Nördliches Niederösterreich, ein Haus mit weiten Fensterfronten. Der Blick reicht über den Garten hinaus zu einem Winterteich. Der Romancier Robert Menasse aber hat dieser Tage nur Augen für eines, er steht im Arbeitszimmer vor seinem Flipchart. Darauf sind Namen von Romanfiguren geschrieben, deren Beziehung zueinander, Ereignisse, die ihnen widerfahren werden. Festgeschrieben ist ihr Schicksal noch nicht, ihr Leben ist gerade dabei, erste Züge anzunehmen. Es sind die Hauptfiguren in Menasses in Arbeit befindlichem nächsten Werk; dem Nachfolgebuch des 2017 erschienenen europäischen Bestsellers „Die Hauptstadt“, der als erster großer Roman über die EU gefeiert wurde und mit dem sich der 65-Jährige nach „Vertreibung aus der Hölle“ (2001) und „Der europäische Landbote“ (2012) vom deutschsprachigen zum europäischen Romancier geschrieben hat. Es ist ein Format, das Menasse passt und drückt zugleich. „Mir geht es ganz eigen in letzter Zeit“, sagt er, „ich habe Versagensängste.“
Wen wundert’s, Menasse hat nicht weniger vor, als seine weiten Grenzen zu überwinden. Das gelang ihm schon mit „Die Hauptstadt“, was ihm reihenweise literarische Ehrungen eingebracht hat, zuvorderst den Deutschen Buchpreis. Im neuen Roman will Menasse das von ihm in den letzten Jahren entworfene europäische Panorama vervollständigen. Das Format wird naturgemäß also noch größer. „An der Erweiterung um die Balkanländer“, prophezeit Menasse, „wird sich zeigen, ob Europa als Friedensprojekt historisch erfolgreich sein wird – oder verhängnisvoll an seiner Kleingeistigkeit scheitert und zusammenbricht.“
Robert Menasse betrachtet den großen papierenen Plan, die Landkarte seines Romans. So, wie er beim Flipchart steht, einen Stift in der schwebenden Hand, erinnert er an einen Dirigenten, einen dichtenden Architekten, einen Feldherrn der Poesie. Auf dem Flipchart finden sich Linien, Formen, Zeichen. Es ist der Beginn einer großen Erzählung. Die Grundrisse sind bereits zu erkennen: Große Quadrate stehen für die wichtigsten Handlungsstränge. Ein paar Überschriften für Impulse, die dem Roman Energie verleihen werden. Und zwischen alldem, etwas einsam noch, Namen von Menschen, jenen Figuren, die Menasses Roman bewohnen und ein größeres Europa zum Leben erwecken werden – oder auch nicht, falls sie scheitern sollten und mit ihnen ein ganzer Kontinent. Diese Menschen sind aus Albanien, Deutschland, Frankreich, Mazedonien, Österreich, dem Kosovo. Europäer also, allesamt Europäer.
„Nur wenn die EU bewusst gestaltet, was sie faktisch ist, nämlich eine postnationale Gemeinschaft“, sagt Menasse, „wird sie Bestand haben. Aber wird ihr das gelingen gegen die nationalistischen Zombies?“ Es ist, als habe Europas Seelenzustand den seines leidenschaftlichsten Dichters erfasst. „Versagensängste“, sagt Menasse, „ich habe Versagensängste.“
Später, wenn der wolkenverhangene Wintertag sich dem Ende zuneigt, wird von diesen Zweifeln nichts mehr zu spüren sein. Robert Menasse wird sich in Hochform reden, wird Zigaretten rauchen, Wein trinken und druckreif Zeitgeschichte analysieren, über Lage und Ausblick Europas dozieren. Und über das Schreiben und Lesen von Romanen. „Keine andere Kunstform kann so umfassend Zeitgenossenschaft reflektieren, dass wir uns erkennen und Spätere uns verstehen.“ Daraus ergebe sich auch eine Verpflichtung, eine Notwendigkeit.