Ulrike Guérot
„Wir wissen nicht genau, wo es endet"
Die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot leitet seit 2016 das Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Im Interview erklärt sie nicht nur, was Europa ist, sondern auch, was es sein könnte: eine transnationale Solidargemeinschaft der Regionen.
morgen: Sie arbeiteten unter anderem für die Europäische Kommission und gründeten in Berlin das European Democracy Lab. Was hat Sie 2016 nach Krems verschlagen?
Ulrike Guérot
:Der Auftrag der niederösterreichischen Landesregierung, das Department für Europapolitik und Demokratieforschung aufzubauen. Ich war öfter in Alpbach. Dort hat man mich über Europa reden gehört und zu einem Vortrag nach St. Pölten eingeladen. Man wollte an der Donau-Universität, weil europa- und demokratiepolitische Fragen immer wichtiger werden, ein entsprechendes Department gründen. Es gab dann eine Ausschreibung, auf die sich etwa 40 Personen beworben haben. Das war 2015. Man sprach mich an. Ich weiß noch, dass ich zuerst zögerte, mich zu bewerben. Dann dachte ich mir: Schadet ja nichts. Und jetzt bin ich hier. Was ich sagen will: Das ist nicht so vom Himmel gefallen, es war ein längerer Weg.
Sie haben in Paris, Washington, Hamburg und anderen Großstädten gearbeitet. Krems ist genau das Gegenteil.
Guérot
:Aber ich komme aus einer Kleinstadt, aus Grevenbroich zwischen Köln und Düsseldorf. Sie ist von der Einwohnerzahl und der Soziokultur her vergleichbar mit Krems, aber nicht so schön. Grevenbroich liegt unauffällig im Kohlengebiet. Was mich – abgesehen von der Wachau, den Marillen, dem Grünen Veltliner und der Kunst – anspricht: dass man sich hier hineindenken kann, ohne groß Haftung haben zu müssen. Und, seriöser gesprochen: Inzwischen sind kleinere Universitäten sowohl für die Professoren wie für die Studenten attraktiver. Das ist auch in Deutschland so. Wenn Sie die Donau-Uni zum Beispiel mit der TU Berlin oder der Ruhr-Universität Bochum vergleichen: Da geht’s uns hier richtig gut!
Sie werden also länger bleiben?
Guérot
:Ja. Ich habe ein tolles Department aufgebaut, mein Forschungsprojekt läuft erst mal bis 2023, und ich fühle mich hier wohl.
Sie beschäftigen sich mit Europapolitik. Was aber ist Europa überhaupt?
Guérot
:Ich habe lange über ein Logo für das Department nachgedacht. Blau mit zwölf Sternen: Das ist die EU, aber nicht Europa. Ich entschied mich daher für die damals vermeintlich älteste Karte von Europa. Der Theologe und Geograf Heinrich Bünting hat sie 1582 als Königin dargestellt. Erst vor einem Jahr, im März 2019, wurde in Retz eine noch ältere Darstellung entdeckt. Gerade in Retz, das hat mich total gefreut! Sie stammt vom Tiroler Kartografen Johannes Putsch und ist mit 1534 datiert. Die beiden Karten weisen große Ähnlichkeiten auf. Spanien stellt den Kopf der Königin dar, Italien den Arm, Sizilien den Reichsapfel. Die Donau ist der Mutterfluss. Und mit ein bisschen Fantasie ist Krems der Nabel. Wenn Sie mich also fragen, was Europa ist, sage ich: Sie ist eine Frau, sie ist schön, sie ist eine Prinzessin, sie ist etwas Intuitives. Und sie ist nicht die EU, sie ist nicht korrupte Kommissare und eine Bürokratie, die keiner versteht. Und was noch wichtig ist: Damals, als sich in den Religionskriegen zwischen den Katholiken und Protestanten die christliche Kirche gespalten hat, war die Europa ein Bild, ein Imago der Einheit.
Wie ist das mit der Europaskepsis, die ja eigentlich nur eine EU-Skepsis ist?
Guérot
:Ich habe die ersten drei Jahre in Mautern, auf der anderen Seite der Donau, gewohnt. Ich wollte wissen: Haben die Menschen tatsächlich ein Problem mit Europa? Und ich stellte fest: Stimmt gar nicht! Die Leute können doch alle was mit Europa anfangen. Es gibt nur ein paar, die gegen die EU sind. Und da stellt sich dann die Frage: Was sollen wir hier als Department leisten? Meine Antwort: Wir versuchen die intelligente Übersetzung. Wir versuchen, die Stimmung in der Bevölkerung in den politischen, akademischen Diskurs zu heben. Eben, dass die Menschen vielleicht mehr Europa wollen, als man denkt. Dass wir in der Politik mutiger sein könnten.
Fängt das Problem nicht damit an, dass die EU das Wort „Europa“ für sich okkupiert hat?
Guérot
:Absolut. Und dann sind wir sofort bei der Frage der Grenze. Die Europakarte lässt die Grenze nach Osten hin offen. Das Kleid der Europa reicht bis zum Bosporus und nimmt die Osttürkei nicht mit, es nimmt Galizien auf, aber nicht die Ostukraine. Es zeigt mit seinen Wellen auf: Wir wissen nicht so genau, wo es endet.
Mehrere Orte bezeichnen sich stolz als Mittelpunkt Europas. Das geht allerdings nur, weil man sich auf unterschiedliche Außengrenzen beruft. Wo endet Europa für Sie? Am Ural?
Guérot
:Es scheint etwas anderes zu geben als die Geografie. Europa ist in letzter Konsequenz immer eine Idee: der Kanon der Menschenrechte. Ich fordere in meinen Büchern, dass Europa eine Republik werden muss. Denn die Republik ist die Antwort auf die Revolution. Die Revolution ist die Forderung „Liberté, égalité, fraternité“: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und aus der Revolution ist der erste Artikel der Menschenrechte entstanden: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Was nur leider nicht die Realität abbildet.
Guérot
:Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, immer daran zu arbeiten. Sonst könnten wir ja aufhören, weil das Menschheitsprojekt der Moderne abgeschlossen wäre. Aber wenn das der europäische Wertekanon ist, dann müssen wir weiter daran arbeiten, dieses Versprechen von 1789 einzulösen. Auch wenn das – ich bin ja nicht naiv – immer schwerer wird. Wir müssen uns den Fragen stellen: Wie kann das gehen? Hat das etwas mit Verzicht zu tun? Mit Verboten? Sind wir auf dem europäischen Kontinent überhaupt noch glaubwürdig, wenn wir mit Frontex gegen die anderen vorgehen?
Und? Sind wir?
Guérot
:Beschämt müssen wir uns eingestehen, dass man uns die Menschenrechte nicht mehr abnimmt. In ehemaligen Kolonialgebieten sagt man: „Bleibt uns weg mit euren Menschenrechten! Sie waren eure Idee, sie hat nicht funktioniert, wir waren nicht auf der Butterseite.“ Diese Menschen kommen in der postkolonialen Debatte mit dem Begriff der Würde. Das ist ein ganz anderer, sehr interessanter Ansatz. Sie sagen: „Würde ohne Rechte ist uns realiter lieber als das Versprechen auf Rechte, die ihr nicht einlösen könnt.“
Sie hängen die Idee von Europa nur an der Menschenrechtskonvention auf? Gehört nicht auch das römische Recht dazu? Oder das Christentum?
Guérot
:Die christliche Religion, allerdings mit all ihren arabisch-muslimischen und jüdischen Strängen! Und das römische Recht ist natürlich omnipräsent. Wie auch die griechisch-römische Philosophie: Wenn kein Mensch allein leben kann, müssen wir uns darauf einigen, in gegenseitigem Interesse und in gegenseitiger Abhängigkeit miteinander in ein Gemeinwesen zu treten. Das ist die „res publica“, die öffentliche Sache. Die demokratischen Republiken der Gegenwart sind moderne Ausformungen dessen, was sich vor mehr als 2000 Jahren entwickelt hat. Das ist griechische Politiktheorie, römisches Recht – und europäische Geistesgeschichte. Das lässt sich nicht voneinander trennen.
Dann kommt also im Süden der Mittelmeerraum hinzu, das Gebiet des Römischen Reichs in seiner größten Ausdehnung? Und im Norden? Da gab es den römischen Schutzwall Limes …
Guérot
:Das ist im Zusammenhang mit dem Brexit interessant: Die Nicht-Nähe zu Europa hat viel damit zu tun, dass Großbritannien nicht im kontinentalen Recht verankert ist. Das Recht macht eben Gesellschaft – und Gesellschaft macht Recht. Gesellschaften formen Recht aus, und weil sie dann unter diesem Recht leben, werden sie zu der Gesellschaft, die sie dann sind. Ja, das angelsächsische beziehungsweise angloamerikanische Recht unterscheidet sich vom römischen. Das wird noch weitreichende Folgen haben – eben im Verhältnis zu den USA.
Um den Faden nicht zu verlieren: Wie ist das nun mit der Grenze?
Guérot
:Ich habe in meinem jüngsten Buch argumentiert, dass Europa ein Staat werden sollte. Und ein Staat braucht ein Territorium mit Grenzen. Ich will aber, dass man die Grenze dialektisch begreift. Die Grenze bedeutet ja nicht, dass darüber hinaus nichts existiert. Also: Ich will keine Grenze, um gegen andere zu sein. Oder um anderen überlegen zu sein. Es geht überhaupt nicht darum, irgendjemanden auszugrenzen. Aber ich brauche eine Grenze, wenn ich ein Staatswesen organisieren will. Wer darf hier wählen, wer zahlt die Steuern? Und nur die Grenze eröffnet die Gestaltungsmöglichkeit für legale Fluchtwege. Nur wenn es die Kontrolle im Inneren gibt, kann es die Handreichung nach außen geben.
Wenn es ein supranationales Europa gäbe, müssten zum Beispiel die Katalanen nicht um ihre Unabhängigkeit von Spanien kämpfen. Der Separatismus wäre Geschichte.
Guérot
:Das stimmt. Die Katalanen wollen ja nicht unbedingt einen unabhängigen Staat. Es geht aber auch um die Wallonen, die Schotten und so weiter. Ich denke daher mit vielen anderen über eine Lösung nach: Kann es ein politisches System für ein zukünftiges Europa geben, in dem die Regionen eine größere Mitsprache haben und die Bürger über ihre Region stärker an Europa gebunden sind?
Und: Gibt es eine Lösung?
Guérot
:Es hat sich herausgestellt, dass die richtige Größenordnung für eine Region bei etwa zehn Millionen Menschen liegt. Wenn wir den Kontinent mit seinen 500 Millionen Einwohnern durch zehn Millionen dividieren, erhalten wir 50 Regionen. Das wären zum Beispiel Österreich, Ungarn, die Niederlande und so weiter. Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen ließe sich einfach aufteilen – wie früher in die Rheinländer und in die Westfalen. Die Frage ist aber: Würde ich damit neue, autonomiesüchtige Nationen generieren, obwohl ich doch eigentlich den Nationalismus überwinden will? Wir haben uns daher der Frage gewidmet, was den Populismus fördert. Und sind auf ein Stadt-Land-Gefälle gestoßen: Es gibt eine eindeutige Korrelation zwischen abgehängten Regionen und Populismus. Wir haben daher im nächsten Schritt versucht, den Zwiespalt zwischen Stadt und Land zu überwinden: Wir haben eine Fantasy-Karte mit den 50 wichtigsten Städten erstellt und jeder Stadt einen gleich großen Bevölkerungsanteil zugeordnet.
Europa ist in letzter Konsequenz immer eine Idee: der Kanon der Menschenrechte.
Warum nehmen Sie die Stadt als Ausgangspunkt?
Guérot
:Wir wissen, dass die Menschen ausgesprochene Städte-Identitäten haben. Sie sind nicht unbedingt aus Katalonien, sondern aus Barcelona. Nicht aus Brandenburg, sondern aus Berlin. Städte könnten also für eine neue Definition von Regionen herangezogen werden. Zudem wissen wir aus der Geschichte: Was Europa verbindet, sind die Städte mit ihrem Netzwerk. Und es gibt eine prototypische europäische Stadt – mit Marktplatz, Kirche und so weiter. Wie es auch eine prototypische europäische Küche gibt. Natürlich haben die Italiener Pizza und die Spanier Paella und die Deutschen Eintopf. Das Gemeinsame ist aber die Resteverwertung. Was ich damit sagen will: Die Idee, Reste zu verwerten, ist nicht etwas Nationales. Ja, jede Region hat ihre Küche, ihre Kultur, ihre Trachten. Aber das hat nichts mit Identität zu tun. Und alle modernen Nationalstaaten sind multinational – mit verschiedenen Sprachen und Traditionen. Das heißt: Eine Nation sind immer diejenigen, die in einem Solidarverband leben. Und das ist die Lösung für Europa.
Der Solidarverband?
Guérot
:Ja. Das geeinte Europa steht und fällt mit der Frage, ob wir uns entscheiden, ein Solidarverband zu sein. Und das können wir. Es kann zum Beispiel eine europäische Arbeitslosenversicherung oder einen europäischen Pass geben – unabhängig davon, ob wir Deutsche, Portugiesen oder Österreicher sind. Dass wir uns in eine Solidargemeinschaft begeben – und zwar unabhängig von regionalen, geschweige denn nationalen Herkünften oder Identitäten: Das ist mein Plädoyer. ● ○