Sammeln der Gegenwart

Grab oder Schatz


Sammeln der Gegenwart: Das machen Museen eigentlich schon immer. Doch wie stellt es sich im 21. Jahrhundert dar, mitten in der Corona-Krise? Der 31. Österreichische Museumstag in Krems widmet sich unter anderem diesem Thema. morgen sprach schon vorweg mit einigen Museumsleuten, die in der Session „Corporate Object – Neue Sammlungen von Museen“ referieren werden. Sie zeigten uns Objekte, die für sie besondere Bedeutung haben und erzählten uns mehr darüber, auf welche Weise sie das zeitgenössische Geschehen dokumentieren, welche Dinge sich gar nicht dafür eignen und warum Sporttaschen und Transparente wichtig sein können.

Andreas Rudigier, Vorarlberg Museum, Direktor

Ich habe viele Lieblingsobjekte, also nehme ich jenes, das aus meiner Sicht gerade am meisten diskutiert wird: Es handelt sich um ein Werk des Tiroler Fotografen Lois Hechenblaikner, das eine Szene aus Ischgl zeigt. Wir haben das Bild 2014 erworben. Es hat nun eine ungeheure Aktualität bekommen: Hechenblaikner publizierte sein Ischgl-Buch und setzte „unser“ Foto auf das Titelbild. Ischgl ist als Corona-Hotspot in aller Munde, und das Buch ging sprichwörtlich durch die Decke. Es wurde in allen bekannten deutschsprachigen Medien besprochen. 

Dazu kam noch ein zweiter Aspekt: Das Bild zeigt einen Berg geleerter Bierkisten der Firma Mohrenbräu, die ihren Sitz in Dornbirn in Vorarlberg hat. In Folge der „Black Lives Matter“-Bewegung sah sich das Unternehmen einer ausgewachsenen Rassismusdiskussion ausgesetzt. Das Bild Lois Hechenblaikners hat also gleich zweifach eine enorme Aktualität erfahren. Es repräsentiert damit das vielleicht aktuellste Sammlungsobjekt des Vorarlberg Museums im Jahr 2020.

Was das Sammeln der Gegenwart während der Krise betrifft, gibt es viele Herausforderungen: Das Interesse an den Objekten und das Wissen darüber sind zum Beispiel notwendig. Außerdem müssen wir die Geschichte zu einem Objekt mitsammeln. Auch eine materiell völlig wertlose alte Sporttasche kann wichtig werden, wenn sie eine gute Geschichte erzählt. Wie die des in den 1970er-Jahren nach Vorarlberg zugewanderten Radomir Petrovic mit einem Werbeaufdruck der Sparkassenbank. Auf der Tasche stehen sein Name und sein Verein: Rote(r) Stern Bregenz. Petrovic spielte jahrelang in der sogenannten Jugo-Liga, die sich unter den Zuwanderern in Vorarlberg etabliert hatte. Sie löste sich just in jenem Moment auf, als im ehemaligen Jugoslawien der Krieg losging. 

Dieses Bild ist enorm aktuell.

Schwierig zu sammeln sind Erzeugnisse der zeitgenössischen Kunst, die aufgrund ihrer Materialität nicht auf dauernde Erhaltung ausgerichtet sind. Die Gegenwart wird besonders durch neue Medien geprägt, und Museen sind letztlich wie die Gesellschaft, von der sie getragen werden. Erst wenn der Museumsbegriff in den Köpfen der Menschen ein positiver besetztes Bild bekommt, werden die Museen jene Funktion einnehmen können, die sie so gerne hätten, nämlich: mehr Begegnungs- denn Erinnerungsort zu sein und von der reinen Dokumentation vergangener Zeiten ausgehend in Richtung kritischer Beobachtung gegenwärtiger Gesellschaft denken zu dürfen – mit der Chance, Einfluss auf diese Entwicklungen nehmen zu können. ● ○

Miro Kuzmanovic

Martina Griesser-Stermscheg, Technisches Museum Wien, Sammlungsleiterin

Ich konnte die Sehnsucht der Künstlerin nachempfinden, vielleicht habe ich Julia Libisellers Werk „Mein Krisenlebensentwurf“ deswegen als Lieblingsobjekt gewählt. Sie hat während des Lockdowns ein „Tiny House“ aus Material, das sie zu Hause hatte, gebaut. Die Räder bestehen aus Knöpfen, die Herdplatten sind 5-Cent-Stücke. Dieses Raus-Wollen, ins Grüne, weg aus der Stadt: Das hatte ich auch. Als in Wien selbst die Parks und die Spielplätze gesperrt waren und man mit fremder Nummerntafel in Gegenden, wo man in der Regel als zahlender Gast herzlich willkommen ist, gesagt bekam: „Bleibt, wo ihr seid!“ – da begann mir das nomadische Lebensmodell, das es einem erlaubt, im Grünen umherzuziehen, sehr zu gefallen.

Das nomadische Modell gefällt mir.

Als Kuratorin empfand ich die Corona-Zeit spannend. Es war unglaublich leicht, Gegenwart zu sammeln, weil alles so hochaktuell war: Mund-Nasen-Schutzmasken, Fieberthermometer, Antikörpertests. Plötzlich waren ganz banale Dinge wichtige Bedeutungsträger. Auch die Durchsagen in Zügen und öffentlichen Verkehrsmitteln archivierten wir. Viele Leute waren zu Hause, nutzten die Zeit zum Aussortieren, und Dinge, die sie weder behalten noch wegwerfen mochten, fanden ihren Weg ins Museum. Was nicht ganz einfach war, weil auch die Kolleginnen und Kollegen in der Objektannahme in Kurzarbeit waren. Wir haben deswegen das „10-Megabyte-Museum“ ins Leben gerufen und Menschen dazu aufgefordert, mit uns eine neue, digitale Sammlung zu begründen, die erste dieser Art in Österreich. Die Idee hinter diesem Projekt ist es, zukünftigen Generationen ein digitales Erbe zu hinterlassen, eine digitale Flaschenpost in die Zukunft zu schicken. Und die Resonanz auf diesen Aufruf war unglaublich positiv. Trotzdem kamen wir in manchen Bereichen an unsere Grenzen. Gewisse Dinge kannst du nicht sammeln. Die Stimmung zum Beispiel, diese ungewöhnliche Stille im Bus, weil Atemschutzmasken Kommunikationsbarrieren sind. Oder diesen merkwürdigen Moment vor jeder Begrüßung – plötzlich wissen wir nicht mehr, wie nahe wir unserem Gegenüber kommen können: „Bist du noch auf Distanz?“ Das Sammeln der Gegenwart war für Museen schon immer wichtig. Durch Corona hat das Thema richtig Fuß gefasst: Das Thema Partizipation ist bei den Leuten angekommen, auch untereinander vernetzen sich die Museen jetzt besser als zuvor. Sogar die Medienresonanz war viel größer als vorher. Ich hoffe, das wird so bleiben. ● ○

Clemens Schmiedbauer

Otto Hochreiter, GrazMuseum, Direktor

Museen haben schon immer Ideen und gesellschaftliche Werte unterstützt und produziert. In einer Krise, von der wir nicht sagen können, ob sie eine Katastrophe ist, wäre eine solche Werteorientierung ein wichtiges Überlebensmittel unserer aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zivilisiertheit. Museen könnten also aufgrund der ihnen zugeschriebenen Glaubwürdigkeit zu wichtigen Kraftwerken nachhaltiger Zivilisiertheit werden. Per se wird es kaum ungeeignete Dinge für das Sammeln der Gegenwart geben, es sei denn, es sind Lebensmittel. Das wird immer eine Frage des Kontexts sein. Und eine Frage des Publikums. Ramsch wären Objekte, die austauschbare, industrielle Produkte sind, die – in unserem Fall – keinen Bezug zur Stadt haben; wertvoll wären sie, wenn sie Hinweise geben auf Schicksale, Lebensumstände und Ereignisse, die erzählenswert sind. 

Für unsere Corona-Sondersammlung wurde ein riesiges Transparent abgegeben, mit dem Sturm-Graz-Fans das Krankenhauspersonal des Landeskrankenhauses als neue Heldinnen feiern. Es hing über einer Ausfallstraße der Stadt und berührte viele Grazerinnen und Grazer sehr.

Ein wichtiges Kriterium für das Sammeln von Gegenwart ist, ob es zu vielleicht banalen Objekten eine glaubwürdige Geschichte gibt. Ein weiteres ist die Signifikanz: das Sprechende des Objekts oder Mediums. Und die Einschätzung aufgrund unserer Erfahrung, ob das Objekt in Zukunft als relevantes Zeugnis der Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist, angesehen werden wird. Und: Objekte haben ihr eigenes Recht in ihrem bedeutungslosen Zeitgestus, den sie auch in sich tragen. Sie sprechen für sich selbst in der eigentümlichen Sprache der Dinge. Was heißt das dann aber für die Eingangskriterien der Sammlungen? Kommt dann das Kriterium der enigmatischen Faszination hinzu?

Wir haben nicht gewartet.

Wenn man viele Kinder hat, kann keines ein Lieblingskind sein. Ein wenig ist das auch im Museum so. Es gibt die Pflicht des Museumsdirektors, alle Objekte gleich „lieb“ zu haben. Aber gut repräsentiert unser Gegenwart-Sammeln eine Fotografie von Franziska Schurig. Wir haben sie mit einem sehr engen Briefing beauftragt, von jeder der 426 Haltestellen in Graz ein Foto zu machen, um die Anmutung der Stadt im Herbst 2017 zu dokumentieren. Wir warteten in diesem Fall also nicht, dass uns etwas Signifikantes für die Sammlung angeboten wird, sondern waren selbst Auftraggeber. 

Grundsätzlich gilt: Ob ein Museum Grab oder Schatz ist, ob es spricht oder schweigt, hängt einzig von den Besucherinnen und Besuchern ab. ● ○

Philipp Podesser