Kolumne

Abstand halten, Nähe schaffen


Lieber Alexander,

der Frühling schießt in die Knospen der Bäume ein, die Sonne verspricht warme Tage, die schönste Zeit des Jahres beginnt. Und trotzdem ist alles anders als sonst. Nicht nur, dass Du gerade jetzt auf die Welt kamst, sondern weil sich plötzlich alles zu verändern begann. Ein Virus verbreitet sich auf der Erde schneller als gedacht, es fliegt von Mensch zu Mensch, die Verunsicherung steigt. Was ist erlaubt, was dürfen wir noch, was ist es, das die Menschen krank macht?

Du bist erst ein paar Wochen alt, liegst in Deinem Bettchen, ahnst nichts von der Bedrohung, die draußen auf uns lauert. Nur ein einziges Mal haben wir uns kurz gesehen, am zweiten Tag nach Deiner Geburt. Ich hielt Dich im Arm, wunderte mich, wie leicht und zerbrechlich Du bist, genoss Deine Wärme. Ein kleines, hilfloses Baby, das auf unseren Schutz angewiesen ist. Dann kam das Gesetz über die Quarantäne, und wir halten uns daran. Seitdem schicken Deine Eltern schöne Bilder und Videos, damit ich sehen kann, wie Du von Tag zu Tag ein bisschen größer und kräftiger wirst, so dass Du Dich schon nach Deinem großen Bruder, der in Deiner Nähe spielt, umdrehen kannst.

Quarantäne. Isolation. Das heißt, fern von allen Menschen zu bleiben, hinauszugehen, nur um das Notwendigste zu besorgen, schauen, wie Nudeln, Reis, Sugo und Toilettenpapier schwinden. Kein Theater, kein Kino, kein Vergnügen. Dafür Bücher lesen, fernsehen, basteln, musizieren. Abstand halten. Universitäten, Schulen, Kindergärten, Cafés, Restaurants und Geschäfte sind geschlossen, nur Ärzte, Pflegepersonal, Angestellte im Lebensmittelhandel, Polizisten, Busfahrer und Piloten verrichten ihren Dienst, alle Büroberufe wurden auf Homeoffice umgestellt. Abstand halten.

Wir haben es gut. Unser Garten ist groß, den Fluss oder die nahen Seen kann man bequem zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen, sogar ein kleiner Wald steht gleich vor der Tür. Wie gern würde ich Dir das alles zeigen! Es geht aber im Moment nicht. So gehe ich allein oder mit Deinem Opa in die Natur spazieren, treffe dort nicht nur Hasen und Rehe, sondern manchmal auch andere Menschen, die vor der Vereinsamung in den eigenen vier Wänden ins Freie flüchten. Wir winken uns von Weitem zu, wünschen gegenseitig Gesundheit und baldige Rückkehr der „normalen Zeiten“ und gehen weiter.

Mehrmals am Tag gehe ich durch den Garten und höre der Stille zu. Im hinteren Teil blühen Marillenbäume, am Bach der Dirndlstrauch und Forsythien, sogar das im Vorjahr vom Biber angegriffene Mandelbäumchen hat sich erholt und ist in seiner gewohnten Art aufgeblüht. Am Zaun sprießen diverse Kräuter zwischen den Primeln aus der Erde, die Tulpen kämpfen sich gerade durch, die Veilchen im Gras rotten sich zu violetten Teppichen, im Kirschbaum zwitschern die Amseln um die Wette. Stille, die nur der Nachbar mit seinem leisen Klopfen in der Scheune unterbricht. Ein wohlwollendes Geräusch, das bezeugt, dass in der Nähe Menschen leben.

So sieht die Entschleunigung aus, von der wir oft sprachen, die wir uns aber selten gönnten. Auf der Straße geht kein Mensch, keine Autos fahren vorbei, im Fernsehen und im Radio gibt es fast nur Sondersendungen, Pressekonferenzen, Expertenberichte. Weltweit soundso viele Infizierte, soundso viele Tote, soundso viele Geheilte. Statistiken, die nichts Gutes verheißen. An den zuvor offenen Grenzen, auf die wir als Europäische Union so stolz waren, sind die Grenzbalken wieder gefallen, die Welt kämpft gegen einen unsichtbaren Feind. Das Land läuft auf Notbetrieb.

Mein Kleiner, Du wirst einmal fragen, warum die Krankheit zu uns kam. Die Frage stelle ich mir auch gerade. Rächt sich die Erde an uns mit der Pandemie für die permanente Zerstörung, die wir ihr seit Jahrhunderten antun? Möchte sie uns darauf hinweisen, dass wir vielleicht etwas falsch machen? Ist das Virus dazu da, uns Augen zu öffnen und eine Chance zu bieten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren? Die Familie zu ehren, den Nachbarn, Freunden und Arbeitskollegen zeigen, wie wertvoll sie für uns sind, die Natur zu achten, aber vor allem zu erkennen, wie verletzlich wir letztendlich sind?

Alles, was rund um uns gerade passiert, hat einen tieferen Sinn, als es auf den ersten Blick erscheint. Unabhängig von Landesgrenzen, Sprachen und Nationalitäten befinden wir uns auf einem Schiff, das wir entweder gemeinsam retten oder mit dem wir untergehen. Es geht um viel mehr als um geschlossene Geschäfte, abgesagte Veranstaltungen oder entgangene Einkommen. Es geht um Gemeinschaft und Solidarität. Es geht jetzt um richtige Entscheidungen.

Darüber, dass uns die Globalisierung mit ihren Produktionsabhängigkeiten über den Kopf gewachsen ist, brauchen wir nicht zu diskutieren. Der rücksichtslose Konsum, den wir in den letzten Jahrzehnten betrieben haben und die Krankheit, die mit Waren- und Menschentransporten rund um die Erde fliegt, zeigen, wie sehr wir uns als Menschheit in die Irre manövriert haben. Aber, um es mit Cicero auszudrücken: „Fang nie an, aufzuhören, hör nie auf, anzufangen.“ Es ist nie zu spät, den falschen Weg zu verlassen und sich neu zu orientieren.

Der Neuanfang ist eine große Chance. Jetzt schon, während der Quarantäne, merken wir, wie uns die Gespräche mit lieben Menschen gut tun, dass wir mehr Zeit für einander haben, dass sich die Natur erholt, dass Luft und Wasser sauberer sind. Sogar der Smog über China soll sich gelichtet haben.

Die Virologen und Fachleute raten der Bevölkerung, weiterhin zu Hause zu bleiben, damit das Virus keine Chance zu einer weiteren Ausbreitung bekommt. Und so üben wir uns in Geduld, demütig nehmen wir die Verlängerung der Isolation in Kauf, sitzen in unseren Häusern und Wohnungen, telefonieren mit unseren Liebsten, skypen, whats­appen, beliefern uns mit lustigen Beiträgen aus dem Netz.

Wegen des Virus darf ich Dich vorläufig nicht besuchen, und auch Du kannst mit Deiner Familie nicht zu uns kommen, um mir zum Geburtstag zu gratulieren, Deine Anwesenheit zu meinem schönsten Geburtstagsgeschenk zu machen. Dein Opa und ich gehören der vulnerablen Generation an, die sich leichter als die jungen Menschen ansteckt und einen schweren Verlauf der Infektion haben könnte. Deshalb müssen wir Abstand halten.

In dieser besonderen Zeit empfinden wir unsere Emotionen intensiver als sonst. Das Gefühl der Solidarität und Zusammengehörigkeit bringt uns näher zueinander. Ich schreibe meiner betagten Nachbarin eine Karte, damit sie weiß, dass ich, auch wenn ich schon seit Tagen nicht bei ihr war, an sie denke. Dass sich ihre Kinder, die ich bei ihr ein- und ausgehen sehe, vorbildlich um sie kümmern, beruhigt mich.

Die Post bringt ein paar Geburtstagskarten und ein Buchpaket, eine Freundin hat für mich neuen Lesestoff zusammengestellt, meine Facebookseite quillt mit Gratulationen über. In der Vase auf dem Tisch leuchten anstatt wie sonst rote Rosen aufgeblühte Kirschzweige. Dein Opa bäckt für uns alle eine Torte. Ich werde sie in Stücke schneiden, in kleine Kartons verpacken und meinen Lieblingsnachbarn an die Torschnallen hängen. Wir sollen gemeinsam feiern.

Mein liebster Alexander, wir haben Corona und im Moment mehr Fragen als Antworten. Wir bleiben zu Hause und halten Abstand. Wir verzichten auf den Kontakt mit unseren Liebsten und Freunden, tun alles dafür, dass die Epidemie gebremst wird und aus der räumlichen Distanz menschliche Nähe entsteht. COVID-19 hat die Welt verändert, der Liebe kann es aber nichts anhaben. Irgendwann wird die Wirtschaft wieder hochfahren, werden die europäischen Grenzen aufgehen und auch wir, die „Großen“, werden alles dafür tun, um das Generationenversprechen einzuhalten, auf Dich und all das junge Leben, das nachkommen wird, besser aufzupassen.

In der Vorfreude auf ein baldiges Wiedersehen in voller Gesundheit umarmt Dich aus der Entfernung

Deine Babička ● ○

(Babička istslowakisch für "Oma")