Mit „Massaker“ reagiert der Schriftsteller Liao Yiwu auf die Gewalttaten um den 4. Juni 1989 in Peking, die sich mit der Niederschlagung der Protestbewegung in China verbinden. Nicht nur die Bilder vom Tian’anmen-Platz gehen um die Welt, auch Liao Yiwus literarische Reflexionen finden den Weg ins Ausland. Die eindringliche, international positiv aufgenommene Arbeit reflektiert unmittelbar die Ereignisse; die Brutalität des Systems wird ausgestellt, seziert und bewertet. Das Gedicht, mittlerweile auch ein literaturgeschichtliches Zeugnis, hat nichts von seiner Wucht und Dringlichkeit eingebüßt. Die deutliche Positionierung zugunsten von Demokratie und Widerstand wird innerhalb Chinas wenig überraschend nicht toleriert, Liao Yiwu inhaftiert, misshandelt, in seiner Karriere behindert – erst 2011 gelingt ihm die Flucht nach Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen folgen, ebenso die Auszeichnungen mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der 1958 in Yanting, Sichuan geborene Schriftsteller ist – glücklicherweise – alert, streitbar und aktiv geblieben. Das Festival Literatur im Nebel lud den heute in Berlin lebenden Dichter 2021 als Ehrengast ein.

morgen: Ihre literarischen Arbeiten ermöglichen der internationalen Leserschaft einen Einblick in die chinesische Gesellschaft. Welchen Stellenwert hat für Sie dabei die Wahl von Textsorten und thematischen Schwerpunkten?

Liao Yiwu

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Bevor ich ins Gefängnis geworfen wurde, war ich ein Dichter, der sich nicht um Politik scherte. Aber nach dem Gefängnis habe ich mich verändert. Das Gefängnis ist meine Ausbildung und Inspirationsquelle meines Schreibens. Von einem Mönch habe ich im Gefängnis das Flötenspiel erlernt. Ich bin dort zudem mit vielen Menschen aus den untersten Schichten der chinesischen Gesellschaft in Kontakt gekommen. Vier Jahre später wurde ich aus dem ummauerten Gefängnis in ein Gefängnis ohne Mauern entlassen. Seitdem habe ich nie aufgehört, Flöte zu spielen, Interviews zu führen und zu schreiben. In zehn Jahren habe ich mehr als 500 Menschen interviewt und ihre Geschichten aufgeschrieben. „Chinas Solschenizyn“ wurde ich von vielen Rezensentinnen und Rezensenten genannt. Ich selbst sehe mich jedoch als Aufzeichnungsgerät der Epoche. Ich schreibe über ein breites Spektrum an Themen in verschiedenen literarischen Formen, sowohl dokumentarisch wie fiktional. 2020 habe ich ein neues Buch geschrieben, „Als das Wuhan-Virus kam“, einen dokumentarischen Roman.

Ich sehe mich als Aufzeichnungsgerät.

Welche Möglichkeiten oder auch Aufgaben sehen Sie für die Gegenwartsliteratur in Zeiten politischer Extreme?

Als Schriftsteller, der Zeuge der Geschichte ist, sollte ich heute mehr Aufmerksamkeit erhalten als zu gewöhnlichen und ruhigeren Zeiten. Zum Beispiel wurde ich als Hauptgast zu Literatur im Nebel eingeladen, das empfinde ich als große Ehre. Die Veranstaltung sollte ursprünglich im März 2020 stattfinden, aber dann kam aus China das Wuhan-­Virus und die Veranstaltung wurde auf 2021 verschoben. Nächstes Jahr veröffentlicht der Fischer Verlag mein neues Buch über das Virus. Es fühlt sich an, als ob ich damit eine literarische Mission abgeschlossen hätte, nämlich die Wahrheit auszugraben.

Wie erleben Sie Ihre Situation in Deutschland und die Art, wie Ihre Literatur im deutschen Sprachraum wahrgenommen wird?

Ich lebe nun seit zehn Jahren in Berlin, kenne die Geschichte der Berliner Mauer und die heutige Situation der Stadt. Berlin ist ein Teil der zweiten Hälfte meines Lebens geworden. Ich bin ein literarischer Flüchtling aus dem diktatorischen China, doch in Europa bin ich geradewegs in Herta Müller, Paul Celan, Franz Kafka und die Geschwister Scholl hineingelaufen. Obwohl ich bis heute kein Deutsch spreche, konnte ich den Herzschlag und die Körpertemperatur der deutschen Literatur spüren. In gewisser Weise hat der Übersetzer Hans Peter Hoffmann meine Werke zu einem Teil der deutschen Literatur gemacht, zu einem mit dem fernen China verbundenen Teil.

Liao Yiwu bietet einer internationalen Leserschaft in Zeiten ökonomisierter Aufmerksamkeit ungeschönte, erschreckende Einblicke ins heutige China – nicht zuletzt weil er Outsider und Minoritäten thematisiert. In seiner permanenten Auseinandersetzung mit der Volksrepublik das Individuum ins Zentrum eines literarischen Werkes zu stellen, steht in offenem Gegensatz zu einer Gemeinschaft, die auf Kosten von Differenz und Alterität, die zulasten des Einzelnen – und eben auch seiner Handlungsmöglichkeiten – existiert. Im Rahmen seiner radikalen Kritik an der willigen, fehlbaren Mehrheit gewinnt das Subjekt an Bedeutung und Gewicht. Das eigene Ich ist wortwörtlich außerhalb des Systems angesiedelt und bleibt der höchste denkbare Einsatz im sehr ernsten Spiel um die Erzählbarkeit des Faktischen. Auf den Grundlagen von Authentizität, Beleg und Erfahrung wird bei ihm schreibend um nichts weniger gerungen als um eine ästhetisch wie auch politisch selbstbewusste Darstellung, die im normierenden Regime so gewiss nicht vorgesehen war. 

Wie schätzen Sie aktuelle Entwicklungen in China wie die Etablierung des vieldiskutierten Sozialkredit-Systems oder die jüngsten Ereignisse in Hong Kong ein? Unter welchen Bedingungen könnten Sie sich vorstellen, wieder nach China zu reisen oder gar zurückzukehren? 

China ist in allen Bereichen zurückgefallen. In Ideologie, Umwelt und im gesellschaftlichen Leben. Jetzt hat sich das Wuhan-Virus weltweit ausgebreitet, eine Katastrophe, die besser hätte eingedämmt werden können. Ich schreibe Literatur, um das alles zu dokumentieren, auch wenn das für die Politikerinnen und Politiker der Welt keinen Nutzen hat. Aber indem mein neues Buch existiert, werden sie beschämt. Am Ende wird mein Protagonist, Aydin, für seine Suche nach der Wahrheit über das Virus verhaftet. Aydins Schicksal ist das Schicksal vieler allmählich erwachender Chinesinnen und Chinesen. Die chinesische Regierung macht sich die vom Westen erfundene Hochtechnologie zunutze, um damit die Überwachung des Volkes zu perfektionieren. Das ist eine Ära der technologischen Diktatur, radikaler als in Orwells „1984“. In meinem neuen Buch hat der Mensch inmitten der Kopulation von Virus und Diktatur noch weniger Privatsphäre als ein Tier – in ein solches Land möchte ich nicht zurückkehren, es sei denn, China spaltet sich eines Tages in Dutzende von Staaten auf. Dann kann ich in die Heimat vieler berühmter Spirituosen und der Chuan-Küche zurückkehren: in die Republik Sichuan.

Welche Neuerscheinungen der letzten Jahre haben Sie als Leser als besonders spannend und wichtig wahrgenommen? Finden Werke dieser Art Eingang in Ihren Recherche- und Schreibprozess?

Im Jahr 2019 veröffentlichte der Fischer Verlag Edward Snowdens Autobiografie. Es heißt, die chinesische Version des Buches sei zensiert worden. Bemerkenswert finde ich auch die Veröffentlichungen des Verlages Thomas Reche. Er führt in jedem Buch die Werke eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin mit jenen eines Künstlers, einer Künstlerin zusammen. Eine sehr interessante Idee. Die Auflagen sind nicht besonders hoch, aber die Ausstattung ist sehr gut und qualitätsvoll. Ein neues Buch Herta Müllers, das auch dort erschienen ist, gefällt mir sehr. Sie verwendet eine Collagen-Form für ihre Gedichte, da kommt eine Form der körperlichen Arbeit hinzu. 

Sie werden beschämt.

Mit welchen Ihrer Bücher sollte eine Leserin, ein Leser beginnen, um sich mit Ihrem Werk vertraut zu machen?

Sie sollten mit „Als das Wuhan-Virus kam“ anfangen. Ich lebe seit zehn Jahren im Exil in Deutschland, und dieses Buch ist Beweis dafür, dass meine Kreativität immer noch erhalten geblieben ist. ● ○