© Luzia Pulu

Citizen Science

Erdkröte mit Fell


Die Kompostierung eines Teebeutels dokumentieren, überfahrene Tiere fotografieren oder die eigene Migrationsgeschichte erforschen: Immer mehr Ehrenamtliche engagieren sich bei wissenschaftlichen Projekten. Unter dem Schlagwort Citizen Science sollen Laien und Forschung näher zusammenkommen. Wie funktioniert das?

Es ist kein schöner Anblick. Der Kadaver mit dem weichen, hellbraunen Fell liegt auf dem Seitenstreifen, Gedärme quellen heraus, überall Blut. Die meisten Menschen fahren weiter, wenn sie so etwas sehen. Doch für Claus Schindler ist der tote Feldhase nicht nur ein Kollateralschaden im Straßenverkehr – er ist ein Objekt von wissenschaftlichem Interesse. Der 52-jährige Rotkreuz-Mitarbeiter fotografiert die Tierleiche mit seinem Handy und dokumentiert mit ein paar Klicks ihren Fundort an der Straße zwischen Horn und Zwettl.

Roadkill: So heißen überfahrene Tiere auf Englisch, und so lautet auch der Titel eines an der Universität für Bodenkultur in Wien angesiedelten Projektes, bei dem Ehrenamtliche auf der ganzen Welt Tiere sammeln, die im Straßenverkehr getötet wurden. Es ist ein Paradebeispiel für die sogenannte Citizen Science, die Forschung mit signifikanter Beteiligung von Laiinnen und Laien.

Straßen führen meist quer durch die Lebensräume der Tiere, die plötzlich rasenden Autos ausgesetzt sind – der ökologische Fachbegriff dafür lautet Habitatfragmentierung. Bislang hatte die Forschung eher große Wildtiere wie Hirsche oder Wildschweine auf dem Schirm. Das Projekt „Roadkill“ erfasst auch kleinere Lebewesen wie Igel, Amphibien, Reptilien oder Vögel.

An die 15.000 Fotos wurden weltweit über die „Roadkill“-App in den vergangenen Jahren schon hochgeladen. Eine Win-win-Situation: Die Biologie erfährt mehr über Biodiversität und Tierpopulationen – und wenn die Identifizierung von Hotspots zur Errichtung von Zäunen oder Sensoren führt, dann werden die Straßen eines Tages sicherer. Aber auch die Laiinnen und Laien profitieren: Zum Beispiel lernen sie mehr über die Tierwelt – und zwar nicht nur von den Profis, sondern auch voneinander: In der App postet ein User den Kadaver eines kleinen Säugetiers. Als Spezies hat er „Spitzmaus“ eingetragen, er fragt in die Runde: „Ist die Bestimmung richtig?“ In dem folgenden Thread fachsimpelt man, um welche Mäuseart es sich handeln könnte. Die Userin „Mamabird“ bezeichnet ein anderes Tier augenzwinkernd als „Erdkröte mit Fell = Wolpertinger“. Es ist so übel zugerichtet, dass es für Laien kaum zu erkennen ist. Geleitet wird das Projekt vom Waldviertler Zoologen Florian Heigl – er betreut auch die 2014 gegründete Citizen-Science-Plattform „Österreich forscht“. Auf deren Internetseite finden sich an die hundert Projekte, die meisten davon naturwissenschaftlich. Beim Projekt „Tea Bag Index“ soll das Dokumentieren des Zersetzungsprozesses eines Teebeutels helfen, die Folgen des Klimawandels zu verstehen.

Hohe Erwartungen

Es gibt auch geisteswissenschaftliche Citizen-Science-Projekte: Unter dem Titel „Gesichter der Migration“ möchte das Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Innsbruck anhand individueller Migrationsgeschichten zeigen, dass uns die internationale Mobilität in den Genen liegt. Und das Projekt „Unsere vertriebenen Nachbarn“, lanciert von der Historikerin Martha Keil vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten, rekonstruierte 2017 jüdisches Leben in Niederösterreich während und nach der NS-Zeit, mit privaten Fotos, Dokumenten und Erinnerungen. Der Zuspruch war groß, manche Menschen gruben in ihrer Familiengeschichte, brachten ganze Familienarchive und Nachlässe. Citizen Science boomt, und die Erwartungen sind hoch: Sie soll gegen Politikverdrossenheit, die grassierende Wissenschaftsskepsis und die Fake News der Verschwörungstheoretiker helfen.

Kann das gelingen? Oder machen ohnehin nur wieder die Wissenschafts-Fans mit? „Die meisten Beteiligten haben einen akademischen Background. Wir würden uns wünschen, dass mehr Nicht-Akademiker mitmachen. Die Wissenschaft soll in der Mitte der Gesellschaft ankommen“, sagt „Roadkill“-Chef Florian Heigl. Ist die Idee wirklich neu? Citizen Science wird oft als eine Rückkehr zu den Anfängen der Wissenschaft interpretiert. Niemand Geringerer als Charles Darwin gilt als einer der ersten Citizen Scientists: Darwin sei ein Laie gewesen, der als Theologe bahnbrechende biologische Forschung betrieb, schreibt zum Beispiel der britische Forscher Jonathan Silvertown. Doch diese Vorstellung greift vielen in der Wissenschafts-Community zu kurz: Darwin besuchte nämlich neben seinem Theologiestudium viele Vorlesungen zur Botanik und Zoologie. Damit verfügte er durchaus über biologisches Fachwissen.

Ist die Idee wirklich neu?

Auch wenn die Anfänge der Citizen Science zum Teil romantisiert werden, hat die Beteiligung von Laiinnen und Laien laut Florian Heigl auch in Österreich eine lange Tradition: „Schon 1851 hat die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik Menschen per Brief aufgefordert, ihr phänologische Beobachtungen zu schicken.“ Die Phänologie dreht sich um den saisonalen Zyklus von Pflanzen und Tieren, der sich an Dingen abzeichnet wie der Verfärbung von Blättern, Vogelzügen oder dem ersten Erscheinen von Insekten im Frühjahr – optimal zu beobachten für Amateurinnen und Amateure. Heigl: „Die Anfänge der Citizen Science in Österreich werden gerade erst aufgearbeitet.“ Damals hieß Citizen Science noch „freiwillige Wissenschaft“ und war per Post organisiert. Heute haben die neuen Technologien dazu geführt, dass es so einfach ist wie nie zuvor, bei wissenschaftlichen Projekten mitzumischen. Aber: Niederschwellig muss es sein. Das liest man oft.

Flucht vor dem Bildschirm

Technologie spielt dabei nicht nur eine beflügelnde Rolle: Viele Menschen verspüren das Bedürfnis, mehr in der Natur zu sein, sich mit Pflanzen, Tieren oder auch anderen Menschen zu befassen, statt nur auf Bildschirme zu starren. Back to Nature und wenigstens ein bisschen vor der Digitalisierung fliehen, auch das macht die Laien-Wissenschaft für viele attraktiv. Für die „Roadkill“-Teilnehmerin Susanne Lutter (62) war es genau diese Sehnsucht, die sie zur Wissenschaft brachte: „Als ich in Pension ging, war das für mich wie ein Schock. Ich zweifelte sogar an der Sinnhaftigkeit des Lebens. Ich begann mehrere Studiengänge, machte einen Bachelor. Aber ich merkte, dass für mich Bewegung und frische Luft viel wohltuender sind als das Herumsitzen in Hörsälen.“

So verlagerte sie ihr Studium gewissermaßen ins Freie: Für das Projekt „Roadkill“, zu dem sie eine TV-Doku führte, dokumentiert sie bei ihren Wanderungen in Wien und Umgebung überfahrene Tiere. Mit ihrem Hund ist sie täglich im Gebiet des Wienerbergs unterwegs, das sie wie ihre Westentasche kennt. Dort machte sie eine Beobachtung, die Stoff für ein neues wissenschaftliches Projekt liefern könnte: In einem abgelegenen Winkel des Waldes entdeckte sie eine Population größerer Flusskrebse. Sie erzählte Florian Heigl davon, der den Hinweis an Kolleginnen weitergab. „Es ist ein großer Mehrwert des Projekts, dass wir durch die Citizen Scientists immer neue Fragestellungen bekommen“, sagt Heigl.

Dank Lutter entstand als Spin-off eine Pilotstudie, für die sie mehrmals pro Woche die gleiche Strecke abgeht und festhält, ob sie an diesem Tag tote Tiere gefunden hat oder nicht. Für sie macht es dabei keinen Unterschied, ob es sich um kleinere oder größere Tiere handelt: „Das sind alles Tiere, die leben wollen.“ In ihrem Umfeld stößt sie mit ihrem Engagement nicht selten auf Unverständnis. „Das ist ja grausig“, sagen Freundinnen und Freunde, oder: „Das bringt doch eh nichts.“ Susanne Lutter versucht dann zu beschreiben, zu erklären und zu widerlegen – genauso, wie es eine hauptberufliche Wissenschaftlerin tun würde.

Mitmischen und mitreden

In der Wissenschafts-Community nimmt man die Citizen Science nicht ausschließlich positiv auf: Sie sei ein besorgniserregendes Symptom der Prekarisierung des Wissenschaftsbetriebs, so die Kritik. Schließlich ist die Arbeit der Ehrenamtlichen kostenlos oder zumindest sehr kostengünstig. Doch ein so groß angelegtes Projekt wie „Roadkill“ könnte ohne die Hilfe von Freiwilligen niemals durchgeführt werden. Das Forschungsdesign sieht vor, dass möglichst viele Menschen an möglichst vielen Orten Informationen sammeln.

Nicht bei allen Projekten geht es um das Sammeln riesiger Datenmengen: Die Ludwig Boltzmann Gesellschaft rief zum Beispiel „Reden Sie mit!“ ins Leben, eine Initiative, die Bürgerinnen und Bürger nach ihren Meinungen und persönlichen Beobachtungen fragt. Es geht um psychische Krankheiten oder die Auswirkungen von Corona. Aus den Inputs sollen später neue Forschungsfragen entstehen. Vielleicht kommen Amateurinnen und Amateure ja auf ganz andere Ideen als die Profis aus der Wissenschaft. So, wie Susanne Lutter mit ihrer Entdeckung einer Flusskrebs-Population Stoff für ein neues Projekt lieferte. ● ○