Kolumne

Europas große Ader


Vor vielen Jahren, als ich noch Studentin war, unternahm ich mit Freunden eine einwöchige Bootsfahrt auf der Donau. Jemand aus unserer Gruppe, dessen Vater als Berufssoldat dem Staat diente, besorgte aus der Kaserne ein altes Militärschlauchboot und ließ es, weil der Vater offensichtlich als ein hohes Tier beim Heer sein Ansehen genießen konnte, auf den Lido am rechten Donau-Ufer in Bratislava-Petržalka liefern. Mit Blasbälgen pumpten wir Luft in das khakigrüne Ungetüm, das schon mehrfach geflickt worden war, ließen es aufs Wasser, warfen unsere Seesäcke in die Mitte, setzten uns auf den Rand und lösten das Befestigungsseil vom Steinblock am Ufer. 

Der Strom zog uns mit. Die Erfahreneren von uns, die schon öfter eine solche Fahrt unternommen hatten, ruderten munter drauf los und steuerten forsch die Flussmitte an. Mir, die von Natur aus ängstlich war, und noch dazu zum ersten Mal bei einem solchen Abenteuer mitmachte, zog es den Hals zusammen. Tapfer versuchte ich, das rasende Herz irgendwo im Hals zu beruhigen und sagte nichts, um nicht als hysterisch oder gar verrückt zu gelten. Angst ist ein Gefühl, das sich irgendwann erschöpft, las ich irgendwo und tatsächlich: Nach ein, zwei Stunden machte es mir nichts mehr aus, riesigen Last- und Passagierschiffen, die in beiden Richtungen an uns vorbeifuhren, zu begegnen und auf den meterhohen Wellen, die ihre Motoren verursachten, zu schaukeln. 

Nachdem wir das Stadtgebiet verlassen hatten, schien sich der Schiffsverkehr zu beruhigen, und auch wir ließen die Ruder fallen und ruhten uns aus. Unser Boot trieb langsam den Fluss abwärts, uns blieb Zeit, die umliegende Natur und die Kormorane beim Fischen zu beobachten.

Irgendwann am Nachmittag hörten wir hinter uns laute Stimmen, Musik und fröhliches Lachen. Wir drehten uns um und sahen schnell zwei Holzboote auf uns zusteuern, die in ihrer Bauart an Wikingerschiffe erinnerten. Weiße Segel, Fahnen, bunte Farben. Die Ruder links und rechts, angefeuert von lauten Kommandos des Steuermanns und Trommelschlägen, stachen regelmäßig ins Wasser. Die beiden Schiffe bewegten sich in großem Tempo auf uns zu, erreichten uns innerhalb weniger Minuten und platzierten sich wie beim Kapern an unseren beiden Seiten.

Es waren Mädchen und Burschen in unserem Alter – insgesamt 14 Personen. Wie wir später erfuhren, waren es niederösterreichische Studenten, die in Wien studierten. Die beiden Boote hatten sie selbst entworfen und konstruiert, und im kleinen Jachthafen in Traismauer waren sie gestartet. Ihr Ziel war das Schwarze Meer. Wie aufregend! Englisch, die Sprache, die wir alle mehr oder weniger gut beherrschten, die aber für die fröhliche Kommunikation zwischen Ost und West genügte, schaffte Gemeinschaft. 

Wir hatten eine Gitarre an Bord, die Österreicher zwei. Eine davon sogar mit zwölf Saiten. Gleich gingen die Instrumente von Hand zu Hand, die Musiker probierten ihre Akkorde, Bob Dylan vereinte uns im Nu. How many roads must a man walk down / Before you call him a man? / How many seas must a white dove sail / Before she sleeps in the sand? Wir sangen, irgendwo tauchte eine Mundharmonika auf, und sogar eine Blockflöte, auf die die Donau-Möwen, die uns kreischend umkreisten, völlig wild waren.

Die Sonne hinter uns begann sich zu senken, wir steuerten das linke Ufer an und luden unsere neuen Freunde ein, mit uns die Nacht am Lagerfeuer zu verbringen. „Das dürfen wir nicht“, sagten die Österreicher, „wir haben das Visum nur für Ungarn. Kommt mit uns auf die andere Seite.“ Das ging wiederum nicht für uns, weil wir, obwohl Ungarn dem sozialistischen Block angehörte, eine Reisebewilligung gebraucht hätten, die wir nicht hatten. Unsere Reise sollte im slowakischen Komárno enden.

Was nun?

„Egal“, sagte einer aus dem Holzboot. „Wir legen auf der slowakischen Seite an. Wenn sie uns erwischen, passiert weniger, als wenn ihr in Ungarn aufgegriffen werdet.“ So viel Mut und Solidarität hat mich beeindruckt. Wir zogen die Boote aufs Ufer, bauten unsere Zelte auf, sammelten Brennholz und errichteten eine mit Steinen umrandete Feuerstelle. Und bis in die frühen Morgenstunden gab es nur Reden, Lachen, gegrillte Würstchen, gekühltes Bier, Rolling Stones, Bee Gees und Beatles. Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion, too / Imagine all the people / Living life in peace.

Als ich aufwachte, waren die Österreicher schon weg. Aus Angst, von der Wasserpolizei auf fremdem Territorium entdeckt zu werden, waren sie beim Tagesanbruch losgefahren. Wie sich später herausstellte, war ihre Entscheidung richtig. Kaum waren sie weg, hatten wir eine Kontrolle. Wir zeigten unsere Ausweise, sagten, wohin wir fahren und bekamen eine Rüge wegen der offenen Feuerstelle. Mehr ist nicht passiert. 

Die restliche Woche verbrachten wir mit Bootfahren, Schwimmen, Grillen, Musizieren, aber vor allem mit dem Erzählen und Analysieren unserer wunderbaren, internationalen Begegnung. Wie kann das sein, dass die Österreicher, die nur ein paar Kilometer von uns entfernt leben, freier aufwachsen und sich in der Welt bewegen können, als es uns erlaubt wird, fragten wir uns. Warum sind wir auf einige Länder beschränkt, warum dürfen wir nicht auch dort hinfahren, wo wir hinwollen?

Inzwischen ist viel Wasser durch den großen, grauen Fluss geflossen und Europa zu einem organischen Staatengebilde zusammengewachsen. Keiner innerhalb der Europäischen Union wird daran gehindert, irgendwo anzulegen und zu verweilen. Die Donau, Duna, Dunaj, Dunav, Dunărea, wie sie in verschiedenen Landessprachen genannt wird, die zehn Länder miteinander verbindet, lebt immer noch ihr eigenes Leben, flüstert leise ihre längst vergessenen Geschichten, bildet Verästelungen, vereint sich mit anderen Gewässern, wächst und fließt scheinbar stoisch dahin. Dabei griff sie in der Vergangenheit oft stark ein in die Schicksale der Menschen, sogar ganzer Nationen. Sie war gleichzeitig die Grenze zwischen zwei Welten, die es zu überwinden galt, und die große Ader, die ihre Länder und Bewohner mit Nahrung und Energie versorgte. 

Auch mich brachte das Schicksal an ihr rechtes Ufer, wo ich all das, wovon ich bei meiner ersten Donautour erfuhr, kennenlernen, mich sogar in der geborgten Erde verwurzeln konnte. Manchmal, wenn ich am Bach, der durch unseren Garten fließt, sitze, beobachte ich Fische und die kleinen Pflanzenreste, die an mir vorbeischweben, kleine Schiffchen, die das Wasser vor sich hertreibt, vom Bach in die Traisen, dann in die Donau, nach Bratislava, meine einstige Heimatstadt, und dann ins Schwarze Meer. Das Wasser, das einst trennte, vereint uns. 

Gleich am Anfang meiner Österreichjahre dachte ich oft daran, einen Brief, eine Nachricht zu schreiben und sie in einer verschlossenen Flasche auf die Reise zu meinen Liebsten, die daheimgeblieben waren, zu schicken. Heute reicht es mir zu wissen, dass wir alle verbundene Gefäße sind, dass die Nachrichten, die ich sende, auch ohne die Flaschenpost bei den richtigen Menschen ankommen werden. ● ○