„Der Kreisky-Test“, eine Online-Produktion des Ensemble Nesterval
eine Online-Produktion des Ensemble Nesterval
„Der Kreisky-Test“, eine Online-Produktion des Ensemble Nesterval

Digitales Theater

Virtuelle Symbiosen


Die Theater blieben während der Corona-Pandemie geschlossen. Da drängte sich zwangsläufig die Frage auf, wie sie digital agieren können, um das Publikum dennoch zu erreichen. Ein längst fälliger Entwicklungsschritt? Oder doch nur ein Notprogramm aus langweiligen Streamings?

Schon im alten Griechenland saßen die Menschen auf Steintreppen und verfolgten gespannt, was der Chor zu berichten hatte. Theater, das scheint seit damals festgeschrieben zu sein, ist ein Live-Erlebnis. Anders als im Kino, wo der Film aus der Konserve kommt, treffen sich hier das Publikum und die Spielenden, um die totale Gegenwart zu feiern: Jeder Abend ist anders, inklusive Texthängern auf der Bühne und Husten im Publikum. Gerade in dieser Unberechenbarkeit und durchlebten Gemeinsamkeit aller Beteiligten liegt die Stärke des Theaters. Digitalisierung und Bühnenkunst: Geht das überhaupt zusammen?

Das Wort Digitalisierung hat in vielen Bereichen einen fahlen Beigeschmack, es klingt danach, dass Menschen durch Maschinen ersetzt werden. Birgit Minichmayr, die am Burgtheater mit einem Roboter als Kollegen auftritt? Eine eigenartige Vorstellung. Dabei ist die Digitalisierung hinter der Bühne längst Alltag. „Ein Lichttechniker, der vor 25 Jahren als Elektriker eingestellt wurde, sitzt heute am Pult und soll Moving Lights programmieren. Und der Tonmeister, der früher Audiokassetten während der Inszenierung eingespielt hat, sitzt heute auch am Rechner“, sagt der deutsche Regisseur Kay Voges in einem Interview und macht deutlich, wie rasant sich die alte Tante Theater zumindest hinter den Kulissen verändert hat. 

Im Jänner 2021 wird Voges seine Intendanz am Wiener Volkstheater starten und auch hier versuchen, die Digitalisierung auf der Bühne voranzutreiben. Er gilt als Vorreiter auf dem Gebiet. In Dortmund gründete er im Vorjahr die Akademie für Theater und Digitalität. Die Studierenden dort erforschen, welche Möglichkeiten auf diesem weiten Feld liegen. Inhaltliche Vorgaben gibt es keine. Die bisher präsentierten Ergebnisse der Stipendiatinnen und Stipendiaten aus aller Welt sind dementsprechend vielfältig: von live gedrehten Videos, die zeitversetzt mit den Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne in Beziehung treten, bis hin zur Arbeit an der Visualisierung von Klängen. Vieles wird später auf der Bühne ganz organisch wirken. Trotzdem stehen komplexe technische Abläufe dahinter. 

Technikexzesse

Oft ergänzen Analoges und Digitales einander ohnehin perfekt, wie in Voges’ Inszenierung „Die Parallelwelt“ (siehe Foto im Inhaltsverzeichnis dieses Hefts). Da wurden das Schauspiel Dortmund und das Berliner Ensemble, zwei über 400 Kilometer voneinander entfernte Bühnen, mit einem Glasfaserkabel verbunden, das die Handlung live ins jeweils andere Theater übertrug. Bevor die Inszenierung begann, sah man auf einer großen Leinwand, wie das Publikum im Paralleltheater Platz nahm. Man konnte einander zuwinken. Danach verfolgte man Szenen simultan, die einen echt auf der Bühne, die anderen über eine Videoleinwand zugespielt. Eine feine Symbiose aus beiden Welten. 

Der Einsatz digitaler Medien im Theater wirft eine grundlegende Frage auf: Was heißt überhaupt live? Schon vor Jahrzehnten begann Frank Castorf, in vielen seiner Inszenierungen exzessiv auf Technik zu setzen: Ein Team an Kameraleuten filmte die Akteurinnen und Akteure. Das war zwar live, die Szene fand zeitgleich irgendwo hinter der Bühne oder in einem Zimmer statt, aber trotzdem sah man stundenlang nur intime Großaufnahmen von Gesichtern auf Leinwänden. Nicht gerade das, was man klassisch unter Theater versteht. Castorf trat damit einen Trend los: Livekameras finden wir mittlerweile auf Bühnen selbstverständlich. 

Trotzdem blieb das deutschsprachige Theater lange auf den Text fixiert. Es ging meist um klassische Dramen, die von Schauspielstars präsentiert werden. Nirgends liebt man seine Schauspielerinnen und Schauspieler so abgöttisch wie in Österreich. In den vergangenen Jahren hat sich diesbezüglich allerdings einiges verändert. Die Inszenierungen sind nicht nur performativer geworden, sondern auch diverser. Immer mehr junge Frauen erobern die bislang stark von Männern dominierte Kunstsparte. Dass Theater in einer globalisierten Welt auch verstärkt migrantische Geschichten erzählen sollte, ist zumindest theoretisch allen klar. Doch gerade die Frage der Digitalisierung wurde von den meisten Häusern vernachlässigt. Halbherzige Versuche, in den sozialen Medien präsent zu sein, ließen bislang eher den Schluss zu, dass Theater noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist.

Gerade die Corona-Pandemie brachte die Diskussion um Digitalisierung im Theater einen großen Schritt weiter. Die Bühnen waren geschlossen, was also tun? Manche fanden neue Formen der Kommunikation mit dem Publikum. So richtete das Landestheater Niederösterreich ein „Theatertagebuch“ ein, für das es unter dem gleichnamigen Hashtag eine ganze Reihe eigener Beiträge entwickelte: Da drehten die Ensemblemitglieder Laura Laufenberg und Tim Breyvogel ein „Literaturvideo“, setzte ihr Kollegenduo Katharina Haindl und Michael Scherff „Figaros Hochzeit“ als Fünf-Minuten-Western um.

Die einfachste Lösung war allerdings, alte Inszenierungen, die man auf Video hat, auf der Homepage zu streamen. Natürlich ist das einigermaßen langweilig und für das Publikum mühsam. Darüber wurde auch beim Berliner Theatertreffen diskutiert, das jedes Jahr zehn herausragende, von einer Jury ausgewählte Inszenierungen zeigt und diesen Mai virtuell stattfand. Nicht alle Regisseurinnen und Regisseure wollten, dass ihre Arbeit lieblos abgefilmt präsentiert wird. Anne Lenk war mit ihrer „Menschenfeind“-Inszenierung vom Deutschen Theater in Berlin eingeladen. Sie fand es schwer zu ertragen, dass in Adaptionen für das Fernsehen, zentrale Entscheidungen nicht ihr überlassen werden – etwa jene, wann und aus welcher Perspektive etwas zu sehen ist. Bei Anta Helena Reckes „Die Kränkung der Menschheit“, einer Inszenierung, die stark von der bildenden Kunst kommt, stellte sich die Frage, ob sie ohne persönliche Raumerfahrung überhaupt vermittelbar ist. Ob man sie für ein Video nicht ganz anders aufziehen müsste. 

Theater am Computer

Martin Gruber, Gründer des Vorarlberger Aktionstheater Ensemble, möchte in Zukunft neben der realen auch eine virtuelle Premiere anbieten, für die ein Beitrag von vier bis fünf Euro zu zahlen ist – ein attraktives Angebot für ein interessiertes Publikum, das keine Bühne in der Nähe hat. Wer nicht zum Theater kommen kann, den oder die besucht das Theater eben im Wohnzimmer. Oft werden gerade aus der Not spannende Produkte geboren. Das heimische Performance-Kollektiv Nesterval verlegte seine analog geplante Inszenierung „Der Kreisky-Test“ kurzfristig in ein Zoom-Meeting. Man saß daheim am Computer, interagierte in Kleingruppen mit den Spielenden. Man entschied mit, wer von den Figuren ins Finale kam, musste sich mit anderen Zuschauenden dabei absprechen. Seltsam war es zuerst schon, sich das Theater – und fremde Leute – über den Bildschirm in die eigenen vier Wände zu holen. Gleichzeitig war es spannend, im Team mit einer Frau in Berlin zu sitzen. So ungezwungen international kann Theater sein. 

Was heißt überhaupt live?

Auch das ist eine Stärke von digitalem Theater: Es setzt sich über alle Entfernungen hinweg. Es ist egal, wo man sich gerade befindet. Über 122.000 Mal wurden die Streamings des virtuellen Berliner Theatertreffens aufgerufen, und zwar rund um den Globus. Durch das begrenzte Ticketkontingent ist die Veranstaltung ansonsten sehr exklusiv, plötzlich war sie viel offener. Ob man nun in New York oder in St. Pölten lebt – man hatte überall die gleichen Startbedingungen. Aber was ist mit dem Gläschen Sekt in der Pause? Darauf hatte das Theatertreffen zumindest bei den Zoom-Debatten der Jury eine witzige Antwort: Die Diskutierenden hatten alle ein rotes Getränk – das Logo des Festivals war in dieser Farbe gehalten – neben sich auf dem Tisch stehen. Social Distancing schließt das gemeinsame Anstoßen nicht aus. ● ○