Cancel Culture

Aggressionsschübe


Bedroht die sogenannte „Cancel Culture“ die Freiheit der Kunst? Angesichts diverser Appelle und offener Briefe könnte man das vermuten. Doch ist die Angelegenheit nicht etwas komplexer?

Die Lage ist ernst, wenn nicht gar bedrohlich. „Absagen, löschen, zensieren: Seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt.“ Folgendes wurde beobachtet: „Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.“ Nicht weniger als die demokratischen Prozesse selbst seien in Gefahr. So heißt es zumindest in einem offenen Brief unter dem Titel „Appell für freie Debattenräume“, der im vorigen Herbst im deutschsprachigen Raum für Diskussionen sorgte. Unterzeichnet wurde er von zahlreichen Prominenten, unter anderem dem Philosophen Robert Pfaller, dem Schriftsteller Ilija Trojanow, der Literatin Monika Maron sowie der Publizistin Necla Kelek. Über 18.000 Namen umfasst die Liste derer, die den Appell unterschrieben haben, zumindest laut ihren Initiatoren, den Autoren Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser. 18.000 Menschen, die offensichtlich die Freiheit der Kunst bedroht sehen. 

Verlust der Utopien?

Vor einer vermeintlich übertriebenen Präsenz von Frauen warnte kürzlich der Romancier Thomas Hettche in der deutschen Zeit. Museen entschieden neuerdings über ihre Hängung „programmatisch nach dem Geschlecht“. Tatsächlich: Viele Häuser zeigen mehr Werke von Künstlerinnen als zuvor. Das bedeute laut Hettche nichts anderes „als die Preisgabe des Kriteriums der Qualität“. Dadurch gehe „das utopische Potenzial der Kunst verloren, das in der Erfahrung des Gelingens selbst liegt. Und es ist diese Erfahrung, die das Freiheitsversprechen der Kunst bringt.“ 

Als im Vorjahr ein Literaturfestival, das über die Grenzen Hamburgs kaum bekannt ist, die Kabarettistin Lisa Eckhart auslud, weil angeblich scharfe Proteste angekündigt waren, sahen Kommentatorinnen und Kommentatoren quer durch die Feuilletons die Kunstfreiheit gefährdet. Tatsächlich agierten die Verantwortlichen ziemlich ungeschickt. Aber ihnen gleich Zensur vorzuwerfen, wie es viele taten, scheint dann doch übertrieben. Ebenso wie in zwei anderen Fällen. Nämlich, als die Hochschülerschaft der Berliner Alice Salomon Hochschule entschied, ein Gedicht von Eugen Gomringer zu ersetzen (aus schwer nachvollziehbaren Gründen hatte man es als sexistisch eingestuft) und als die Manchester Art Gallery John William Waterhouses schwülstiges Gemälde „Hylas und die Nymphen“ aus dem späten 19. Jahrhundert abhing: Beide Vorfälle wurden als Einschränkung der künstlerischen Freiheit wahrgenommen. Dass es sich in letzterem Fall um genau das Gegenteil davon handelte, weil die temporäre Entfernung des Gemäldes Teil einer Arbeit der Künstlerin Sonia Boyce war, ging in der Aufregung unter. Auf der Universität für angewandte Kunst in Wien gab es 2019 Streit: Studierende wollten einen Vortrag der bekannten deutschen Feministin Alice Schwarzer verhindern, mit Verweis auf die Wortmeldungen der streitbaren Autorin zum Islam. Auch hier entbrannten wilde Debatten, Vorwürfe der Zensurwut standen im Raum – gerade so, als wäre es ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, dass auf Unis protestiert wird. 

Erfolgreich gecancelt

Viele Fälle scheinen tatsächlich schwer begründbar. Wenn etwa US-amerikanische Museen eine Ausstellung des Malers Philip Guston auf Eis legen, weil seine Gemälde – die sich tatsächlich gegen Rassismus richten – als rassistisch empfunden werden. Wenn einer weißen Künstlerin das Recht abgesprochen wird, einen von Polizisten ermordeten Schwarzen zu malen. Und, ja, wenn Lisa Eckhart von einem Festival ausgeladen wird, weil man die Sicherheit der Anwesenden bedroht sieht. All das sind Vorgänge, die man kritisieren und hinterfragen kann und muss. Doch ob deswegen gleich die in der Verfassung garantierte Freiheit der Kunst in Gefahr ist?

Der mittlerweile etwas abgenutzte Begriff der Political Correctness, der längst nur noch als Schimpfwort eingesetzt wird, wurde in Zusammenhang mit diesen Debatten ersetzt durch den der Cancel Culture: Er besagt, dass Künstler und Wissenschaftlerinnen systematisch boykottiert werden, im Extremfall bis zur Bedrohung ihrer ökonomischen Existenz. Kurioserweise ist in Fällen von angeblicher Cancel Culture zumeist genau das Gegenteil der Fall: Lisa Eckhart wurde in Talkshows eingeladen und interviewt wie nie zuvor, Eugen Gomringers Gedicht wurde in den Medien zitiert wie kaum je ein Poem, und das Gemälde „Hylas und die Nymphen“ von Waterhouse, der zuvor bestenfalls Expertenkreisen bekannt war, zeigten Medien rund um den Globus.

Auffällig ist zudem, dass jene, die Petitionen „gegen Zensur“ oder gegen den „Ungeist der Kultur-Taliban“ unterzeichnen, häufig eher nicht zu den Marginalisierten zählen. Wenn Thomas Hettche in der Zeit dunkle Zeiten für die Kunst heraufdräuen sieht, dann zitiert er eine ganze Reihe von Personen – aber darunter keine einzige Frau. Jene, die den „Appell für freie Debattenräume“ unterzeichnet haben, sind mehrheitlich männlich. 

2015 forderten Studierende der Universität Oxford, die Statue des Unternehmers Cecil Rhodes vom Campus zu entfernen. Rhodes gilt als Vater der südafrikanischen Apartheid. Selbstverständlich wurde ihnen umgehend vorgeworfen, die Redefreiheit zu verletzen. Die britische Journalistin und Essayistin Reni Eddo-Lodge, die den Fall in ihrem Buch „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“ 2017 schilderte, folgerte völlig zu Recht: „Den Widerstand gegen antirassistische Reden und Proteste als einen edlen Kampf um Redefreiheit zu verkaufen, ist eine Strategie, um Weiße vor Kritik zu schützen. Manche Weiße scheinen zu glauben, dass der Vorwurf des Rassismus viel schlimmer als der Rassismus selbst ist.“ 

In eine ähnliche Kerbe schlägt die in Baden geborene Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, wenn sie dafür plädiert, dass das Karl-Lueger-Denkmal am gleichnamigen Platz in der Wiener Innenstadt gestürzt werden oder die Operette „Der Zigeunerbaron“ für zwei Jahrzehnte in der Schublade verschwinden solle. In einem Videotalk der Tageszeitung Der Standard antwortet sie auf die Frage, ob sie sich damit nicht der Cancel Culture verdächtig mache und Gegenproteste provoziere: „Das ist doch süß! Ich sage das, das ist eine Stimme, die habe ich und die verwende ich. Das heißt nicht, dass das passiert! Das ist so ein magisches Denken. Ich finde es ganz entzückend, dass das nun solche Aggressionen auslöst.“ Derartige Aggressionen entstünden, so Streeruwitz’ Beobachtung, „um die Argumente so wegschieben zu können, emotional, dass man sich überhaupt nicht drum kümmern muss“. Ihr Nachsatz: „Das ist aber auch canceln.“

Doch ob deswegen gleich die in der Verfassung garantierte Freiheit der Kunst in Gefahr ist?

Zivilisatorischer Fortschritt

Spricht es nicht für den Fortschritt unserer Zivilisation, dass einigermaßen breit über Themen diskutiert wird, die früher bloß eine Randnotiz gewesen wären? Vor zwanzig Jahren hörte kaum jemand die Anliegen von queeren Personen, war es ziemlich egal, wenn kaum Künstlerinnen in Museen gezeigt wurden oder als Regisseurinnen in Theatern wirkten, führten rassistische Untertöne kaum dazu, dass Operetten oder Theaterstücke auf dem Prüfstand waren. Dass heute darüber gesprochen und, ja, bisweilen überschießend, gestritten wird, sollte eigentlich gerade jene freuen, die ansonsten so erbittert die Cancel Culture bekämpfen. Denn das erweitert den Blick auf die Kunst, deren Freiheit sie – zu Recht! – stets beschwören: Vielfalt lautet das Stichwort.

Anderswo, auch in Europa, ist die Freiheit der Kunst tatsächlich unter Druck, drohen Unangepassten echte Repressalien, werden unbotmäßige Kulturmanagerinnen und -manager eiskalt ausgetauscht. Eine Bedrohungslage, die stärker in den Fokus rücken sollte als die Furcht vor Cancel Culture. ● ○