Landestheater Niederösterreich
© Alexi Pelekanos
Landestheater Niederösterreich

Landestheater Niederösterreich

Erfahrungsraum Demokratie


„Theater sind Erfahrungsräume für Demokratie, laden zum Gespräch ein.“ Das sagt Marie Rötzer, Intendantin des Landestheaters Niederösterreich, im Interview mit Petra Paterno (ab Seite 41). Diese Beobachtung steht in besonderem Zusammenhang mit der Geschichte des von ihr geleiteten Hauses: Seine Gründung entstand auf Initiative des St. Pöltner Bürgertums, das mit Adeligen und Geistlichen an einem Strang zog. Vor 200 Jahren, am 26. Dezember 1820, wurde das Theater eröffnet. Aus diesem Grund widmet morgen sein Special diesem Haus, das sich zahlreicher Auszeichnungen erfreut: 2019 wählte die New York Times Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ in der Regie von Nikolaus Habjan unter die europaweit besten Theaterinszenierungen; die diesjährige Nestroy-Jury bedachte das Haus gleich zweifach. Lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie es sich hier arbeitet, wie ein Bürgertheater im 21. Jahrhundert aussehen kann und warum sich das Landestheater international verankert.

Landestheater Niederösterreich

Bühnenarbeit


Das Team des Landestheaters besteht aus rund hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Nur die wenigsten von ihnen bekommt man allerdings auf der Bühne zu Gesicht. morgen traf vier Personen, die on und off stage arbeiten – und ließ sich von ihnen erzählen, was sie tun und warum sie ihre Arbeit schätzen. Eins wurde jedenfalls klar: Die Leidenschaft fürs Theater teilen sie.

Irene Schiller, Leitung Kostümwesen

Ich arbeitete im Modebereich und war lange selbstständig. Relativ früh kam ich mit Theatermenschen, Regisseuren und Kreativen zusammen. Die Kunst fasziniert mich von Jugend an, und dabei ist es geblieben. Mit Assistenzen hat es begonnen, und bald hatte ich eine eigene Werkstätte. Jahrelang war ich bei André Heller engagiert, rückblickend eine sehr tolle Zeit. In meiner Jugend war ich in Frankreich für eine Agentur mit dem Schwerpunkt Oper tätig, mit Produktionen quer durch Europa. Danach arbeitete ich viel für das Theater an der Wien und bildete auch Leute in meinem Atelier aus – eine schöne Aufgabe! Irgendwann kam eine Anfrage, ob ich mir vorstellen könnte, am Landestheater Niederösterreich die Kostümabteilung zu leiten. Ich bin jetzt acht Jahre hier und erlebe nun die zweite Intendantin. Dieses Haus ist faszinierend – gleichzeitig klein und groß. Wir versuchen alles, um die Kostümbildner-Entwürfe umzusetzen. Meine Devise ist: Jeder Künstler, jede Künstlerin ist zu respektieren. Wenn ich aber bei einem Entwurf beispielsweise einwende, dass er zu überbordend ist, dann bieten kreative Menschen auch alternative Lösungen an. Junge Talente werden bei uns unterstützt. Ich arbeite gern im Team. Wir sind nicht sehr viele Leute, aber dafür sehr effizient. Und ich kann hier auch etwas weitergeben. Natürlich menschelt es.

Es braucht die Größe.

Aber wenn es ein Problem gibt, erhält man jegliche Unterstützung. Das hat mich auch an diesem Haus gehalten. Wir sind internationaler geworden, obwohl wir so ein kleines Haus sind. Es gibt auch sehr viele Kooperationen. Das finde ich schön. Genau das braucht es ja eigentlich: Es braucht die Größe, auch wenn man klein ist. ● ○

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Emmanuel Oguttu, Bühnentechnik

Ich komme aus Uganda, wo ich aufwuchs und studierte. Vor ungefähr vier Jahren kam ich nach Österreich. Zunächst arbeitete ich bei einer Eventagentur, die unter anderem große Konzerte veranstaltet hat, in Wien, aber auch in St. Pölten. Dann, vor zwei Jahren, kam ich ans Landestheater nach St. Pölten. Hier wurde ich als Bühnentechniker aufgenommen und lernte, wie ein Theaterbetrieb funktioniert. Beim Aufbau und bei den Proben entsteht ein Konzept, gemeinsam mit den Schauspielerinnen und Schauspielern. Woanders ist es oft so, dass sie erst dann dazukommen, wenn die Technik bereits fertig ist. Hier entsteht in dieser Zusammenarbeit ein sehr kreativer Vorgang. Vor einem Monat lernte ich bei den Vorbereitungen zu „Molières Schule der Frauen“, wie man die Drehbühne bedient. Das ist sehr interessant: Man wird Teil der Aufführung, indem man exakt im richtigen Moment die Drehbühne in Bewegung setzt. Alles verlief gut und nach Plan. Das Team hier ist mir gegenüber sehr hilfreich, und die Atmosphäre im Theater ist gut für jemanden, der etwas lernen will. In meiner früheren Arbeit war es oft hektisch. Natürlich wird es auch hier manchmal stressig, doch wir haben auch Zeit zum Nachdenken.

Man wird Teil der Aufführung.

Die Technik ist zwar immer im Hintergrund, aber ohne sie gäbe es keine Produktionen. Der Umgang im Landestheater ist sehr freundlich und respektvoll, man fühlt sich akzeptiert und kann frei seine Meinung sagen. Ich bin sehr glücklich in diesem Job. Ich bin auch Musiker – ich singe und spiele Gitarre. Jetzt komme ich allerdings nicht so oft dazu. Bevor ich nach Österreich kam, hatte ich eine Band. Eine umso schönere und positivere Erfahrung ist es für mich, jetzt auch von Berufs wegen mit Musik und Theater zu tun zu haben. Ich habe nie das Gefühl, mich überwinden zu müssen, wenn ich zur Arbeit gehe. Alles hier hat mit Kunst zu tun, und ich bin ein Teil davon. ● ○

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Sandra Fuchs, Publikumsdienst

Ursprünglich besuchte ich eine Handelsakademie, kam dann aber sehr schnell drauf, dass Gewinnmaximierung und Umsatzdenken eigentlich nicht so meine Themen sind. Dann startete ich mit einem Studium der Theaterwissenschaft. Währenddessen, im Herbst 2006, begann ich am Landestheater im Publikumsdienst. Mein Aufgabenbereich betrifft alles, wo es bei der Vorstellung direkten Kontakt mit dem Publikum gibt: Einlassmanagement samt Kartenkontrolle, Verkauf der Programmhefte, Betreuung der Publikumsgarderobe, bei Bedarf Bedienung des Rollstuhllifts. Auch Parktickets stempeln wir ab. Und wir sind zuständig für jegliche Fragen und Anliegen, die das Publikum ans Theater heranträgt. Nicht zuletzt müssen wir auch darauf achten, dass die Feuerpolizei- und die Sicherheitsbestimmungen im gesamten Haus eingehalten werden. Besonders natürlich jetzt während der Pandemie, aber auch schon vorher. Als Teamleiterin bin ich zuständig für die Erstellung der Dienstpläne, hole die zeitlichen Möglichkeiten des Teams ein und gebe die Pläne weiter an die Kollegin von der Lohnverrechnung. Wir sind insgesamt 16 Personen.

Es ist eine Zwischenposition.

Pro Vorstellung sind im Großen Haus acht von uns im Einsatz, in der Theaterwerkstatt zwei, heuer – aufgrund der besonderen Einlasssituation – sind es vier. Während der Vorstellungen stehe ich immer in direktem Kontakt mit Kartenbüro, Direktion, Inspizienz, Feuerwehr. Es ist sozusagen eine Zwischenposition zwischen dem Publikum und allem, was hinter der Bühne stattfindet. Im Normalfall gibt es für das Team geöffnete Generalproben. Bei den Kindertheaterproduktionen habe ich natürlich immer gerne meine Kinder einbezogen. Oft sind gerade an den Wochenenden Vorstellungen, dann betreut mein Mann die Kinder, aber es gibt zum Glück auch freie Wochenenden dazwischen. ● ○

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Michael Scherff, Ensemblemitglied

Ich wurde in Wien geboren, absolvierte die Matura am Akademischen Gymnasium und studierte zwei Semester Jus. Da ich aber eigentlich Schauspieler werden wollte, hörte ich damit wieder auf und studierte Schauspiel am Mozarteum in Salzburg. Im dritten Jahr engagierte mich das dortige Landestheater, wo ich drei Jahre arbeitete und bei Peter Stein in „Julius Caesar“ mitspielte. Dann war ich in Deutschland, unter anderem in München am Bayerischen Staatsschauspiel. 2009 kam ich nach Österreich zurück.

Das sollte eigentlich nur eine Zwischenstation sein. Ich war bis dahin nie länger als vier Jahre an einem Haus im Engagement, weil ich immer wieder etwas anderes kennenlernen wollte. Doch dann lud mich die damalige Intendantin, Bettina Hering, zu einem Vorsprechen an das Landestheater Niederösterreich ein. Seitdem bin ich hier und froh darüber. Ich bin jetzt 56 Jahre alt, aber ich fühle mich nicht so. Ich habe das Gefühl, ich sei 38 oder 42. Ich habe einen sechsjährigen Sohn, der hält mich jung, ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen.

Wir sind eine richtig gute Truppe.

Wir sind gerade eine richtig gute Truppe, und es macht unglaublichen Spaß zusammenzuarbeiten, sogar in dieser schwierigen Phase. Ich finde, dass das Theater gerade sehr wichtig ist und wir auch die Leute zum Lachen bringen müssen. Auch! Wenn diese Krise irgendwann beendet sein sollte, werden wir genug mit den Folgen für die Gesellschaft zu tun haben. Wie es momentan läuft, das gefällt mir gar nicht. Da bin ich gerade politisch sehr unzufrieden. Leute, die frei arbeiten, haben wirklich zu leiden. Das ist eine Katastrophe. Da sitze ich noch im weichen Nest. Wie lange? Weiß man nicht. ● ○

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Burgtheater

Alle zusammen!


Vor 200 Jahren beschlossen Bewohnerinnen und Bewohner von St. Pölten, gemeinsam ein Theater zu gründen. Wie geht dieses heute mit seiner emanzipatorischen Tradition um? Und was kann ein Bürgertheater für eine Stadt leisten?

Hätte es vor 200 Jahren bereits den Begriff des Crowdfunding gegeben, so wäre das Projekt damit benannt worden: Umgerechnet 3.000 Euro zahlten wohlhabende Bürgerinnen und Bürger von St. Pölten damals in eine Aktiengesellschaft ein, um ihren Traum von einer eigenen Bühne zu verwirklichen. Sie wollten nicht nach Wien fahren müssen, um Schauspielkunst hautnah zu erleben. Ihr gesellschaftliches Selbstbewusstsein drückte sich darin aus, dass sie sich den Kunstgenuss in der Heimatstadt leisten konnten. Apotheker, Geistliche, auch einige Adelige griffen dafür freigiebig in ihre Privatkassen. Es sollte einen Direktor und ein festes Ensemble in St. Pölten geben. Die Devise: Gemeinsam schaffen wir das!

Akrobatische Darbietungen

Dauerbrenner waren bereits in den Anfangsjahren Stücke von Schiller, Shakespeare und Kleist, auch Nestroy sah man gern. Das erzählt der Wiener Dramatiker Bernhard Studlar, der viele Stunden in Archiven verbracht hat, um die Gründungsgeschichte des heutigen Landestheaters Niederösterreich zu erforschen. Wobei man damals ohnehin einen viel breiter gefassten Theaterbegriff pflegte: „Es war ein höchst diverser Spielplan“, sagt Studlar. „Meist gab es einen Prolog, der vom Direktor persönlich gesprochen wurde. Darauf folgten akrobatische Darbietungen, dann erst das Drama. Es war ein gesellschaftliches Event.“

Seit damals hat sich nicht nur auf der Bühne viel verändert: Theater werden subventioniert (obwohl es zudem Fördervereine gibt). In den vergangenen Jahren konnte man aber auch beobachten, dass etwa in Deutschland viele feste Häuser nicht nur mit finanziellen Problemen zu kämpfen haben. Zunehmend stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir diese altmodische Kunstform in Zeiten von Netflix überhaupt noch? Für wen spielt man eigentlich? Der Druck ist größer geworden, der Zwang zur Quote gestiegen. Wie die Kunst- und Kulturbudgets nach der Covid-­19-Krise aussehen werden, steht in den Sternen. Sich grundlegende Fragen zu stellen, ist aber sicher keine schlechte Strategie, um fit für die Zukunft zu sein. Gerade, wenn es um den Punkt geht, wie man ein Publikum dauerhaft bindet. Wie man es schafft, sich in einer Stadt unverzichtbar zu machen.

Theater war lange des „sittlichen Bürgers Abendschule“, wie die österreichische Wissenschaftlerin Hilde Haider-Pregler in ihrem gleichnamigen Buch ausführt: Ein stolzes Bürgertum, das dem Adel an Prunk in nichts nachstand, versicherte sich seiner Werte in der Kirche und im herrschaftlichen Theater. Welche gemeinsamen Werte gibt es inzwischen noch in einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft? Und, wer um alles in der Welt, möchte sich im Theater noch belehren lassen? Stadttheater suchen gerade nach neuen Wegen, direkter mit ihrem Publikum zu kommunizieren. Sie wollen diverser werden, vermehrt junge Menschen, Migrantinnen und Migranten, Nicht-Deutschsprachige einbeziehen. Wie gelingt es, dass die Bevölkerung einer Stadt eine Bühne als ihre eigene betrachtet, für die sie im Notfall auch kämpft?

In den Nullerjahren machte der deutsche Regisseur Völker Lösch mit seinen Bürgerchören am Staatsschauspiel Dresden vor, wie es gehen könnte. Zu seinem Markenzeichen gehört es, Stücke des bürgerlichen Bildungskanons mit Laienchören zu kontrastieren, die konkrete Probleme wie Mietwucher thematisierten oder das immense Vermögen der Millionäre von Dresden offenlegten. Seine Inszenierungen sorgten für Skandale, aber auch für politische Diskussionen, die weit über das Theater hinausreichten. Unterprivilegierte Gesellschaftsschichten wie Haftentlassene oder Sexarbeiterinnen kamen da zu Wort; Fragen der sozialen Gerechtigkeit wurden von Betroffenen angesprochen. Theater hatte plötzlich eine sehr direkte Kraft, es packte aktuelle Missstände an und vergrößerte sie auf der Bühne. Löschs Einbeziehen von Laienchören war auch eine Kampfansage an die Bewohnerinnen und Bewohner von Dresden: Wenn ihr dieses Theater haben wollt, dann müsst ihr es auch selbst gestalten. Ihr müsst es euch zu eigen machen und mitspielen.

Wir haben eine Band aus 65 Menschen.

Große Bühne

Löschs Engagement war ein wesentlicher Motor, der das sogenannte Bürgertheater modern machte. Mit spielwütigen Laiinnen und Laien werden da neue Stoffe entwickelt und aufgeführt. Am Landestheater Niederösterreich betreut Regisseurin Nehle Dick seit fünf Jahren die bereits unter der früheren Intendantin Bettina Hering gegründete Bürgertheater-Schiene. In St. Pölten ist man diesbezüglich übrigens innovativer als anderswo: Die Stücke landen auf der großen Bühne, während andere Häuser eher auf kleine Nebenspielstätten ausweichen oder überhaupt nur Workshops anbieten. „Wir haben mittlerweile eine flexible Band, wie ich es gern nenne, aus rund 65 Menschen, die regelmäßig mitmachen“, erklärt Dick. Die bisherigen Aufführungen waren aber auch schon in einem Zirkuszelt oder in einer Fabrikhalle angesiedelt. „So lernen die Menschen ihre eigene Stadt und deren Geschichte besser kennen“, sagt sie.

Inge (78) und Norbert (79) Pohl können das bestätigen. Sie sind die Stars des Ensembles, erzählt Autor Bernhard Studlar, der begeistert ist vom Humor der beiden. „‚Stars‘ ist sicher übertrieben“, sagt Norbert Pohl, „wir haben halt einen Altersbonus“. Ihm gefällt die „schöne Gemeinschaft“, die auf den Proben entsteht. Seine Frau findet, dass Regisseurin Dick „sehr einfühlsam arbeitet“. Außerdem genießt das Paar es, dass verschiedene Altersstufen zusammenkommen. „Wenn man älter ist, hat man ja vor allem mit anderen älteren Leuten zu tun“, sagt Inge.

Gemeinsam mit dem Autor Bernhard Studlar wird gerade an einer Jubiläumsinszenierung gebastelt, auch, um den 200. Geburtstag gebührend zu feiern. Unter dem Titel „Eine Stadt sucht ihr Theater“ (Uraufführung ist für 2. Juni 2021 geplant) soll der Gründungsmythos des Hauses künstlerisch untersucht werden. Für Studlar ist es eine neue Erfahrung, für bis zu 50 Personen ein Stück zu schreiben. Es soll eine Art Parcours durchs ganze Theatergebäude werden, in Kleingruppen geht es von den Künstlergarderoben bis in die Werkstätten und Katakomben. „Es wird eine Reise durchs Haus und durch die Jahrhunderte“, sagt Studlar, der seine Texte für die Darstellerinnen und Darsteller maßschneidert. „Manche sprechen weniger gern, andere trauen sich lange Passagen zu. Einige sind zu Beginn eher scheu, blühen aber während der Proben auf“, berichtete er von seinen bisherigen Erfahrungen. Für die Pohls hat er eigens eine Szene geschrieben: Sie spielt die Intendantin des Theaters, natürlich im Büro von Landestheater-Direktorin Marie Rötzer, er ist ein Autor, der glücklos versucht, ihr sein jüngstes Stück anzudrehen.

Ungefiltertes Feedback

Studlar begeistert auf den Proben auch die Ehrlichkeit, die direkte, ungefilterte Art des Feedbacks. „Im klassischen Stadttheaterbetrieb hat man gar nicht so viel Zeit, das Ensemble probt mehrere Stücke gleichzeitig“, sagt er. „Die Laien sind neugieriger, setzen sich zum Teil intensiver mit ihren Texten auseinander. Sie fragen nach, weil sie sich nicht mit Kunstfertigkeit über Stellen mogeln können, die ihnen nicht klar sind.“ Nehle Dick sieht das ähnlich: „Sie verstehen den Prozess besser als zuvor – wie Theater entsteht, was Proben bedeuten. Dadurch blicken sie anders auf fertige Produkte, die sie auf der Bühne sehen.“

Der elfjährige Paul Scheiblauer ist der Jüngste im Ensemble. Er ist über die Theaterpädagogik zur Bürgerbühne gekommen und seit der ersten Klasse dabei. „Ich habe ein schönes Gefühl im Bauch, wenn ich auftrete“, erzählt er begeistert. „Man schließt während der Proben neue Freundschaften.“ Zu den Vorstellungen kommen andere Kinder aus seiner Schule und Verwandte. Ein angenehmer Nebeneffekt: So füllt sich ein Theater mit Publikum. Für Paul ist schon jetzt klar: Er möchte später Schauspieler werden.

Die Zukunft des Theaters ist also gesichert. ● ○

Rötzer

Theater ist keine Kanzel


Wie kann eine Landesbühne neue Communitys ansprechen? Welche Ideen vermögen, das Theater heute mit Land und Leuten zu verbinden? Und wie gelangt Europa nach St. Pölten? Intendantin Marie Rötzer sprach mit morgen über die bewegten Anfangsjahre des Landestheaters, seine internationalen Ansprüche und seine Verankerung in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

morgen: Das Landestheater Niederösterreich feiert heuer sein 200-jähriges Bestehen. Gegründet wurde die Bühne auf Betreiben der Bevölkerung. Wie kam es dazu?

Marie Rötzer

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Die Menschen in St. Pölten hatten offenbar schon damals ein reges Interesse am Theater. Im 19. Jahrhundert wollte sich das aufstrebende und finanzkräftige Bürgertum eine fixe Bühne leisten. Damals erlebte der gesamte deutschsprachige Raum einen Theaterboom; die dabei gegründeten Bühnen waren wesentlich für die Entwicklung des bürgerlichen Selbstverständnisses. Das Theater wurde als ein Ort verstanden, an dem sich die Bourgeoisie über sich selbst, ihre Werte und Ideale verständigen konnte – es wirkte identitätsstiftend. Für mich hat es diese Bedeutung nie verloren, obwohl sich die Gesellschaft inzwischen grund­legend verändert hat.

Sind die Namen der Gründungsmitglieder überliefert?

Eine Aktiengesellschaft mit dem Namen „Gesellschaft des Theaterbaus in St. Pölten“ wurde eigens gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern zählten 47 Aktionärinnen und Aktionäre, darunter Bischof Dr. Johannes Ritter von Dankesreiter sowie neun Adelige aus der Stadt und der Umgebung. Frauen waren ebenfalls mit von der Partie, für die damalige Zeit mehr als außergewöhnlich, darunter die Fürstin und Prinzessin von Lothringen. Sie nahmen vergleichsweise viel Geld in die Hand, um das ehemalige Garnisonsgefängnis zu erwerben und zu renovieren. Die ersten 150 Jahre der Institution waren anschließend von radikalen Höhen und Tiefen geprägt, fortlaufende finanzielle Krisen führten in den 1920er- und 1930er-Jahren sogar wiederholt zu kurzzeitigen Schließungen. Aber es gelang stets aufs Neue, das Theater wieder aufzusperren, auch unter den widrigsten Umständen. Die Geschichte der Bühne ist eng mit der Geschichte St. Pöltens verwoben.

Welche Publikumsschichten wollen Sie heute ansprechen?

Unsere Gesellschaft gestaltet sich weitaus diverser als im 19. Jahrhundert. Ich spreche deshalb weniger gern von Schichten, lieber von vielfältigen Communitys.

Was unternehmen Sie, um diese ins Theater zu bringen?

Wir erfinden laufend neue Formate, die auf den ersten Blick nichts mit Theater zu tun haben. Im Vorjahr riefen wir etwa das „Zukunftsbüro“ ins Leben, eine Vortragsreihe, bei der es um die Zukunft der Arbeit ging. Die Fortsetzung davon ist das „Erinnerungsbüro“, in dessen Rahmen wir uns dieses Jahr mit der Geschichte St. Pöltens beschäftigen. Beispielweise erarbeiten wir gerade einen historischen Stadtspaziergang zum Schwerpunkt jüdisches Leben in St. Pölten. In einer Art Theaterlabor arbeiten wir darüber hinaus mit Flüchtlingen und NS-Zeitzeugen zusammen, indem wir versuchen, gegenwärtige Migrationserfahrungen mit historischen Berichten über Exil und Verfolgung zu verbinden. Wir haben Gesprächsrunden im St. Pöltner Sonnenpark und in Kaffeehäusern initiiert, sind stolz auf unser Kinder- und Jugendtheater; beim sogenannten Klassenzimmertheater erlebt man unsere Schauspielerinnen und Schauspieler direkt in den Klassenräumen. Nicht zu vergessen das Bürgertheater: Dabei erarbeiten wir mit Laiendarstellerinnen und -darstellern jedes Jahr ein Stück, das sich um die Stadt und die Region dreht.

Wie nimmt das Publikum diese Aktivitäten an?

Sehr gut! Es besteht eine große Sehnsucht sich auszutauschen. Mit solchen Veranstaltungen versuchen wir, auf anderen Wegen auf die Gesellschaft einwirken zu können, darauf aufmerksam zu machen, dass ein Theaterbesuch nicht mit Mühsal verbunden ist, sondern einen durch und durch bereichert. Wir suchen ständig nach neuen Verbindungen, versuchen Brücken zu schlagen. Meine Hoffnung ist, dass unsere Angebote Hemmschwellen senken und das Publikum mit derselben Selbstverständlichkeit ins Theater wie ins Kino geht.

Theater sind kulturelle Nahversorger. Welchen Beitrag leistet die Bühnenkunst für den öffentlichen Diskurs?

Wie Kunst generell ist auch das Theater stets Spiegel seiner Zeit. Es stellt gesellschaftliche Probleme, Ängste, Herausforderungen zur Debatte. Das Besondere an der Bühnenkunst ist jedoch, dass sie einzigartige Gemeinschaftserlebnisse hervorbringt, indem sie Spielerinnen und Spieler mit dem Publikum in einem Raum versammelt. Theater sind deshalb auch Erfahrungsräume für Demokratie, laden zum Gespräch ein. Im Dialog mit den Geschichten, die auf der Bühne verhandelt werden, können alle ihren eigenen Standpunkt zum jeweiligen Thema entwickeln, über Dinge nachdenken, die sie sonst vielleicht unberührt gelassen hätten, sich mit Zusammenhängen konfrontieren, die womöglich außerhalb der eigenen Komfortzone liegen. Im Idealfall vermag eine bestimmte Inszenierung ein fortlaufendes Gespräch in Gang zu setzen: im Foyer, während der Pause, beim Publikumsgespräch, im Lokal nach der Vorstellung – coronabedingt im Moment sehr reduziert. Aus den Dramen der Vergangenheit lernt man, die Gegenwart besser zu verstehen, um die Zukunft zu gestalten. Theater ist keine Kanzel, von der herab Moral gepredigt wird. Es ermöglicht einen Erkenntnisgewinn durch lebendigen Austausch, der alle Sinne anspricht. Ich bin eine Anhängerin guter Unterhaltung: Die Komödie ist bekanntlich die wirksamste Form der Kritik.

Mit internationalen Koproduktionen, mehrsprachigen Aufführungen und Gastspielen machen Sie sich für ein europäisches Theater stark. Ist Europa bereits in St. Pölten angekommen?

Im Musik- und Tanztheater ist die internationale Zusammenarbeit längst eine Selbstverständlichkeit. Das Sprechtheater war wegen der Sprachbarrieren viel zögerlicher, fremdsprachige Passagen werden bei uns im Haus nun mit Übertiteln versehen. Die Auflösung von Grenzen, die Begegnung mit anderen Kulturen ist im Sprechtheater genauso bereichernd wie in allen anderen Kunstgattungen. Mit dem Theater Bozen arbeiten wir seit Längerem zusammen, heuer ist zum ersten Mal Luxemburg dazugekommen, und ich freue mich heute schon auf die Zusammenarbeit mit Luk Perceval und dem Theater NTGent: In „Yellow“ wird sich der Regisseur mit flämischen Nazi-Kollaborateuren auseinandersetzen und ein dunkles Kapitel belgisch-österreichischer Geschichte aufarbeiten.

Die Komödie ist die wirksamste Form von Kritik.

Wie wirkt sich Corona auf die internationalen Projekte aus?

Die Pandemie stellt uns vor große Probleme, wir mussten vieles verschieben, einiges absagen. Percevals „Yellow“ war etwa für diese Spielzeit geplant, wird aufgrund der coronabedingten Reisebeschränkungen aber erst in der kommenden Spielzeit stattfinden. Wir hoffen, dass wir zumindest die Vereinbarungen, die wir mit Bozen und Luxemburg geschlossen haben, einhalten können. Mir ist wichtig, dass wir trotz Corona in die Welt hinausgehen – alles andere wäre ein Rückschritt. Gastspiele sind eine wesentliche Säule der Programmatik des Landestheaters, sie sind unser Fenster zur Welt. Österreich ist keine Insel, auch wenn uns Teile der Politik das immer wieder weismachen wollen. Kultur muss da dagegenhalten. Die Kulturschaffenden müssen zusammenstehen, als gesellschaftliche Kraft auftreten. Wir dürfen uns gerade jetzt nicht auseinanderdividieren lassen.

Wie sehr hat uns der Shutdown verändert?

Wir leben in einer Art Schwebezustand. Gewissheiten haben sich aufgelöst, der hedonistische Lebensstil wurde ordentlich durcheinandergewirbelt. Überhaupt ist unser Leben weniger planbar geworden, wir sind aufgefordert, rasch auf neue Gegebenheiten zu reagieren. Krisen funktionieren immer auch als eine Art Brennspiegel, sie decken Defizite, die bereits zuvor bestanden, erbarmungslos auf. Vielleicht erleben wir aber auch jenen neuralgischen Moment, an dem wir uns neu definieren könnten. Diese Hoffnung will ich mir zumindest nicht nehmen lassen. ● ○