Elisabeth Oberzaucher
Katharina Fröschl-Roßboth
Elisabeth Oberzaucher

Oberzaucher

„Das halte ich für Bullshit“


Die Verhaltensforscherin und Biologin Elisabeth Oberzaucher über Wendepunkte der Digitalisierung, verfehlten Kulturpessimismus – und die Gemeinsamkeiten von Casinos und Facebook.

Zwei Katzen wohnen mit Elisabeth Oberzaucher. Als ich wie vereinbart in den kleinen Garten der Verhaltensforscherin komme, finde ich ihn menschenleer vor. Die Getigerte indes macht bei meinem Anblick große, überraschte Augen. Sie versucht, mich einzuschätzen, besieht mich scheu und neugierig zugleich, und als ich sie freundlich anspreche, flüchtet sie. Die Gefleckte taucht auf. Kaum haben wir Blickkontakt, rennt sie mir zu, schmiegt sich an mein Hosenbein und will gestreichelt werden. „An Katzen mag ich, dass sie sehr selbstbestimmt sind“, wird Elisabeth Oberzaucher später erzählen. „Katzen tun immer, wonach ihnen der Sinn steht und nicht, wonach ihren zweibeinigen Gefährten ist.“ 

Elisabeth Oberzaucher muss man sich energiegeladen und humorvoll vorstellen. Und hoch konzentriert, wenn es sein muss. Und gleich danach wieder herzerfrischend lachend. Die gebürtige Kärntnerin forscht und lehrt an der Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Wien. Sie ist Mitglied der Wissenschaftskabarettgruppe Science Busters.

morgen: Geht es Ihnen als Verhaltensforscherin manchmal wie einer Psychotherapeutin? Bemerken Sie, dass Leute sich im privaten Gespräch bedeckt halten, weil sie fürchten, von Ihnen gescannt zu werden?

Elisabeth Oberzaucher

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Ich hoffe, dass das nicht so ist. Aber im Unterschied zu Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beschäftigt uns das individuelle Schicksal ja auch nur als Datenprodukt. Wir sind stattdessen an allgemeinen Verhaltenstendenzen interessiert. Und wir wollen auch nicht therapieren.

Einzelbeobachtungen könnten aber doch beginnende Trends anzeigen?

Oberzaucher

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Das ist nicht auszuschließen, darum lasse ich mich auch gerne inspirieren. 

Wie ähnlich sind Tiere dem Menschen?

Oberzaucher

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Uns verbindet mehr, als wir glauben. Die gemeinsame Evolutionsgeschichte ist sehr viel länger als die getrennte. Aber auch mit Pflanzen haben wir viel gemeinsam. 

Nämlich?

Oberzaucher

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Das Lebendige. Das ist das Wichtigste. Wir alle sind Lebewesen. Wer mit dieser Einstellung die Welt betrachtet, begegnet dem Leben mit einer neuen Form von Respekt.

Ab wann ist ein Lebewesen ein Lebewesen?

Oberzaucher

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Die Biologie kennt eine Basisdefinition. Lebewesen können demnach zumindest dreierlei: Wachsen, sich bewegen und sich vermehren. In unserem vernetzten Lebenskosmos spielen alle Lebewesen, auch Pflanzen, eine wichtige Rolle, selbst, wenn wir Menschen es nicht immer unmittelbar erkennen. 

Überschätzt der Mensch seine Bedeutung in diesem System?

Oberzaucher

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Definitiv. Der Anspruch des wichtigsten Lebewesens auf Erden entstand aus der selbstzentrierten Weltsicht des Menschen. Wir fühlen uns selbst am nächsten, daher kommt das Gefühl der Erhabenheit. Wir glauben, dass wir die Welt beherrschen. Aber unter Umständen denken das auch Ameisen über sich. 

Infolge des Corona-Shutdowns erfuhr unsere analoge Kommunikation eine starke Limitierung, unsere digitale eine Erweiterung. Was lernen wir aus den Erfahrungen?

Oberzaucher

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Die Digitalisierung half uns, mit der erzwungenen Isolation umzugehen. Die Potenziale der Digitalisierung wurden erstmals großflächig erkannt. Gleichzeitig aber wurde uns klar, wo ihre Grenzen liegen. Wer ganze Tage in Videokonferenzen verbringt, erkennt, wie anstrengend und ineffizient digitale Besprechungen im Vergleich zu direkten Gesprächen sind. Es fehlt zu viel. Es fehlt die Atmosphäre, das Raumgefühl, das Zwischenmenschliche, das Riechen, Spüren, die Zwischentöne. Kurzum: Die Subtilität geht verloren. Und damit das, was uns als Menschen ausmacht.

Konfiguriert sich unser Gehirn nach und nach neu, wenn wir mehr und mehr Zeit im digitalen anstatt im analogen Leben zubringen?

Oberzaucher

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Das ist anzunehmen. Zuletzt aber geschah eine immense Annäherung von der Maschine Richtung Mensch. Nicht die alte Angst scheint Wahrheit zu werden, dass der Mensch maschinenähnlich wird, sondern die Maschine wird menschenähnlich. Wendepunkt der Digitalisierung war der Touchscreen. Bis zu seiner Erfindung musste die Übersetzungsarbeit zwischen dem System Computer und dem System Mensch Letzterer übernehmen. Wir haben etwa Codes geschrieben und eine Tastatur bedient, um dem Gerät zu sagen, was es tun soll. Mit den Touchscreens wendete sich das Blatt. Unsere Kommunikation mit der Maschine wurde intuitiv. Wir greifen dorthin, wo wir etwas bewegen wollen, machen Gesten, müssen kommunikativ kaum mehr etwas lernen. Darum kommen ja sogar Kleinkinder so gut zurecht mit der neuen digitalen Oberfläche, weil sie unsere analoge Welt nachahmt. Die Übersetzungsarbeit zwischen uns und der Maschine wurde in die Geräte verlagert und somit unsichtbar. Die Geräte wurden dadurch gefühlt zu unserem eigenen verlängerten Arm, zu unserem eigenen erweiterten Gehirn. Die Kommunikation funktioniert wie selbstverständlich, fast unbemerkt. Das hat immense Vorteile, zuvorderst die Effizienz. Aber freilich birgt es auch Gefahren. Wir liefern uns unserer Dienerin, der Technik aus, machen uns abhängig und merken es oft nicht einmal.

Wir liefern uns unserer Dienerin aus.

Die Digitalisierung könnte sich als einer der maßgeblichsten Impulse für Verhaltensänderung seit Menschengedenken herausstellen, ähnlich epochal wie die Beherrschung des Feuers, die Erfindung des Rads und der Elektrizität. Wie verändert die Digitalisierung uns als Menschen? Macht sie uns reifer oder unselbständiger? Klüger oder dümmer? Großzügiger oder engstirniger?

Oberzaucher

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Per se schafft sie vorerst einmal immense Möglichkeiten. Was daraus entsteht, liegt an uns. Was Digitalisierung jedenfalls bewirkt: Sie macht uns sesshafter. Noch sesshafter als wir ohnehin schon waren. Bewegungsärmer. Evolutionsgeschichtlich sind wir als Energieoptimierer entstanden. 

Macht uns die Digitalisierung auch gedanklich sesshafter und träger?

Oberzaucher

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Das muss nicht sein. Aber gewisse Fähigkeiten, die bisher als wichtig galten, werden zunehmend verkümmern, die Fähigkeit der Navigation etwa, das Suchen und Finden nach alphabetischer Reihenfolge, das Merken von Nummern und Namen, das Auswendiglernen, das Kopfrechnen und vieles mehr, eine ganze Palette an bisher als überaus relevant erachteten Kompetenzen. Diese lagern wir zunehmend aus. Aber die frei werdenden Gehirnkapazitäten gehen nicht verloren, sie werden anders genützt. Ich bin also anderer Meinung als der Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer mit seinem Kulturpessimismus: Digitalisierung macht uns alles kaputt – das halte ich für Bullshit, dafür gibt es null wissenschaftliche Beweise. Es geht vielmehr um eine Verlagerung von intellektuellem Potenzial. Wenn wir Fakten oder Gedichte nicht mehr auswendig lernen müssen, sondern es für die Problemlösung genügt, zu wissen, wo ich nachschauen muss, es also reicht, die Ordnungssysteme zu verstehen, dann kann das durchaus helfen, sich in einer immer komplexer werdenden Welt besser zurechtzufinden.

Aber ist es erstrebenswert, dass wir uns unserer Selbstständigkeit berauben und unserer Kulturtechniken? Zudem besteht der Sinn des Lebens nicht nur im Lösen von Problemen, sondern etwa auch im ästhetischem Genuss, in der Lebensfreude. Gedichte zu rezitieren kann, wenn schon nicht wirtschaftlich, so doch menschlich gewinnbringend sein.

Oberzaucher

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Die Digitalisierung verhindert Gedichte ja nicht. Aber unsere aktuelle Geisteskraft auf gefragte kognitive Fähigkeiten aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert zu konzentrieren, etwa auf das Kopfrechnen, wäre nicht sinnvoll. Stattdessen bietet die Digitalisierung die große Chance, dass wir uns mit den freiwerdenden Gehirn- und Zeitkapazitäten der Komplexität der aktuellen Probleme annehmen, der Globalisierung, des Klimaschutzes, der Bildung, der Gleichberechtigung, der Schere zwischen Arm und Reich.

Das klingt schön. Aber passiert infolge der Digitalisierung nicht das Gegenteil? Um die großen Zusammenhänge, so scheint mir, kümmern sich immer weniger Menschen. Immer mehr hingegen verlieren sich in nebensächlichen Details, in Ablenkungen, in simpler Unterhaltung und Konsum. Selbst in den Schulen gilt es als modern, auf Spezialisierung zu setzen, auf Ausbildung statt auf Bildung.

Oberzaucher

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Das ist die Gefahr: Dass sich die Mehrheit nur das aus den digitalen Möglichkeiten wählt, was leicht verdaulich ist und wirtschaftlich raschen Gewinn verspricht. Der allgemeine Blick auf das Große und Ganze fehlt sehr vielen. Im Berufsleben und auch in meinem Umfeld, der Wissenschaft, ist Spezialisierung der einfachste Weg, um Karriere zu machen. Für die aktuell großen Themen der Menschheit und des Planeten aber braucht es das Integrative, die Zusammenführung von Wissensgebieten und die Fähigkeit, Komplexität zu denken. Die Digitalisierung böte dafür die Basis, sie nähme uns die Detailarbeit ab, das ist ihr potenziell größter Vorteil. Um dieses Potenzial zu heben, müsste das System die Menschen allerdings entsprechend motivieren.

Der Blick auf das Große und Ganze fehlt sehr vielen.

Was nicht geschieht, weil die großen Player der Digitalisierung wie Alphabet, Facebook, Apple, Micro­soft und Amazon kein Interesse daran haben. Stattdessen passiert zugunsten deren unternehmerischen Eigennutzes das Gegenteil: Die Lenkbarkeit und Konsum­affinität der Menschen wird gesteigert. Etwa mittels Algorithmen und Kommunikationsdesigns der sozialen Medien.  

Oberzaucher

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Unbemerkte Algorithmen, selektive Inhalte auf sozialen Medien, manipulative Verhaltensökonomie – ja, all das sind die Schattenseiten und das größte Risiko. Es sind Themen, mit denen ich mich häufig auseinandersetze. Nudging etwa, also Menschen wohin zu schubsen, wo man sie gerne hat, und damit ihre Intentionen zu unterwandern. Das Paradebeispiel für manipulativ gebaute Umwelten sind Casinos. Das sind für den wirtschaftlichen Nutzen perfekt designte Umgebungen. Casinos sind sozusagen Architektur gewordenes Nudging. Hier ist alles bis ins letzte Detail auf den maximal zu erzielenden Gewinn ausgerichtet. Die Umgebung und die Situation sind so gestaltet, dass die Menschen möglichst lange bleiben, gar nicht mehr das Bedürfnis verspüren, irgendwo anders hinzugehen, und weitermachen und weitermachen und die Welt rundum vergessen.

Exakt das passiert auch im Casino der digitalen Welt.

Oberzaucher

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Genau. Soziale Medien sind gebaut wie Casinos. Das ist natürlich ein Dilemma. Auch für mich persönlich als Wissenschaftlerin, denn je mehr Wissen ich darüber generiere, wie wir Menschen ticken, desto weiter mache ich die Türen auf für die Casinos. Gleichzeitig wird dieses Wissen aber ohnehin erarbeitet, da alleine die drei größten digitalen Unternehmen dieser Welt ungleich höhere Forschungskapazitäten haben als die globale freie Wissenschaft zusammengenommen. Umso höher ist die Verantwortung der freien Wissenschaft, auf das negative Potenzial hinzuweisen. Und: zu zeigen, dass es auch anders geht. Die Initiativen dazu werden uns die globalen Player allerdings nicht nahelegen. Das müssen wir schon selbst anpacken.

Wir befinden uns also in einem Tauziehen ungleicher Kräfte. Auf der einen Seite die globalen digitalen Player, auf der anderen Seite die Interessen der 99 Prozent?

Oberzaucher

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So kann man es sehen. Und man sollte sich nicht den Casinos unterwerfen.

Die Crux ist allerdings, dass die Casinos, sowohl die klassischen als auch die digitalen, gemocht werden. Die Menschen lieben es, dort viel Zeit zu verbringen, sich aller privaten Geheimnisse zu entledigen und Geld auszugeben. Mehr noch, Siri und Alexa sind zu Freundinnen geworden.

Oberzaucher

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Und zu viele machen sich keine Gedanken darüber, dass sie sich ihnen gegenüber gläsern machen und abhängig. Dieses Verhalten treibt seltsame Blüten: Die Corona-App vom Roten Kreuz installieren wir nicht, weil sie uns angeblich überwacht, tatsächlich tun wir es aber deshalb nicht, weil sie weniger smart und sexy ist als Alexa und wir keinen Spaß damit haben. Das ist absurd und zeigt, wie unreif wir Menschen in der digitalen Welt herumstolpern. Auf Facebook posten die Leute: Ich installiere mir die Corona-App nicht, weil sie mich gläsern macht. Die blanke Absurdität in einem Satz. ● ○