Standpunkte

Können wir als Individuen den Klimawandel stoppen?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage.

Veränderungen von oben

Wir brauchen nicht eine Person, die perfekt das Klima schützt, sondern viele Personen, die unperfekte Maßnahmen setzen – so entsteht eine Bewegung. Man kann zum Beispiel demonstrieren oder etwas an seinem Lebensstil ändern. Politischer Wandel und Systemwandel funktionieren nicht ohne Individuen. Man braucht die breite Masse und Veränderungen von oben. Individuen können andere Individuen beeinflussen. Ich bin zum Beispiel seit dreieinhalb Jahren Vegetarierin. Wir versuchen, regional und biologisch einzukaufen, und ich bin erst einmal geflogen. Ich habe schon einige Freunde beeinflusst, ebenfalls vegetarisch zu leben, und auch meine Mutter ist seit einem Dreivierteljahr Vegetarierin. Aber das funktioniert nur, wenn die Menschen generell für Klimaschutz offen sind. Ich habe auch schon viele Diskussionen mit Personen geführt, die gar nicht offen dafür sind. Dann ist es schwierig.

Durch die Klimakrise wird eine Veränderung kommen, und sie wird uns alle betreffen. Die Frage ist: Wollen wir sie kommen lassen, ohne zu wissen, wohin wir steuern? Oder wollen wir sagen: Hey, ich möchte meine Zukunft selbst in die Hand nehmen? An der Corona-Krise finde ich interessant zu sehen, wie schnell Regierungen Änderungen in Kraft setzen können. Wir fordern schon lange, Sachen wie Inlandsflüge abzuschaffen. Immer wurde gesagt, das sei nicht möglich. Jetzt ist es möglich. Ich denke aber, dass es noch radikalere Änderungen braucht, als zum Beispiel Flüge auf eine gewisse Distanz zu streichen.

Vorgehen, vorstreiten, vorkämpfen

Ich bin überzeugt, dass jeder und jede Einzelne etwas gegen den Klimawandel tun kann und scheue mich, die Dynamik der Einstellung „Ich allein kann eh nichts ändern“ zu unterstützen. Es geht um das Überdenken einfacher Handlungsweisen: Fahre ich mit dem Zug oder fliege ich? Nehme ich das Auto oder das Fahrrad? Brauche ich jede Woche meine Avocado oder betrachte ich sie als Luxusgut, das ich mir einmal im Jahr gönne? Brauche ich täglich Fleisch? In unserer Greißlerei ist die Nachfrage seit den Ausgangsbeschränkungen auf das Doppelte gestiegen. Unsere Stammkundinnen und Stammkunden kaufen gleich viel wie vorher, aber es gibt Käuferinnen und Käufer, die neu dazukommen. Meine Einschätzung ist, dass sie sich in dieser Zeit daran erinnern, wie gut es ist, die regionalen Strukturen zu unterstützen. Wenn ich Betriebe unterstütze, die nachhaltig wirtschaften, kann ich schon ganz schön viel tun. Es gibt so viele tolle Initiativen und Menschen, die Wege vorgehen, vorstreiten, vorkämpfen – denen zuzuhören wäre schön. Es gibt Repair-Cafés, Tauschkreise, Secondhand-Läden, regionale Gastronomie sowie Künstlerinnen und Künstler, die es gerade besonders schwer haben.

Die Frage ist, was wir Positives aus der Corona-Krise mitnehmen. Sie ist eine Chance, darüber nachzudenken, was wir wirklich brauchen. Werden die Menschen danach sagen: Jetzt fliege ich erst recht durch die Gegend und kaufe Waren vom anderen Ende der Welt? Oder werden sie überlegen, ob diese Reise wirklich nötig ist und ob sie jene Konferenz per Skype abhalten können? Die Hoffnung auf eine Systemveränderung stirbt zuletzt.

Wir sind auf einem Irrweg

Prinzipiell bin ich ein Optimist: Ja, wir können als Individuen den Klimawandel stoppen. Wir sehen an der Corona-Krise, wie das normale Leben aufhört, der Tourismus pausiert, Lkw-Fahrten nehmen ab. Dadurch erholt sich die Natur, die Luftverschmutzung geht zurück, und in Venedig schwimmen wieder Fische in den Kanälen. Wir haben durch den Lockdown ein Bild vor Augen, wie es geht: Man muss die Überproduktion radikal zurückfahren und die Dinge qualitativer und sorgfältiger gestalten, damit sie länger halten. Die Vorbildwirkung Einzelner ist dabei sehr wichtig. Ich setze einen radikalen Schritt und höre nach 20 Jahren mit dem Neubau auf, weil ich sehe, dass wir auf einem Irrweg sind. Wir bauen viel zu viel und zu kurzlebig. Es kann nicht sein, dass ein Bau nach 30 Jahren ein Totalschaden ist oder Plastikfenster nach 20 Jahren entsorgt werden müssen. Bauen ist seit 100 Jahren ein weitgehend industrieller Prozess. Was die Industrie macht, hat nur mit Geld zu tun. Wir folgen hier den falschen Signalen.

Ich habe durch viele Projekte im Denkmalbereich gesehen, wie viel langlebiger früher gebaut wurde. Wir haben eine Vielzahl von Ortskernen mit Altbauten, die vor unseren Augen verfallen, obwohl sie mehrere Hundert Jahre alt sind und bewiesen haben, wie hochwertig sie sind. Ich werde mich um das Wachsen des Bewusstseins bemühen, dass wir alte Bestände weiterbenützen sollten. Ich widme mich der Vermittlung von Alternativen und habe begonnen, Bücher darüber zu schreiben. Mein Ziel der nächsten Jahre und Jahrzehnte ist, aufzuzeigen, wie es anders geht.