Schlagbilder

Viel Schneid


Wer sich mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs beschäftigt, stößt unweigerlich auf ein Sujet, ausgeführt in vielen Varianten: Politiker schneiden durch einen Grenzzaun. Was hat es mit diesen Fotos auf sich? Wie entstanden sie? Und wie bedeutend sind sie wirklich? morgen fragte nach.

Es ist immer dieselbe Szenerie: Zwei Politiker stehen einträchtig mit einer Zange oder einem Bolzenschneider vor einem Stacheldraht, den einer von ihnen durchtrennt. Zumeist umringt von einer Menge anderer Personen, die Gesichter sind fröhlich.

Genau dieses Sujet begleitet das diesjährige 30-Jahr-Jubiläum beharrlich. Wenn Publikationen die Öffnung des Eisernen Vorhangs feiern, hieven sie häufig ein solches Bild auf ihren Titel; es schmückt Broschüren, Einladungen und sogar einen VW-Bus des Hauses der Geschichte in St. Pölten. Im kollektiven Gedächtnis haben sich diese Szenerien unweigerlich festgekrallt. Und wenn man in die Google-Bildersuche „Fall des Eisernen Vorhangs“ oder „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ eingibt, spuckt die Suchmaschine, zumindest in Österreich, eine ganze Reihe derartiger Fotos aus. Erst weiter unten folgen andere: von Menschen, die Grenzen überschreiten oder auf der Berliner Mauer stehen, von Landkarten, auf denen der Verlauf der Trennlinie eingezeichnet ist.

Schlagworte, Schlagbilder

Der Kunsthistoriker Oliver Grau leitet das Department für Bildwissenschaften an der Donau-Universität Krems. Gerade hat ihm das Land Niederösterreich den Würdigungspreis für seine wissenschaftlichen Leistungen zuerkannt. Wenn sich einer mit Bildern auskennt, dann er. In seinem Büro spricht er an einem Vormittag im September über jene Bilder, die das diesjährige Jubiläum so stark prägen. „Ein Schlagbild ist ein Bild, in dem sich eine Botschaft verdichtet, um die intendierte Wirkung zu optimieren“, sagt er. Um ebensolche handelt es sich ihm zufolge. Der wegweisende Kunsthistoriker Aby Warburg prägte diesen Terminus, in Anlehnung an den Begriff „Schlagwort“. Grau zeigt ein Bild, auf dem der damalige österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn zu sehen sind, ein Foto von Bernhard J. Holzner: „Dieses Bild hat einen sehr symmetrischen Aufbau entlang einer Achse. Beide Politiker schneiden einträchtig ein Stück Grenzzaun durch, als würden sie mit einer Schere eine Autobahn oder Shoppingmall eröffnen. Es handelt sich um ein inszeniertes Schlagbild, wenige Wochen, nachdem die Grenze in Teilstücken bereits abgebaut war.“

Das Foto entstand, gemeinsam mit vielen anderen, am 27. Juni 1989. Zwar hatte man in Ungarn bereits am 2. Mai mit dem Abbau der Grenzen begonnen. Doch ein massenmedial verbreitetes Bild fehlte zu diesem Zeitpunkt noch. So kam die Idee auf, ein solches selbst zu inszenieren. Wer den Anstoß dazu gab – der Fotograf Bernhard J. Holzner oder Mitarbeiter des damaligen Außenministeriums –, darüber gehen die Ansichten ebenso auseinander wie über die Frage, wie einflussreich diese Bilder tatsächlich waren.

Mosaiksteinchen

Die gängige Darstellung lautet wie folgt: Nachdem die Bilder im Juni 1989 „um die Welt“ gegangen seien, sahen sie die Bürgerinnen und Bürger in der DDR im Westfernsehen. Daraufhin hätten sie sich rasch auf den Weg nach Ungarn gemacht und seien nach Österreich gegangen. Also ein „schicksalsträchtiges Ereignis“, bei dem „vor den Augen der Weltöffentlichkeit der Eiserne Vorhang an der österreichisch-ungarischen Grenze durchschnitten“ wurde? So drückt es jedenfalls der Publizist und langjährige Pressesprecher Mocks, Herbert Vytiska aus, in dem Band „Schauplatz Eiserner Vorhang“, 2012 vom Verein zur Dokumentation der Zeitgeschichte in Weitra herausgegeben. 

Nachfrage bei Christian Rapp, dem  wissenschaftlichen Leiter des Hauses der Geschichte in St. Pölten. „Ich halte die Bedeutung der Fotos, auf denen Alois Mock und Gyula Horn den Zaun durchschneiden, für ziemlich überschätzt. Auch Mock selbst war nicht besonders überzeugt davon, dass sie entscheidend gewesen wären. Die Aktion war eines von vielen Mosaiksteinchen in einem über den ganzen Sommer 1989 dauernden Prozess“, sagt er. „Einige Exegeten laden sie aber jetzt mit großer Bedeutung auf. Es wird versucht, aus einem PR-Ereignis – und mehr war dieser Zaundurchschnitt nicht –, einen historischen Meilenstein zu machen. Da erleben wir history in the making. Die Vorstellung, dass das Bild im Fernsehen die Massen in Gang setzte, ist nicht zutreffend.“ Schließlich sei die Produktion des Zauns schon lange vorher eingestellt worden: „Die Ungarn hätten für rostfreien Stahl aus dem Westen zur Erneuerung des Stacheldrahts viel Devisen zahlen müssen, die sie nicht hatten. Also beschlossen sie, den Zaun abzubauen, da sie ihn selbst nicht mehr brauchten. Denn bei ihnen gab es schon seit 1988 weitgehende Reisefreiheit. Es war keineswegs so, dass der Abbau des Zauns nirgends bemerkt worden wäre.“ Bereits Anfang Mai habe die ARD einen kurzen Bericht dazu ausgestrahlt. „Der wurde auch in der DDR gesehen und ernst genommen – vor allem von jungen Leuten. Und viele beschlossen damals, den Sommer in Ungarn zu verbringen.“

Souveräner Schnitt

Das ändert nichts an der Verbreitung der Bilder heute. Wenige Monate später wurden ähnliche Fotos auch in Oberösterreich, mit dem damaligen Landeshauptmann Josef Ratzenböck, und in Niederösterreich, mit seinem Kollegen Siegfried Ludwig, inszeniert. Einer von jenen, die damals vorne dabei waren, heißt Herbert Schleich. Der Fotograf im Ruhestand, der damals für die niederösterreichische Landeskorrespondenz arbeitete, empfängt morgen zum Interview in seinem Haus im nördlichen Weinviertel. Zu Kaffee und Ribiselkuchen gibt es Fotos, Erinnerungen und ein Stück Stacheldraht, montiert auf einem Brett und mit dem Datum 17.12.1989 versehen. Diesen Zaunabschnitt sicherte er sich an jenem Tag, als Ludwig in Kleinhaugsdorf mit Jiří Dienstbier zusammentraf, dem damaligen Außenminister der Tschechoslowakei, bejubelt von 2.000 bis 3.000 Menschen, wie Schleich sagt. Später ging es nach Laa an der Thaya, wo auch Mock dabei war. „Am Grenzübergang Laa an der Thaya / Hevlín stand noch der originale Eiserne Vorhang, im sogenannten Niemandsland. An die 40 Fotografen und an die 20 Fernsehteams, national und international, waren postiert“, erinnert er sich und setzt nach: „Als Fotograf musst du dir deinen Platz erkämpfen, gelegentlich die Ellbogen ausfahren. Es ist doch klar, jeder Fotograf will den besten Platz, um das beste Foto zu machen.“ Das Gedränge kann man sich vorstellen: „Ich stehe zentral in der Mitte in der zweiten Reihe, augenscheinlich ein guter Platz. Plötzlich steht vor mir ein Fotografenkollege auf und schlägt mir meinen Apparat unabsichtlich an meine Unterlippe, ich blutete.“ In einer halben Stunde sei die Angelegenheit erledigt gewesen. 

Im Gegensatz zu heute, wo Fotografinnen und Fotografen pro Termin zig, wenn nicht Hunderte Fotos schießen – Speicherplatz ist schließlich genug vorhanden – waren die Kapazitäten damals limitiert. „Ich habe damals an die 15 Fotos von Landeshauptmann Ludwig, Alois Mock und Jiří Dienstbier gemacht. Ich war über die Aussagekraft der Bilder erfreut.“ 

Das Sujet – zwei Politiker durchtrennen etwas – war für Schleich kein ungewöhnliches. Kunsthistoriker Oliver Grau sagt: „Die anderen Bilder wie jenes von Herbert Schleich folgen demselben Schema. Das ist kein Niederreißen einer Mauer oder einer Zaunanlage, sondern ein souveräner Schnitt unter Sympathiekundgebung der Umstehenden. Die Inszenierung, dass zwei Politiker von zwei Parteien oder von zwei gegensätzlichen Ländern nunmehr gemeinsam auf einer Seite auftreten und einen gemeinsamen Schnitt vollziehen, entspricht einer gewohnten Ikonografie. Man findet sie in der gesamten Nachkriegszeit in der zentraleuropäischen Politik: bei Eröffnungen von etwas Neuem, Gemeinsamem.“ Im Gegensatz zu Eröffnungen von Kreisverkehren oder Kindergärten kommt hier allerdings Stacheldraht ins Spiel. „Der Stacheldraht wird mit Nationalsozialismus und Gulag assoziiert. Die Erinnerung an die damit verbundenen Opfer schwingen bei der Bildfindung mit.“ 

Die Faszination dieser Bilder hält bis heute an, scheint sogar eher stärker zu werden. „Die Fotos haben sich vor allem in den letzten 15 Jahren stark verbreitet. Unser Bedürfnis nach emblematischen Bildern ist eben groß. Sie eignen sich hervorragend, um zum Beispiel in Geschichtslehrbücher eingebaut zu werden“, meint  Christian Rapp. „Wenn es solche Bilder nicht gäbe, bliebe unsere Vorstellung von den Ereignissen vage.“ ● ○