Company Ich bin O.K., „Un/gleich, aber jeder möchte“, Probe
© Jakob Hesky
Company Ich bin O.K., „Un/gleich, aber jeder möchte“, Probe

Partizipation im Tanz

Performative Einsprüche


Der Tanz ist eine wenig wortgewaltige Kunst. Seine Möglichkeiten, zivilgesellschaftlich zu wirken, wurden daher lange Zeit unterschätzt. Doch das ändert sich gerade: Protest und Partizipation haben Einzug gehalten.

Acht Stunden täglich stand der Tänzer und Choreograf Erdem Gündüz am Taksim-Platz in Istanbul und blickte auf das Atatürk-Kulturzentrum. Es war das Jahr 2013, rund um ihn tobten die Gezi-Park-Proteste. Seine Aktion mit dem Titel „Standing Man“ galt binnen kürzester Zeit weltweit als Ikone des Widerstands. Das Signal, das er setzte, wirkte durch die choreografischen Mittel der Stilllegung von Bewegung sowie der Positionierung und Ausrichtung seines Körpers: Im öffentlichen Raum können solche Unterbrechungen innerhalb eines allgemeinen Bewegungsflusses ebenso irritierend wirken wie Abweichungen vom normalen Verhalten der Menge auf den Straßen und Plätzen.

Drei Jahre später war es die afroamerikanische Krankenschwester Ieshia Evans: Das Foto ihres Protests gegen Polizeigewalt in Baton Rouge, Louisiana, ging um den medialen Globus. Fotos zeigen, wie die junge Frau ganz ruhig dasteht, während Polizisten in schweren, schwarzen Sicherheitsrüstungen auf sie zustürmen. Evans war zwar nicht Teil einer Kunstaktion, wurde aber trotzdem zu einer Symbolfigur der US-amerikanischen Protestkultur.

Noch bekannter ist Greta Thunbergs „Skolstrejk för klimatet“ im August 2018 vor dem schwedischen Reichstag in Stockholm. Das Bild der damals 15-jährigen Schülerin mit ihrem Plakat ist mittlerweile weltweit im kulturellen Gedächtnis verankert. Auch Thunberg ist keine Künstlerin. Doch sie hat mit Gündüz und Evans den gewaltlosen Einsatz ihres Körpers im öffentlichen Raum gemeinsam: als performativen Einspruch mit hohem Aufmerksamkeitswert gegen Diktatur (Gündüz), Rassismus (Evans) und die Zerstörung des Lebensraums (Thunberg).

Das Protestfoto ging um den Globus.

Galionsfiguren

Die drei Beispiele zeigen, dass es weder eine künstlerische Ausbildung noch ausgefuchste PR-Profis braucht, um öffentliche Zeichen zu setzen, sondern medial transportierbares Charisma innerhalb eines Sinnzusammenhangs, der die Öffentlichkeit direkt anspricht. Entscheidend ist der Faktor Zeit. Das auf hohe Intensität ausgerichtete Spektakelsystem der Medien hält bekanntlich extrem kurze Halbwertszeiten für Heldinnen und Helden bereit. Thunberg wurde als Figur nur nachhaltig, weil die kindhaft charismatische Aktivistin immer weitere Setzungen vornahm. So entwickelte sich aus dem bloßen Bild ein Charakter, der eine größere Erzählung trägt – mit der sich die Öffentlichkeit weiterhin auseinandersetzt.

Im zivilgesellschaftlichen Zusammenhang spielt, aufgrund des schnellen Zerfalls der Aufmerksamkeit für Peak Performer, die konsolidierende Performance weniger hochgejazzter Personen oder Organisationen eine ebenso wichtige Rolle wie jene von „Galionsfiguren“. Gündüz, der Tänzer, geriet mangels eines griffigen Folgenarrativs bald wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Bereits seit den 1990er-Jahren gehören Setzungen außerhalb des geschützten Theaterraums zu den wichtigen Programmpunkten von Tanzfestivals. Die Sommerszene Salzburg unter der Intendanz von Michael Stolhofer rief 2002 eine „unabhängige Kunstrepublik“ aus, zwei Jahre später verlegte sich das Festival fast zur Gänze auf die Gassen, Plätze und Straßen von Salzburg. Dabei ging es gerade nicht um die ökonomische Aufwertung des Stadtraums durch ein „kulturelles Zusatzangebot“, sondern um das Aufbrechen von Verhaltensgewohnheiten – erst dadurch wurde die zivilgesellschaftliche Intervention als solche erkennbar.

Weil die Grenzen zwischen den Tanzbereichen durchlässiger geworden sind, konnte sich der genuin interdisziplinäre Tanz Erweiterungen schaffen, die dem Publikum einen entscheidenden Status innerhalb künstlerischer Arbeiten zugestehen. Ein besonders buntes Beispiel dafür sind die Arbeiten des Choreografen Sylvain Émard aus Montréal, der 2021 im Festspielhaus St. Pölten ein gemeinschaftliches Tanzerlebnis plant. Rund 150 Tanzfreudige sollen bei „Le Grand Continental XL“ unter der Anleitung von Profis auf dem Festspielhaus-Vorplatz zusammenwirken. In einem Interview sagte Émard: „Zu meiner Überraschung fiel mir auf, dass sich Menschen danach sehnen, in künstlerische Projekte involviert zu sein. Tanz ist dafür perfekt geeignet. Es gibt keine Sprachbarrieren, und Tanz ist trotz seiner spezifischen Ausprägungen universell.“ Nicht Irritation ist bei diesem Projekt das Ziel, sondern die Gestaltung von Lebenslust.

Die Grenzen sind durchlässiger geworden.

Öffentliche Kunstinterventionen, die sich außerhalb der Institutionen bewegen, sind enger an aktivistische Ziele gebunden. Die internationale Initiative One Billion Rising etwa versteht ihre Kundgebungen als „getanzten Protest“ gegen Gewalt an Frauen weltweit, weil Tanz, wie die Gruppe mitteilt, „Kraft gibt, im öffentlichen Raum ein Statement ist – und weil Frauen, die durch Gewalt traumatisiert worden sind, über den Tanz zu ihrem Körper zurückfinden können“. Am 14. Februar, dem Valentinstag, wird One Billion Rising alljährlich in ganz Österreich abgehalten; Interessierte können sich unter anderem am Museumsplatz in Krems beteiligen und zuvor an Tanzworkshops teilnehmen.

Hier wird auf die gemeinschaftsbildende Wirkung von Gruppentänzen beziehungsweise die Erweiterung des Individuums durch das synchrone Tanzen vieler zurückgegriffen. Die Choreografin und Tänzerin Aiko Kazuko Kurosaki leitet den österreichischen Zweig von One Billion Rising. Ihre Arbeit mündet immer wieder in aktivistische Setzungen, ob als Protest gegen die Wiederinbetriebnahme von japanischen Atomkraftwerken nach der Fukushima-Katastrophe oder eben in Zusammenhang mit One Billion Rising.

Emanzipation der Körper

Zivilgesellschaftliches Engagement findet beim Tanz etliche – auch partizipatorische – Verankerungspunkte, denen wachsende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die unterschiedlichen Ebenen tänzerischer Praxis können künstlerisch und aktivistisch sein, aber auch therapeutisch, didaktisch oder ritualistisch – und zudem sportliche, unterhaltende Bereiche umfassen oder bei Festen oder in Clubs zur sozialen Freizeitgestaltung zählen. Der künstlerische Tanz hat spätestens seit den 1990er-Jahren immer wieder Körper thematisiert, die als „außerhalb der Norm“ befindlich angesehen werden.

In den Arbeiten von Vera Rosners lokaler DanceAbility-Initiative oder der Company Ich bin O.K. unter der Leitung von Hana und Attila Zanin mündet der Tanz in aktivistische künstlerische Formen mit dem Ziel der Emanzipation von Körpern, die als „behindert“ gelten. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet ist der US-amerikanische Tänzer Alito Alessi, dessen Workshops auch Rosner besucht hat. Er unterrichtet seit 1996 die inklusive DanceAbility-Methode, die aus den Tanzimprovisationen der frühen Postmoderne – etwa des Judson Dance Theater und der Grand Union in New York – entwickelt wurde und heute weltweit maßgeblich für gemeinsames Tanzen von Menschen „mit“ und „ohne“ Behinderungen ist. Diese Initiativen haben die Möglichkeit dafür geschaffen, dass heute Choreografierende wie Doris Uhlich in Österreich („Every Body Electric“, 2018) oder Jérôme Bel in Frankreich („Disabled Theater“, 2012) mit körperlich oder geistig besonderen Performern arbeiten können.

Tanz mündet in aktivistische Formen.

Bundesministerium für Bewegungsangelegenheiten

Andere Positionen bauen zwar kein choreografisches „Habitat“ der körperlichen Inklusion wie Uhlich, aber sie beteiligen Publikum und nichtprofessionelle Performerinnen und Performer, um das zivilgesellschaftliche Bewusstsein hinsichtlich des Zusammenlebens mit nichteuropäischen Menschen herauszufordern. So etwa die aus dem Kongo stammende Künstlerin und Choreografin Elisabeth Bakambamba Tambwe. Sie gastierte 2016 beim Donaufestival. Eine ihrer jüngeren Arbeiten, „Jeanne Dark“, 2019 im Brut Wien aufgeführt, kreist um die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc. In Bakambamba Tambwes Werk spiegeln sich die Verhältnisse zwischen Afrika und Europa, die Brüche in den Codes der europäischen Kultur und die Verzerrungen der Repräsentation von afrikanischen Körpern.

Ähnliche Kontexte bearbeitet die aus Chile beziehungsweise Mexiko stammende Wiener Choreografin Amanda Piña. Ihre Arbeiten entsprechen einem Konzept, das auf die Folgen des europäischen Kolonialismus gerichtet ist. Sie hat – zusammen mit dem bildenden Künstler und Filmregisseur Daniel Zimmermann – das „Bundesministerium für Bewegungsangelegenheiten“ gegründet, leitet ein Langzeitprojekt mit dem Titel „Endangered Human Movements“ und bespielt in Wien einen Kunstraum, das nadaLokal. In Arbeiten wie „Danza y Frontera“ oder „Climatic Dances“ gelingt es Piña, ihren Aktivismus eng und schlüssig mit künstlerischer Produktion zu verbinden. Sie reist und recherchiert zwischen Österreich und Mexiko, Rapa Nui sowie Chile. In ihren Choreografien stellt sie die mythologischen Strukturen indigener Kulturen in Bezug zu deren Vernichtung durch die globalisierte Ökonomie, der jüngsten Ausformung des industriellen Kolonialismus.

Dabei gelang es ihr gar, Heinz Fischer in eine ihrer Performances zu involvieren. 2013 trat der damalige Bundespräsident im Kurzfilm „Go and Talk to Your Government“ auf, den sie gemeinsam mit Zimmermann drehte. Der Tanz durch die Institutionen hat begonnen. ● ○