Sie ist 17, klein, mit ihren Zöpfen wirkt sie viel jünger als sie ist, hat aber eine feste Stimme, spricht ein exzellentes Englisch und organisiert Schülerstreiks, „Fridays for Future“, an denen Kinder für ihre eigene Zukunft demonstrieren. Greta Thunberg, die nach einer coronabedingten Pause wieder da ist, tritt bei Klimakonferenzen auf, fordert die „grauen Männer“ in Anzügen auf, „in Panik zu geraten“*, weil die Erde in Flammen steht. Die junge Schwedin nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Und die Menschen im Publikum spenden Beifall, lächeln freundlich, lassen das tapfere Mädchen erzählen, sich aufregen, bewundern die Kleine, die sich etwas traut. Durch die Medien kreisen Botschaften, dass hinter allem nur eine ausgeklügelte PR und ihre geschäftstüchtigen Eltern steckten, die das arme Kind pushten und an den Aktivitäten ihrer Tochter mit dem Asperger-Syndrom viel Geld verdienten. Als sie acht ist, sieht Greta Thunberg einen Dokumentarfilm, in dem Umweltverschmutzung und Tierquälerei drastisch zu sehen sind, und prompt hört sie zu essen auf, spricht nicht mehr, zieht sich aus der Welt der Erwachsenen zurück, die ihrer Meinung nach den Planeten ruinierten. An diesem Tag fasst sie Mut, erkennt den Sinn ihres jungen Lebens. Sie will unbedingt etwas unternehmen. Und sie tut es.
Greta fährt am Kontinent stets mit der Bahn; sie überquert mit einer Sportjacht, die mit Solarpanelen angetriebenen wird und einem jungen monegassischen Adeligen gehört, den Ozean, sie ernährt sich vegan, und es erheben sich schon wieder kritische Stimmen, weil das Essen auf der Jacht angeblich in Plastik verpackt war und sich nicht alle eine Überfahrt mit einer Luxusjacht leisten können, am allerwenigsten die armen Pendlerinnen und Pendler, die täglich viele Kilometer in die Arbeit fahren müssen. Die reichen Prominenten sammeln Geld zur Klimarettung bei Charity-Events, spenden großzügig, und während sie sich an Austern, Kaviar und Champagner laben und possierlich in die Kameras lächeln, warnen sie gleichzeitig vor einer Klimahysterie, die unaufhörlich um sich greife. Noch schnell ein Anruf, der Chauffeur wartet draußen bei laufendem Motor, der Privatjet bringt einen zum nächsten wichtigen Termin, bei dem es natürlich um die Rettung der Erde geht. Man kann zu Greta stehen, wie man will, man kann sie lieben oder hassen, aber eines steht fest: Das kleine Mädchen aus dem Norden spricht etwas an, das uns alle angeht. Der Warenverkehr nimmt immer mehr zu. Wenn ein Produkt entsteht, wandert das Material dreimal um die Welt (hier wird es gewebt, dort genäht, zum Färben in ein drittes Land geschickt, und auch die Etiketten müssen irgendwo angebracht werden), verpestet die Luft und die Meere. Die Nerven der Sattelschlepper-Fahrer, die unzählige Kilometer über den Asphalt rollen, und der Menschen, die in der Nähe der Autobahnen und Flughäfen wohnen und an Lärm und Gestank leiden, liegen blank.
Und schon wieder fährt ein Lkw vorbei. Die Konsumentin, der Konsument entscheidet. Verlockend ist der Preis. Der Griff zum Billigprodukt aus Übersee oder zu Erdbeeren und Weintrauben im Winter ist schnell getan. In der Gemüseabteilung liegen neben den Plastikbeuteln, die ab sofort ein paar Cent kosten, auch Gratis-Papiersäcke bereit. Wir produzieren weniger Müll, ist man schnell geneigt zu denken, und ist stolz auf die eigene, fortschrittliche Gesinnung. Die kleinen Bäckereien sterben aus, Großproduzenten bringen das Gebäck bis in die letzten Winkel des Landes. Das tägliche Brot erinnert nicht im geringsten an die ehrliche Krume, wie man sie aus der Kindheit kennt, es ist flaumig, billig, am nächsten Tag hart oder gummig, mit einem Wort nicht mehr genießbar, das macht aber nichts, die Frischlieferungen kommen jeden Morgen.
Und schon wieder fährt ein Lkw vorbei. „Ich koche saisonal und regional“, höre ich manchmal jemanden erzählen und entdecke in seinem / ihrem Einkaufswagen argentinisches Rind, ukrainisches Huhn, chinesische Datteln oder brasilianischen Knoblauch. Oft können wir es uns kaum aussuchen. Die großen Supermarktketten bestellen billige Ware, stapeln in den Regalen Äpfel und Birnen aus Südafrika, im besten Fall aus Spanien oder Holland, während die heimischen Obstproduzenten auf ihren Erzeugnissen sitzen bleiben.
Und schon wieder fährt ein Lkw vorbei. Ein kleines, zierliches Mädchen wird die Erdkugel nicht neu erfinden. Aber dass es nicht wie andere Kinder in die Schule geht, mit Freundinnen zu den Jungen schielt und über sie tuschelt, sondern demonstriert, gegen die Weltklimakatastrophe sowie jene, die sie verursachen, die Stimme erhebt und scheinbar ungeheuerliche Thesen von sich gibt, sagt einiges aus. Ziel ist es nicht, dass die Jugend jeden Freitag streikt und die Schule schwänzt, sondern dass die Menschheit aufhorcht. Den wissenschaftlich belegten Klimawandel kann man nicht mehr wegleugnen. „Nur ein halbes Grad noch bis zur Katastrophe / Die Welt singt schon die letzte Strophe“, diese Zeilen fügte die Band 2raumwohnung ihrem 2007 herausgekommenen Hit „36 Grad“ hinzu. Die Natur verändert sich, Bäume beginnen schon im Februar zu blühen, Orkanstürme reißen die Dächer von den Häusern ab, abgegangene Muren versperren die Straßen, nicht alle Zugvögel fliegen im Winter in den Süden. „Weiter, weiter, weiter / Gebt alles und mehr als ihr könnt / Keiner weiß, was gleich passiert / Doch jeder weiß, hier, das ist die Luft, die brennt“, singen 2raumwohnung.
Die Welt braucht Rebellen, die aufzeigen, Rebellinnen wie Greta. Die Welt braucht Schutz, um die Luft, Wälder und Flüsse für uns alle rein zu halten. Den Schutz, den nur wir ihr geben können. Der Winter kommt, der warme Süden winkt. Auf der Landkarte sind noch viele weiße Flecken, die es zu besichtigen gilt. Malediven, Seychellen, Patagonien. Wenn nicht gerade ein Virus die Menschheit in Atem hält, stehen jeden Tag Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe, Busse und eigene Pkws bereit. Wird es die dritte oder schon die fünfte Reise in diesem Jahr? Eines steht fest – das Ende der Welt wird nicht auf Knopfdruck passieren. Keiner dreht am Ende das Licht ab. Es wird noch eine Weile dauern, bis es nicht mehr geht. Und so wirtschaften wir mit unserer Zeit, die teurer ist als alles andere, was wir besitzen, obwohl sie uns keiner verkauft hat. Sie ist ein Geschenk. Deshalb warten wir nicht länger, denn schon wieder fährt ein Lkw vorbei.● ○
*Zitat aus Gretas Rede in Davos