Standpunkte

Wie hat Corona die Zivilgesellschaft verändert?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage.

Es ist Gefahr im Verzug

Die Zivilgesellschaft zeichnet sich durch hohe Aufmerksamkeit, Kritikfähigkeit und das Bekenntnis zu Solidarität aus. Alle, die zivilgesellschaftlich aktiv sind, sind in dieser Zeit hellwach, auch wenn sie manchmal erschöpft sind. Das ist wichtig, denn es ist Gefahr im Verzug. Corona verstärkt die Spaltung in der Gesellschaft. Die soziale Schere ist unglaublich aufgegangen. Auch die Internationalisierung – im Negativen die Globalisierung – ist in hohem Maße erschüttert.

Es geht nicht nur um die körperliche, sondern auch um die psychische Gesundheit der Gesellschaft. Die Zeit des Lockdowns hat gezeigt, wie wichtig städtische Freiräume für alle sind – für unser Zusammenleben, für Auseinandersetzung, die Begegnung mit Neuem und Unerwartetem, nicht zuletzt für Gesundheit, Rückzug, Ausgleich und Abwechslung. An der Uni arbeiten wir an Projekten, die selbst in der kalten Jahreszeit städtische Freiräume neu nutzen und wiedererobern. Es ist problematisch, dass sich privilegierte Leute aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Die Immobilienpreise für Einfamilienhäuser an der Peripherie steigen stark, weil privater Freiraum als existenzielle Notwendigkeit wahrgenommen wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass es zwar schön ist, mit Familie und Freunden im Garten zu sitzen, dass das aber nicht öffentliches Leben ist. Die ganze Situation hat etwas Schreckliches, Beunruhigendes und traurig Machendes. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir als Zivilgesellschaft aktiv werden, sodass wir nicht dümmer aus der Situation aussteigen, als wir sie betreten haben.

Die Zivilgesellschaft ist aufgewacht

Corona hat viele traditionelle Strukturen aufgezeigt, von denen wir gedacht haben, sie seien überwunden. Die Zivilgesellschaft hat die Chance genutzt, diese Themen aufzugreifen. Sie ist aufgewacht und hat gezeigt: So geht’s nicht mehr! Vor allem die sind laut geworden, deren Leben sich stark verändert hat; und neue Gruppen sind entstanden. Es gab Petitionen der Corona-Eltern. Die Behindertenverbände haben sich zusammengetan, weil sie gemerkt haben, dass sie mit einer Stimme sprechen müssen. Es ist ihnen gelungen, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Und es haben sich Leute organisiert, um füreinander einzukaufen.

Nicht so gut konnten Frauenverbände auf sich aufmerksam machen. Das Frauenthema wurde zuerst auf Gewalt reduziert. Frauen, die mit beiden Beinen in der Arbeitswelt stehen, sind im Lockdown alle Strukturen weggebrochen. Von der Gleichberechtigung war nicht mehr viel übrig. Schwer hatten es auch Menschen mit Fluchthintergrund. Im Lockdown gab es nicht viel zu ihrer Stärkung. Viele Einrichtungen waren zugesperrt. Wir haben unser Diversity Café ins Internet verlagert, was nur teilweise funktioniert hat: Manche haben keinen Laptop oder kein Internet, und es gab sprach­liche Probleme. Corona hat gezeigt, wie wichtig Zivilgesellschaft für das demokratische Zusammenleben ist. Sie ist für die Politik wichtig, denn sie zeigt auf, wo es Minderheiten schlecht geht. Deshalb muss sie gehört und ernst genommen werden. Und sie braucht Räume für Treffen, Austausch und um Pläne zu schmieden.

Bildungsferne bleiben über

Ich bin um die Zivilgesellschaft sehr besorgt. Es verlagert sich nur ein Teil der zivilgesellschaftlichen Tätigkeiten ins Internet. Vor allem Bildungsferne, die oft kein WLAN haben, technisch nicht versiert sind oder zuhause keinen Ort haben, wo sie ungestört sind, bleiben über. Wir haben Volkshochschulkurse online angeboten. Das hat gut funktioniert, aber nur für Menschen mit Bildung und Zugang zur Technik. Corona hat auch bei unserem Lehrgang der Akademie der Zivilgesellschaft, wo Menschen mit Gründergeist zivilgesellschaftliche Projekte umsetzen, eine Bremse eingebaut. Im Frühjahr haben wir den Lehrgang online abgeschlossen, aber der nächste Start ist unsicher, weil es den Teilnehmenden wichtig ist, sich persönlich auszutauschen.

Von denen, die ehrenamtlich tätig sind – sei es in der Freiwilligen Feuerwehr, in Gemeindeämtern, Sportvereinen, für die Kirche oder im Urbanen – fallen jetzt viele raus, die das bisher persönlich organisiert haben. Ein sehr kleiner Teil der Aktivitäten verlagert sich in private Räume. Aber die meisten warten ab. Dazu kommen bei vielen Engagierten Existenzsorgen. Ich bin aber froh, dass Einrichtungen wie aufstehn.at online so gut aufgestellt sind. Ich finde es schade, dass die politischen Parteien die Zivilgesellschaft zu wenig einbinden. Die Leute sollten die Möglichkeit haben, ihre Ideen stärker einzubringen. Es braucht jetzt neue Foren und Formate dafür – der ORF oder andere Sender könnten sich da etwas einfallen lassen.