Kolumne

Als die Steine nach Prag rollten


Als ich klein war, liebte ich Märchen. Vor allem solche, in denen der Held mutig in die weite Welt auszog, um etwas Neues zu entdecken. Ich beneidete Hans im Glück um seine Freiheit, freute mich für den Sohn des Müllers, der mit Hilfe des gestiefelten Katers die Prinzessin und das halbe Königreich eroberte, bewunderte das Aschenputtel, das trotz des Verbotes ihrer Stiefmutter auf den Ball ging. Ich stellte mir jedes Mal vor, wie es wäre, einfach ohne Ziel und vor allem ohne lähmende Angst loszugehen und das Leben einfach, so wie es ist, auf mich zukommen zu lassen. 

Und hier holt mich meine eigene Geschichte ein. 1969, als die Grenzen nach der Zerschlagung des Prager Frühlings noch offen waren, nützte ich die Lücke im Stacheldraht und reiste für drei Monate nach London. Ich war damals jung und unerfahren und vielleicht lief gerade deswegen alles wie am Schnürchen. Nicht nur, dass ich mein Englisch verbesserte, ich traf interessante Menschen, machte Erfahrungen mit Geschichte, Religionen, Kultur und Bräuchen.

Und was für ein Glück! Am 5. Juli, ich war gerade seit ein paar Tagen in der Stadt, gaben die Rolling Stones im Hyde Park ein kostenloses Freiluftkonzert, an dem geschätzt bis zu eine halbe Million ZuschauerInnen teilgenommen haben. Ich war eine davon, stand mit einer Freundin ganz hinten, sah Mick Jagger in seinem weißen Anzug singen und mit der Mikrofonstange in der Hand herumspringen und hüpfte im Rhythmus begeistert mit. Die ansteckende Fröhlichkeit verfehlte nicht ihr Ziel. 

Ich war von London begeistert. Von den Menschen, von der Architektur, Kunst; sogar die Royals hinter den Mauern des Buckingham-Palasts entfachten mein Feuer für Märchen und nährten die Sehnsucht nach mehr. Ich wollte die weite Welt erkunden, alles sehen, alles kennenlernen.

Und obwohl ich schon damals spürte, dass das totalitäre System in meinem Land nicht die Regierungsform war, die mir behagte, stand für mich am Ende des Sommers außer Frage, dass ich in meine angestammte Heimat zurückkehren und vorerst studieren würde. Ich fühlte mich als Mensch noch nicht reif genug, um irgendwo ganz allein neu anzufangen und mein Leben abseits von Familie und FreundInnen zu führen. Aber der Keim der Freiheit war gesät und gedieh mit den Jahren immer mehr.

Und irgendwann war es tatsächlich so weit. Ein Diplom in der Tasche, der Kopf voller Träume. Das Abenteuer rief. Ein Prinz, nicht gerade der auf dem weißen Pferd, sondern in einem mit ein paar Rostflecken dekorierten R4, fragte mich, ob ich den Rest des Weges mit ihm gehen wolle und holte mich in sein Leben in Österreich ab. Als sich der Grenzbalken, der sozialistische Wall, der vorgab, uns vor imperialistischen Versuchungen zu schützen, für uns öffnete, empfand ich eine bis dahin nicht gekannte Freiheit. Das Kribbeln, das ich seit London kannte, stellte sich wieder ein. Doch das Gefühl des Freiseins gehört gelernt und schwankte zu Beginn in mir wie ein Matrose im Sturm auf dem Ozeankreuzer.  

Das neue Leben, die neue Liebe, die neue Familie, all das kam fast zu schnell. Ich erfreute mich an meinen kleinen, alltäglichen Freiheiten, bereiste mit meinem neuen Pass ein paar Nachbarländer, aber ich machte mir weiterhin Sorgen um meine in der Tschechoslowakei gebliebene Familie und Freunde, die von Verboten, Beschränkungen und Einschüchterungen durch die politische Obrigkeit sprachen. Der Besuch meiner alten Heimat war immer ein Ausflug ins Ungewisse. „Werden wir noch zurückkehren können?“, fragte ich mich immer wieder.

Und dann kam der Herbst 1989 und mit ihm die vollen Züge mit den DDR-BürgerInnen, die in der deutschen Botschaft in Prag Schutz suchten. Die Welt hielt kurz den Atem an. Würde es den Menschen gelingen, die kommunistischen Diktatoren zu stürzen und die Gesellschaft neu zu ordnen? Ja, es gelang. Und es ging sehr schnell. Schlag auf Schlag. Europa öffnete alle Grenzen, die Mauer fiel, der Stacheldraht wurde durchgeschnitten und in Stücken als Souvenir davongetragen. Václav Havel, der ehemalige Dissident, Autor und Dramatiker, wurde zum ersten, frei gewählten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik.

Aber das echte Freiheitsgefühl stellte sich erst dann ein, als die Rolling Stones Interesse zeigten, in Prag aufzutreten. Nachdem Václav Havel die legendäre Rockgruppe eingeladen und diese die Einladung nicht nur angenommen, sondern sich sogar bereit erklärt hatte, auf das Honorar zu verzichten, wurden die Verträge mit ihnen unterzeichnet. 

In der Stadt, die keinerlei Erfahrung mit Events in solcher Größe hatte, brach ein kreatives Chaos aus. Bei den Vorbereitungen, die etwa vier Monate dauerten, halfen viele einflussreiche Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben mit. Věra Čáslavská, die berühmte Kunstturnerin und Olympiasiegerin, verhandelte die Vermietung des Stadions Strahov, wo früher nur politisch motivierte Massensportveranstaltungen (wie die Spartakiade) stattfanden. Der Bürgermeister Jaroslav Kořán übernahm die Kommunikation mit Sicherheitskräften der Polizei und den Verkehrsbetrieben, die Sonderbusse und -züge einrichteten.

Die auch in den sozialistischen Ländern äußerst beliebte Gruppe, deren Schallplatten früher nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich waren und die jeder, der das Glück hatte, sie zu besitzen, wie einen Schatz hütete und für Freunde als Tonbandaufnahmen kopierte, kam am Vortag an. Ein Bad in der Menge während des Stadtrundgangs musste sein. Genauso wie der Empfang in der Präsidentenresidenz, zu dem die First Lady Olga Havlová einlud. Keith Richards lobte das tschechische Bier, Mick Jagger den Wein. Und es gab auch Geschenke. Václav Havel bekam von den Rolling Stones eine Jacke mit ihrem Logo auf dem Rücken, der herausgestreckten Zunge. Das Symbol der Freiheit, das die Welt angrinste und die Düsternis der Totalität vertrieb.

Bei der Pressekonferenz sagte der Frontmann der aus der englischen Stadt Dartford (Kent) stammenden Gruppe in die Kameras: „Hi, I am Mick Jagger.“ Und weil er selbst große Freude an dem neuen Konzertort mitten in Europa fand, fügte er auf Tschechisch hinzu: „Kameny se valí do Prahy.“ (Die Steine rollen nach Prag.) Schließlich lächelte er, als er wieder ins Englische wechselte: „I’ll be singing there.“

Das legendäre Konzert fand am 18. August 1990 statt. Es war das Jahr der ersten freien Wahlen im Land, der Demokratisierung der politischen Strukturen und des Alltagslebens sowie des kulturellen Aufbruchs. „Die Stones sind vom Sternenhimmel zu uns herabgestiegen“, verkündete Havel feierlich vor dem Konzert vor über 100.000 ZuschauerInnen, und die Masse jubelte ihm zu. Die Karten, die damals 250 tschechoslowakische Kronen kosteten, waren innerhalb weniger Tage ausverkauft. Obwohl sie für tschechoslowakische Verhältnisse sehr teuer waren, da sie ca. zehn Prozent des durchschnittlichen monatlichen Bruttogehalts betrugen, reisten Tausende Fans aus allen Landesteilen und dem benachbarten Ausland an.  

Das Konzert, das als Ende der kommunistischen Ära verstanden wurde, war der Start der kulturellen Revolution in den ehemaligen Oststaaten. Der Slogan „Tanks are rolling out, the Stones are rolling in“, der auf allen Plakaten aufgedruckt war, brachte es auf den Punkt. Der Drang nach Freiheit war nicht mehr aufzuhalten. Wie heißt es so schön? Manche Märchen werden wahr. ● ○