Eiserner Vorhang

Vorhang auf!


Menschen, die in Österreich aufgewachsen sind, assoziieren die Öffnung des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren häufig mit Schwarz-Weiß-Fotos. Auch das diesjährige Jubiläumsjahr steht ganz im Zeichen der Erinnerung. Wenn wir diesem nun unser Special widmen, dann interessiert uns jedoch nicht nur der Blick in die Vergangenheit, sondern darüber hinaus eine Bestandsaufnahme der Gegenwart: Die alten Grenzzäune sind abgebaut, doch sind das auch die Schranken im Kopf? Wir betrachten die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln – dem von Kunstschaffenden, dem einer jungen Fotografin und dem einer intellektuellen Kosmopolitin. 1989 hat viele Facetten. Sie sind nicht ausschließlich schwarz-weiß.

Öffnung

Hoffen, staunen, zweifeln


Wenn in Österreich die Öffnung des Eisernen Vorhangs gefeiert wird, so kommen in den Medien häufig jene zu Wort, die diese von der heimischen Seite aus erlebten. Doch wie erinnern sich Menschen jenseits der einstigen Trennlinie an die dramatischen Tage des Umbruchs? Und wie schätzen sie die Lage ihres Landes heute ein? morgen hörte sich bei Kunstschaffenden aus Bratislava, Prag und Slowenien um. Sie erzählten von Demonstrationen in ihrer Heimat und Streifzügen nach Wien, von Fehleinschätzungen und feudalen Strukturen, von Freiheit und dem schwierigen Umgang damit.

Ilona Németh, Künstlerin

Ungarn war in den 1980er-Jahren das kommunistische Land mit den meisten Freiheiten. Deshalb ging ich, geboren in der Tschechoslowakei, zum Studium nach Budapest. Als Kunststudentin schmuggelte ich Samisdat-Schriften, also im Eigenverlag produzierte Schriften der Regimekritiker, über die Grenze. Die Stimmung war eine ganz andere als in der Tschechoslowakei. Da Ungarn nicht slawischsprachig ist, fiel es dem Land offenbar leichter, auf Distanz zur Sowjetunion zu gehen.

Ab 1986 arbeitete ich in Bratislava. Dort repräsentierten wir die ungarische Minderheit unter dem Sammelbegriff „Ungarische Unabhängige Initiative“, die ich mitbegründete. Wir kooperierten mit „Public Against Violence“, der damals wichtigsten Initiative in der Tschechoslowakei. Die Demos begannen am 16. November 1989, organisiert von Kunststudierenden in Bratislava. Anders als in Ungarn gab es in der Tschechoslowakei eine regelrechte Revolution. Eine friedliche Revolution ganz ohne Gewalt. Ich erinnere mich, dass jeden Tag etwas enorm Wichtiges passierte, auch an dieses eigenartige Gefühl von Macht: Wir, die „Ungarische Unabhängige Initiative“, waren aufgerufen, jemanden ins Parlament zu entsenden. Das erste freie Parlament bestand ja aus entsandten Personen, nicht aus gewählten. Wir waren damals in der Lage, innerhalb von ein paar Minuten Abgeordnete zu ernennen. Oder einen Minister. Damals lernten wir, dass wir allein durch unsere Gegenwart auf den Straßen und Plätzen etwas verändern können.


Die Revolution in Ungarn wurde 1956 gewaltsam niedergeschlagen, 1968 war es dasselbe in der Tschechoslowakei: Wir haben verloren. Aber 1989 haben wir gewonnen. In Ungarn machten die Menschen diese Erfahrung nie. Die Regierung wurde aufgrund einer Absprache zwischen den Underground-Politikern und den offiziellen Machthabern ausgewechselt. Es war eine Art Vertrag, der am runden Tisch ausgehandelt wurde. Die Menschen bekamen die Freiheit als Geschenk. Heute haben sie die Fähigkeit zu handeln verloren. Ungarn ist ein Land von Oligarchen. Auf eine gewisse Art ist die Gesellschaft zurück in den Feudalismus gefallen. Die Menschen sind machtlos, sie fühlen, dass sie keine Möglichkeiten haben, etwas zu verändern.

Jeden Tag passierte etwas enorm Wichtiges.

Ilona Németh, geboren 1963 in Dunajská
Streda, heute Slowakei. Ihre Arbeit umfasst In­stallationen, Videos, Konzeptkunst, künstlerische Forschung sowie kuratorische Tätigkeiten.

Juraj Čarný, Kurator

Am 16. November 1989 gab es in Bratislava eine Kundgebung gegen das Regime, genau einen Tag vor der in Prag. Viele meiner Schulfreunde hatten Angst teilzunehmen. Ich dagegen fürchtete mich nicht und war der Auffassung, dass wir kämpfen müssen. Auch wenn unklar war, ob die Machthaber gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten einschreiten würden.

Es wurde enorm viel diskutiert. Es war schwierig, sich Informationen zu beschaffen. Mein Vater saß die ganze Nacht am Telefon. Die Stadt war voller Transparente, die von den Kunststudentinnen laufend produziert wurden. Optisch war die Revolution extrem attraktiv! Als Teenager habe ich nicht gedacht, wow, jetzt kann ich nach Amerika fahren oder mir Paris ansehen. Nein, ich habe gedacht, jetzt kann ich nach Österreich fahren. Ich hörte Ö3. Das war mein einziger Kontakt zur westlichen Musikszene.

Wien war so nah, aber es zu besuchen – das war zuvor vollkommen unmöglich gewesen. Ein paar Tage nach der Öffnung der Grenze fuhren wir hin. Alles war extrem teuer. Und wir hatten keine österreichische Währung. In den Geschäften sah ich Schilder in slowakischer Sprache: „Nicht stehlen!“ Im Koh-i-Noor-Laden, einem Schreibwarengeschäft auf der Kärntner Straße, bekam ich einen Hundert-Schilling-Schein geschenkt. Ich kaufte sofort Bleistifte.


Wir waren nicht reif dafür.

Plötzlich hatte ich die Freiheit zu tun, was noch ein paar Jahre zuvor komplett unmöglich war. Heute stelle ich mir die Frage: Wo haben wir Fehler gemacht? Wir haben die Gefahren des Kapitalismus nicht erkannt. Wir waren nicht reif dafür.

Die Slowakei steht heute besser da als Ungarn, Polen oder die Tschechische Republik. Warum? Die 1990er-Jahre waren eine so schwierige Zeit. Im Februar 2018 legte die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak und seiner Freundin Verflechtungen zwischen den damaligen Machthabern und der Mafia offen. Wäre Kuciak nicht gestorben, wäre uns das nie so eindeutig klar geworden. Das ist vielleicht der Grund, warum wir heute eine Präsidentin haben, die ganz anders tickt als die anderen. Und seit einem Jahr einen Bürgermeister, der Architekt und Musiker ist. Er hat schon einiges bewirkt.

Juraj Čarný, Jahrgang 1974, ist Künstler, Kunsthistoriker, Galerist, Theoretiker, Lehrer und Kurator in Bratislava.

Mateja Koležnik, Theaterregisseurin

Ich habe 1989 wie jeden Sommer als Reiseführerin an der kroatischen Küste gearbeitet. Ich sah die Bilder in den Abendnachrichten. Es war wie ein Science-Fiction-Film. Obwohl wir Menschen aus den sozialistischen Ländern es erwartet haben. Wir dachten: Aha, jetzt geht es los! Mein Vater war Kommunist. Ich nicht. Ich war wohl liberal. Ich weiß nicht genau, was ich damals war. Ich war nicht in Opposition und nicht gegen den Kapitalismus. Ich war zu jung, zu dumm, um zu kapieren, worum es ging. Über alle Maßen glücklich war ich jedenfalls nicht.

Für Slowenien war 1991 das entscheidende Datum, der Zusammenbruch Jugoslawiens. Am 25. Juni 1991 erklärten Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Das löste bei den Leuten keine Euphorie aus, denn bei uns wusste jeder, dass es einen Krieg zwischen unterschiedlichen Nationen und Religionen geben würde. Der Untergang Jugoslawiens war ein Sieg des Nationalismus über den Kommunismus, der Kapitalismus ein Nebeneffekt. Ich bin nicht jugo-nostalgisch. Ich denke nicht, dass es damals besser war. Aber was die Kulturpolitik betrifft, war es ein besser organisiertes System. Vielleicht hatten wir so etwas wie Zensur. Zu dem Zeitpunkt, als ich zu arbeiten begonnen habe, war davon nichts zu spüren, ich war frei in meiner Arbeit. Alles wurde aus dem Staatsbudget bestritten. Heute sind die Budgets gekürzt. Heute müssen wir alles verkaufen. Wenn wir es nicht verkaufen können, heißt es, dass es keine Kunst sei.


Wir erleben ein Cyber-Biedermeier!

Heute reden wir nicht über Kunst, sondern über die „Kultur des Seins“ – also darüber, dass du deinen Körper trainieren musst, dass du dich gesund ernähren musst, dass du spazieren gehen musst und hie und da auch ins Theater, um dich gut zu fühlen. Was wir gegenwärtig erleben, ist ein Cyber-Biedermeier!

Kunst muss Angst einjagen, provozieren, einen für Neues öffnen, nicht einem dabei helfen, sich gut zu fühlen.

Die Theaterregisseurin Mateja Koležnik, 1962 in Metlika, heute Slowenien, geboren, inszeniert an allen wichtigen Bühnen des früheren Jugoslawien. Derzeit arbeitet sie an Maria Lazars Einakter „Der Henker“, der im Dezember am Wiener Akademietheater Premiere hat.

Radka Denemarková, Schriftstellerin

Ich war 21 Jahre alt und naiv. Damals studierte ich in Prag. Der 17. November 1989 wird mir immer in Erinnerung bleiben. So etwas habe ich seither nie mehr erlebt. Diese Solidarität! Diese Courage! Diese Offen­heit! Die Studentinnen der Theaterfakultät hatten zum Streik aufgerufen. Wir übernachteten auf der Uni. Die Hoffnung war groß. Ich dachte an meinen Vater, der Lehrer und Musiker war. Er gehörte zu jener Generation, für die Wahrheit und Freiheit höchste Werte waren. Er war überzeugt, dass man Verantwortung für die Welt trägt. Zu Hause wurde viel über 1968 gesprochen. Im Keller hatte mein Vater eine Bibliothek mit Werken verbotener Autoren. Als Kind hatte ich den Eindruck, dass der Prager Frühling Jahre gedauert hat, in Wirklichkeit waren es nur ein paar Monate.

1989 war Licht am Ende des Tunnels. Es folgten die ersten Ausflüge in den Westen, zunächst nach Wien. Die Österreicher waren so großzügig! Man gewährte uns freien Eintritt in Museen. Meine Kolleginnen interessierten sich aber nur für die Kaufhäuser und Märkte. Sie staunten über die vielen Produkte, die verschiedenen Gemüsesorten, das Obst. Ich wäre lieber ins Museum gegangen. Heute tritt alles noch klarer zutage: Osteuropa hat vom Westen vor allem den Konsum übernommen. Mittlerweile wissen wir, dass eine demokratische Gesellschaft andere Werte braucht. Damals ging alles zu schnell.


Es war Chaos pur.

Die Dissidenten hatten die Hoffnung, jetzt könne das Land bei Null beginnen. Doch es war Chaos pur. Ein absurdes Chaos! In der Wirtschaft setzte sich ein wilder Kapitalismus durch. Die Mitarbeiter von Stasi und KP sind an wichtigen Stellen geblieben. Das ist Gift für eine Gesellschaft! Heute ist es egal, wie jemand zu Geld gekommen ist und normal, zu lügen und zu stehlen. Aber soll sich die Welt zum Besseren wenden, muss sich vor allem etwas im menschlichen Bewusstsein ändern. Jeder muss sich aus dieser schrecklichen Verwicklung in allen Mechanismen der Totalität – vom Konsum über die Repression und Reklame bis zur Manipulation durch Medien – befreien. Jeder muss die tiefere Verantwortung für die Welt wieder in sich selbst finden.

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Radka Denemarková wurde 1968 in Kutná Hora, heute Tschechien, geboren. Ihre Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Zuletzt auf Deutsch erschien ihr Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ im Verlag Hoffmann und Campe.

Schlagbilder

Viel Schneid


Wer sich mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs beschäftigt, stößt unweigerlich auf ein Sujet, ausgeführt in vielen Varianten: Politiker schneiden durch einen Grenzzaun. Was hat es mit diesen Fotos auf sich? Wie entstanden sie? Und wie bedeutend sind sie wirklich? morgen fragte nach.

Es ist immer dieselbe Szenerie: Zwei Politiker stehen einträchtig mit einer Zange oder einem Bolzenschneider vor einem Stacheldraht, den einer von ihnen durchtrennt. Zumeist umringt von einer Menge anderer Personen, die Gesichter sind fröhlich.

Genau dieses Sujet begleitet das diesjährige 30-Jahr-Jubiläum beharrlich. Wenn Publikationen die Öffnung des Eisernen Vorhangs feiern, hieven sie häufig ein solches Bild auf ihren Titel; es schmückt Broschüren, Einladungen und sogar einen VW-Bus des Hauses der Geschichte in St. Pölten. Im kollektiven Gedächtnis haben sich diese Szenerien unweigerlich festgekrallt. Und wenn man in die Google-Bildersuche „Fall des Eisernen Vorhangs“ oder „Öffnung des Eisernen Vorhangs“ eingibt, spuckt die Suchmaschine, zumindest in Österreich, eine ganze Reihe derartiger Fotos aus. Erst weiter unten folgen andere: von Menschen, die Grenzen überschreiten oder auf der Berliner Mauer stehen, von Landkarten, auf denen der Verlauf der Trennlinie eingezeichnet ist.

Schlagworte, Schlagbilder

Der Kunsthistoriker Oliver Grau leitet das Department für Bildwissenschaften an der Donau-Universität Krems. Gerade hat ihm das Land Niederösterreich den Würdigungspreis für seine wissenschaftlichen Leistungen zuerkannt. Wenn sich einer mit Bildern auskennt, dann er. In seinem Büro spricht er an einem Vormittag im September über jene Bilder, die das diesjährige Jubiläum so stark prägen. „Ein Schlagbild ist ein Bild, in dem sich eine Botschaft verdichtet, um die intendierte Wirkung zu optimieren“, sagt er. Um ebensolche handelt es sich ihm zufolge. Der wegweisende Kunsthistoriker Aby Warburg prägte diesen Terminus, in Anlehnung an den Begriff „Schlagwort“. Grau zeigt ein Bild, auf dem der damalige österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn zu sehen sind, ein Foto von Bernhard J. Holzner: „Dieses Bild hat einen sehr symmetrischen Aufbau entlang einer Achse. Beide Politiker schneiden einträchtig ein Stück Grenzzaun durch, als würden sie mit einer Schere eine Autobahn oder Shoppingmall eröffnen. Es handelt sich um ein inszeniertes Schlagbild, wenige Wochen, nachdem die Grenze in Teilstücken bereits abgebaut war.“

Das Foto entstand, gemeinsam mit vielen anderen, am 27. Juni 1989. Zwar hatte man in Ungarn bereits am 2. Mai mit dem Abbau der Grenzen begonnen. Doch ein massenmedial verbreitetes Bild fehlte zu diesem Zeitpunkt noch. So kam die Idee auf, ein solches selbst zu inszenieren. Wer den Anstoß dazu gab – der Fotograf Bernhard J. Holzner oder Mitarbeiter des damaligen Außenministeriums –, darüber gehen die Ansichten ebenso auseinander wie über die Frage, wie einflussreich diese Bilder tatsächlich waren.

Mosaiksteinchen

Die gängige Darstellung lautet wie folgt: Nachdem die Bilder im Juni 1989 „um die Welt“ gegangen seien, sahen sie die Bürgerinnen und Bürger in der DDR im Westfernsehen. Daraufhin hätten sie sich rasch auf den Weg nach Ungarn gemacht und seien nach Österreich gegangen. Also ein „schicksalsträchtiges Ereignis“, bei dem „vor den Augen der Weltöffentlichkeit der Eiserne Vorhang an der österreichisch-ungarischen Grenze durchschnitten“ wurde? So drückt es jedenfalls der Publizist und langjährige Pressesprecher Mocks, Herbert Vytiska aus, in dem Band „Schauplatz Eiserner Vorhang“, 2012 vom Verein zur Dokumentation der Zeitgeschichte in Weitra herausgegeben. 

Nachfrage bei Christian Rapp, dem  wissenschaftlichen Leiter des Hauses der Geschichte in St. Pölten. „Ich halte die Bedeutung der Fotos, auf denen Alois Mock und Gyula Horn den Zaun durchschneiden, für ziemlich überschätzt. Auch Mock selbst war nicht besonders überzeugt davon, dass sie entscheidend gewesen wären. Die Aktion war eines von vielen Mosaiksteinchen in einem über den ganzen Sommer 1989 dauernden Prozess“, sagt er. „Einige Exegeten laden sie aber jetzt mit großer Bedeutung auf. Es wird versucht, aus einem PR-Ereignis – und mehr war dieser Zaundurchschnitt nicht –, einen historischen Meilenstein zu machen. Da erleben wir history in the making. Die Vorstellung, dass das Bild im Fernsehen die Massen in Gang setzte, ist nicht zutreffend.“ Schließlich sei die Produktion des Zauns schon lange vorher eingestellt worden: „Die Ungarn hätten für rostfreien Stahl aus dem Westen zur Erneuerung des Stacheldrahts viel Devisen zahlen müssen, die sie nicht hatten. Also beschlossen sie, den Zaun abzubauen, da sie ihn selbst nicht mehr brauchten. Denn bei ihnen gab es schon seit 1988 weitgehende Reisefreiheit. Es war keineswegs so, dass der Abbau des Zauns nirgends bemerkt worden wäre.“ Bereits Anfang Mai habe die ARD einen kurzen Bericht dazu ausgestrahlt. „Der wurde auch in der DDR gesehen und ernst genommen – vor allem von jungen Leuten. Und viele beschlossen damals, den Sommer in Ungarn zu verbringen.“

Souveräner Schnitt

Das ändert nichts an der Verbreitung der Bilder heute. Wenige Monate später wurden ähnliche Fotos auch in Oberösterreich, mit dem damaligen Landeshauptmann Josef Ratzenböck, und in Niederösterreich, mit seinem Kollegen Siegfried Ludwig, inszeniert. Einer von jenen, die damals vorne dabei waren, heißt Herbert Schleich. Der Fotograf im Ruhestand, der damals für die niederösterreichische Landeskorrespondenz arbeitete, empfängt morgen zum Interview in seinem Haus im nördlichen Weinviertel. Zu Kaffee und Ribiselkuchen gibt es Fotos, Erinnerungen und ein Stück Stacheldraht, montiert auf einem Brett und mit dem Datum 17.12.1989 versehen. Diesen Zaunabschnitt sicherte er sich an jenem Tag, als Ludwig in Kleinhaugsdorf mit Jiří Dienstbier zusammentraf, dem damaligen Außenminister der Tschechoslowakei, bejubelt von 2.000 bis 3.000 Menschen, wie Schleich sagt. Später ging es nach Laa an der Thaya, wo auch Mock dabei war. „Am Grenzübergang Laa an der Thaya / Hevlín stand noch der originale Eiserne Vorhang, im sogenannten Niemandsland. An die 40 Fotografen und an die 20 Fernsehteams, national und international, waren postiert“, erinnert er sich und setzt nach: „Als Fotograf musst du dir deinen Platz erkämpfen, gelegentlich die Ellbogen ausfahren. Es ist doch klar, jeder Fotograf will den besten Platz, um das beste Foto zu machen.“ Das Gedränge kann man sich vorstellen: „Ich stehe zentral in der Mitte in der zweiten Reihe, augenscheinlich ein guter Platz. Plötzlich steht vor mir ein Fotografenkollege auf und schlägt mir meinen Apparat unabsichtlich an meine Unterlippe, ich blutete.“ In einer halben Stunde sei die Angelegenheit erledigt gewesen. 

Im Gegensatz zu heute, wo Fotografinnen und Fotografen pro Termin zig, wenn nicht Hunderte Fotos schießen – Speicherplatz ist schließlich genug vorhanden – waren die Kapazitäten damals limitiert. „Ich habe damals an die 15 Fotos von Landeshauptmann Ludwig, Alois Mock und Jiří Dienstbier gemacht. Ich war über die Aussagekraft der Bilder erfreut.“ 

Das Sujet – zwei Politiker durchtrennen etwas – war für Schleich kein ungewöhnliches. Kunsthistoriker Oliver Grau sagt: „Die anderen Bilder wie jenes von Herbert Schleich folgen demselben Schema. Das ist kein Niederreißen einer Mauer oder einer Zaunanlage, sondern ein souveräner Schnitt unter Sympathiekundgebung der Umstehenden. Die Inszenierung, dass zwei Politiker von zwei Parteien oder von zwei gegensätzlichen Ländern nunmehr gemeinsam auf einer Seite auftreten und einen gemeinsamen Schnitt vollziehen, entspricht einer gewohnten Ikonografie. Man findet sie in der gesamten Nachkriegszeit in der zentraleuropäischen Politik: bei Eröffnungen von etwas Neuem, Gemeinsamem.“ Im Gegensatz zu Eröffnungen von Kreisverkehren oder Kindergärten kommt hier allerdings Stacheldraht ins Spiel. „Der Stacheldraht wird mit Nationalsozialismus und Gulag assoziiert. Die Erinnerung an die damit verbundenen Opfer schwingen bei der Bildfindung mit.“ 

Die Faszination dieser Bilder hält bis heute an, scheint sogar eher stärker zu werden. „Die Fotos haben sich vor allem in den letzten 15 Jahren stark verbreitet. Unser Bedürfnis nach emblematischen Bildern ist eben groß. Sie eignen sich hervorragend, um zum Beispiel in Geschichtslehrbücher eingebaut zu werden“, meint  Christian Rapp. „Wenn es solche Bilder nicht gäbe, bliebe unsere Vorstellung von den Ereignissen vage.“ ● ○

Coudenhove-Kalergi

„Nur gemeinsam war dieser historische Erfolg möglich“


Die Weltbürgerin und legendäre ORF-Korrespondentin Barbara Coudenhove-Kalergi über Regionalismus, Nationalismus und Europa, über Sinn und Unsinn von Grenzen – die aus Draht und die in unseren Köpfen.

Die Bereitschaft für die Welt beginnt vor der eigenen Haustür. Die Grande Dame des österreichischen Journalismus hat neben ihrer Klingel in der belebten Wiener Innenstadt ihren vollen Namen stehen. „Ich werde doch keine Nummer draufschreiben, Besucher sollen sich willkommen fühlen“, sagt Barbara Coudenhove-Kalergi und winkt die Fotografin und mich ebenso energisch wie herzlich in ihre Wohnung. Hohe, helle Räume, Bücherregale, lebendig gemusterte Polstermöbel, viele Bilder an den Wänden, Fotografien. Über dem Schreibtisch ein Stückchen Grenz-Stacheldraht aus dem Öffnungsjahr 1989, eigenhändig herausgeschnitten von den damaligen Außenministern der Tschechoslowakei und Österreichs, Jiří Dienstbier und Alois Mock. „Ich habe selbst noch erlebt, was es heißt, bei Grenzen anzustehen, abgewiesen zu werden. Es ist Schicksal, auf welcher Seite des Zauns man geboren wird. Schicksal, wie die Weltpolitik einem mitspielt. Das sollten die jeweils Privilegierten nie vergessen.“

Die Privilegierten und die Unterprivilegierten. Vielleicht ist es das entscheidende Thema der 1932 in eine adelige Familie geborenen Barbara Coudenhove-Kalergi. Im Gespräch wird sie es immer wieder streifen, immer wieder darauf zurückkommen und sich selbst daran erinnern, wenn sie womöglich versucht ist, eine Schlussfolgerung zu ziehen, die aufs Erste betrachtet klug sein mag, jedoch die Lebensumstände anderer, weniger privilegierter Menschen außer Acht lässt. Die Intellektualität der Privilegierten, jener von Zufall und Zeit bevorzugten Menschen – stets birgt diese Intellektualität die Gefahr, zum Gegenteil ihrer Absicht zu führen, nämlich zu ideologischer Blindheit. Denken und Reden und sich gegenseitig Zustimmen in der jeweiligen sozialen Blase, immer schon gab es das. Und niemand ist davor gefeit – die Bildungsbürgerin, ehemalige Journalistin, ORF-Osteuropa-Korrespondentin und Buchautorin Barbara Coudenhove-Kalergi weiß es aus Erfahrung. Lächelnd sitzt sie vor mir, elegant und schlicht zugleich, in einem dunkelblauen Sommerkleid und überaus sportlichen, geradezu kecken Espadrilles. Dazu trägt sie – bei ihr fast obligatorisch – eine weiße Perlenkette. Noch immer lächelt sie. Leise Skepsis mag in diesem Lächeln enthalten sein, doch auch Grundvertrauen und, das vor allem, die Bereitschaft, sich aufs Vorzüglichste überraschen zu lassen. Blau und Weiß, diese beiden Farben trägt sie, jene der Hoffnung also und jene der Reinheit – und damit vielleicht auch der absichtsvollen Unvoreingenommenheit entgegen aller grellen Erfahrungen.

Sieben Jahre alt war sie, als die Nazis 1939 in ihren Geburtsort Prag einmarschierten, 13, als sie gemeinsam mit ihrer deutschsprachigen Familie 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde. Die Flucht über Bayern endete in Österreich, zuerst im salzburgischen Lungau, im abgelegenen Jagdhaus des Großvaters, später, nach den Schuljahren, und endlich für die junge, städtisch geprägte Barbara, in Wien. Dort liest sie noch mehr als zuvor. Arthur Schnitzler und Robert Musil. Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch. Joseph Roth und Karl Kraus. Sie studiert Dolmetsch, dann Soziologie, arbeitet nebenbei für die Caritas, die zu jener Zeit vom legendären Prälaten Leopold Ungar geleitet wird, und beginnt danach ihre journalistische Karriere. „Karriere kann man nicht sagen“, meint Barbara Coudenhove-Kalergi. „In meinem Leben haben sich die Dinge immer mehr ergeben, als dass ich sie groß geplant hätte.“ Das Leben stelle einen irgendwo ab in Zeit und Raum und dann könne man das Bestmögliche daraus machen. Wenn man Glück habe und privilegiert sei, falle das freilich unvergleichlich leichter. Dank persönlicher Kontakte also – und dank ihres Talents – schreibt sie für die Presse, für das Neue Österreich und danach für die Arbeiter-Zeitung. Eingestellt wird die junge Reporterin vom neuen Parteivorsitzenden höchstpersönlich, von Bruno Kreisky. „Er hat geschafft, was heute keiner mehr so kann“, erinnert sich Barbara Coudenhove-Kalergi, „nämlich eine liberale Breite zu schaffen, ein politisches Fundament, auf dem die verschiedensten Menschen mit den verschiedensten politischen Einstellungen ein Einvernehmen finden können, ohne den eigenen Standpunkt verlassen zu müssen.“

morgen: Ihr Ehemann Franz Marek war Mitglied der französischen Résistance. Haben wir die Pflicht, politisch aktiv zu werden, wenn die Dinge falsch laufen?

Barbara Coudenhove-Kalergi

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Nicht die Pflicht, aber aus Eigeninteresse sollten wir es tun. Mache du die Politik oder die Politik macht etwas mit dir.

Als Studentin stellten Sie sich die Frage, warum es nicht gelingt, die großen Ungerechtigkeiten zu beenden, warum es etwa noch immer bitterarme und unmittelbar daneben wahnwitzig reiche Menschen gibt. In Ihren Erinnerungen „Zuhause ist überall“ schreiben Sie, Sie hätten Soziologie studiert, um herauszufinden, „was unsere Welt und unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält“. Haben Sie heute eine Antwort darauf?

Coudenhove-Kalergi

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 Ich denke, Egoismus ist dem Menschen immanent. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch in Ordnung so. Aber wir haben die Relationen verloren. Ich habe noch immer die Hoffnung, dass sich das einmal ändern wird. Wir sollten die Grenzen zu jenen, die es nicht so gut haben, durchlässiger machen. Jeder hat zu Recht den Wunsch nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach den eigenen vier Wänden. Insofern sind Grenzen und Zäune okay, aber was hindert uns, ein Türl in unseren Gartenzaun einzubauen? Was hindert uns, über unsere Zäune hinweg miteinander zu reden, uns auszutauschen, uns zu helfen, wenn’s nötig ist?

Sie arbeiteten schon als junge Frau für die Caritas, und bis vor Kurzem haben Sie zehn Jahre lang Asylwerbern zweimal wöchentlich Deutschunterricht gegeben.

Coudenhove-Kalergi

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Jeder sollte dem Herrgott für sein Glück danken, indem er anderen davon abgibt. Jeder so viel, wie er glaubt. Wir vergessen oft, dass wir im Luxus leben. Luxus ist nämlich schon, dass wir eine Wohnung haben, das Wasser aufdrehen können, aus der Leitung trinken können. Milliarden Menschen auf der Welt haben das nicht. Wir vergessen allzu schnell auf die, die im falschen Land, zur falschen Zeit, unter den falschen Umständen geboren wurden, die nicht unser Zufallsglück hatten.

Ihr Onkel, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, gilt als einer der wichtigsten geistigen Väter der Europäischen Union. 1922 gründete er die Paneuropa-Bewegung, die sich die Vereinigten Staaten von Europa zum Ziel setzte. Nur ohne Nationen sei dauerhafter Frieden auf unserem Kontinent möglich.

Coudenhove-Kalergi

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Onkel Dicky war ein Visionär. Aber selbst in unserer Familie ist er nie ganz ernst genommen worden. Er behielt nach dem Ersten Weltkrieg ja leider recht, die Integration innerhalb Europas war zu lose und es kam erneut zum Krieg. Dennoch glaube ich, dass eine europäische Bundesregierung und ein europäisches Bundesparlament auch heute und in absehbarer Zukunft noch nicht realistisch sind. Die meisten Menschen sind einfach nicht bereit dafür. Und Regional­patriotismus ist ja durchaus okay. Man kann Europäer sein und zugleich Österreicher und Niederösterreicher und Weinviertler. Das schließt sich doch nicht aus. Man muss die Franzosen nicht hassen, um das Pustertal zu lieben.

Man muss die Franzosen nicht hassen, um das Pustertal zu lieben.

Ihre Familie heiratet seit fünf Generationen grenzüberschreitend. Ihre Mitglieder sind auf beinahe allen Kontinenten daheim, in verschiedenen Ländern, verschiedenen Religionen und Sprachen. Was kann die Welt von der Familie Coudenhove-Kalergi lernen?

Coudenhove-Kalergi

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Dass Internationalismus und regionales Heimatgefühl einander nicht ausschließen. Dass Weltoffenheit bereichert. Im Amerikanischen gibt es den Ausdruck third culture kids. Gemeint sind junge Leute, die in einer Kultur aufwachsen, in eine andere überwechseln und aus diesen beiden Kultur etwas gänzlich Neues machen, etwas Drittes, ihre eigene Kultur. Freilich ist auch das Gegenteil okay, freilich ist es auch in Ordnung, wenn beispielsweise Mistelbacher fünf Generationen hintereinander immer nur Mistelbacher heiraten und unter sich bleiben, aber es wird eben etwas anderes dabei herauskommen. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung.

Wie viel Integration wird in Europa nötig und möglich sein, um sowohl den internen Frieden zu bewahren als auch international zu bestehen?

Coudenhove-Kalergi

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Man muss ja nur auf eine Weltkarte schauen, die an einer Wand hängt. Da muss man schon ganz, ganz nahe hingehen, um Österreich oder Belgien oder Ungarn darauf überhaupt zu finden. China, Russland und die USA sind größer als alle Länder Europas zusammen. Wir können in dieser Welt als Europäer nur gemeinsam bestehen. Die EU ist ein riesengroßer Fortschritt. Sie hat Fehler, ja. Aber sie ist die Lösung, wir müssen weiterhin daran arbeiten.

Derzeit schwingt das Pendel der Geschichte ins Gegenteil, zurück Richtung Nationalismen.

Coudenhove-Kalergi

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Ja, es scheint so. Aber es wäre verheerend. Es ist ein großer Irrglaube, dass Nationalismus irgendwelche Probleme löst. Nationalismus beschwört neue Probleme herauf und ist letztlich unkontrollierbar. Und oft tödlich. Die Menschen vergessen das immer wieder, jede Generation aufs Neue. Dazu kommt aktuell ein Ton in der Politik und unter den Menschen, der besorgniserregend und gefährlich ist. Es ist heute normal, Dinge zu sagen und zu tun, die noch vor zehn Jahren unmöglich gewesen wären. Die Menschen vergessen zuweilen ihr Höchstes und kehren ihr Tiefstes heraus. Es liegt an jedem, da nicht mitzumachen, sich Tag für Tag für das anständige Menschliche zu entscheiden.

Was ist die Aufgabe der Politik in dieser Situation?

Coudenhove-Kalergi

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Die Politik muss einen klugen Mittelweg finden. Sie muss die Ängste und Bedenken der einfachen Menschen ernst nehmen, darf aber zu keiner Zeit den niederen Instinkten nachgeben – oder sie gar schüren.

Was braucht es, um die nötigen Reformen in Europa umzusetzen? Was kann das heutige Europa aus seiner Vergangenheit lernen?

Coudenhove-Kalergi

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Das K.-u.-k.-Österreich war von der Idee her ja bereits ein Vorläufer der Europäischen Union. Leider haben wir es damals vergeigt. Es geht immer um eine Balance aus Geben und Nehmen; es geht um ein integratives Vorankommen, ohne dabei die Gefühle und Lebensumstände der einfachen Menschen zu vernachlässigen.

Vom ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, stammt der Satz, wer zu spät komme, den bestrafe die Geschichte. Zuweilen scheint es auch umgekehrt zu sein. 1968 etwa wurde der Prager Frühling, also die Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschechen, von russischen Panzern niedergewalzt. 1989 hingegen gelang die Samtene Revolution. In ganz Osteuropa fiel der Eiserne Vorhang, in Berlin die Mauer. Worin lag der Unterschied?

Coudenhove-Kalergi

:

Zum einen war die Sowjetunion wirtschaftlich 1989 schon sehr geschwächt, was den Handlungsspielraum gegenüber ihren Satellitenstaaten einschränkte, dazu kam mit Gorbatschow ein politischer Führer, der es mit der Öffnung ernst meinte. Entscheidend war aber auch, dass 1989 die Masse der Arbeiter und die Intellektuellen zusammenhielten. Nur so, nur gemeinsam, war dieser großartige historische Erfolg möglich.

Barbara Coudenhove-Kalergi, diese beherrschte, sich schlicht gebende, große Dame, hat zartrosa Wangen bekommen vor Leidenschaft. Sie ist in ihrem Element. Und bei ihrem Thema: die Masse der Arbeiter und die Intellektuellen. Gemeinsam! Gemeinsam haben sie gesiegt, friedlich gesiegt noch dazu. Es war der Erfolg der Unterprivilegierten, der kleinen Leute. Die unterdrückten Arbeiter und die unterdrückten Intellektuellen gegen eine selbst ernannte Elite, die am Ende nur noch in ihrer engen sozialen Blase das Sagen hatte. ● ○

Pendler

Die Pendler


In ihrem Roman „Pendleri“, zu Deutsch: „Die Pendler“, schreibt die Autorin Tamara Šimončíková Heribanová über slowakische Jugendliche, die kurz nach der Grenzöffnung täglich nach Österreich pendeln, um dort zur Schule zu gehen. morgen bringt exklusiv einige Auszüge aus dem 2018 bei Ikar auf Slowakisch erschienenen Roman, für den die Schriftstellerin kürzlich den Hauptpreis des slowakischen PEN-Clubs erhielt.

Dichter Rauch, Pikos, Briefchen mit Pervitin, auch Crystal genannt, aufgereihte Abteile. Ein langer Gang, aus jedem Abteil hängen Köpfe heraus. Gleise, Bahnsteige. Dort haben wir gelebt, auf der Plattform. In der Halle. Nicht in den Wartesälen, dort hat es gestunken. Eine tote Taube auf dem Beton, Tschicks, Standln mit Leberkäs’ und Bratwürsteln. Kaffeeduft, frisches Brot und Semmeln in der Luft rund um den ANKER. Ich versuche, mich daran zu erinnern.

Die Waggons waren unser Zuhause, so viel Zeit haben wir dort verbracht. Alltägliches Reisen. Morgens sehr früh hin, abends, nachts zurück. Zweimal täglich die Reisepässe zücken. Für manche von uns war das Pendeln ein Albtraum. Und die Unseren dachten, dass wir ein traumhaftes Leben führten. Oder so. Sie haben den Traum geträumt, noch viele Jahrzehnte lang, und so dachten sie, wir wären glücklich. Aber unsere Freiheit war anders. Viele von uns haben sich schon am Anfang darin verloren, die anderen später.

***

Milan sah Beáta an, hörte ihre bekannte Stimme. Sie kannten sich noch von der Hauptschule. Gemeinsam fuhren sie mit dem Schulbus, der weißen Karosse, in Richtung Bratislava–Kittsee. Sie haben gemeinsam Deutsch gelernt, gemeinsam über die Lehrerinnen geschimpft. Das Lachen war ein gutes Mittel gegen die Angst, die ihnen das alltägliche Versagen bereitete. Sie beherrschten die Sprache nicht, sie waren nicht einmal imstande, auf die einfachsten Fragen zu antworten. Und schon gar nicht auf die, die den Lehrstoff betrafen. Alles in einer Fremdsprache. In einer fremden Umgebung.

Mit jedem neuen Wörtchen, das in ihren Köpfen haften blieb, kamen sie näher ans Ziel, erreichten eine bessere Stabilität. Die Fünfer wurden nach einigen Monaten von Vierern abgelöst. Zu der Zeit, in der sie die österreichische UNESCO-Dorfschule besuchten, wussten die Österreicher nicht sehr viel über ihre Nachbarn. Dieses kleine Dorf an der Grenze hatte damals einen ganz anderen Charakter. Es wurde bis ins letzte Detail von fleißigen österreichischen Händen gepflegt. Es war ein österreichisches Territorium mit ausschließlich österreichischen Häusern, österreichischen Scheunen, Stadeln, Höfen, Vorgärten, vor denen Autos mit österreichischen Kennzeichen parkten. Es war klar, wer dort zu Hause war und wer auf Besuch.

Bis zur Grenzöffnung verwendeten die fleißigen österreichischen Dorfbewohner das Wort „Diebstahl“ nicht. Aus Sicht der Semantik war es vorhanden, es fehlte nur die Empirie. Bis in die 90er-Jahre brauchten sie die Haustore nicht zu versperren, konnten ihre Fahrräder vor dem Supermarkt ungesichert stehen lassen. Solche Vorsichtsmaßnahmen waren nicht notwendig. Es war ein Landstrich von Bauern und Kleinhäuslern, denen der Unterricht ihrer schulpflichtigen Kinder in Haus- und Gartenarbeit und Religion genauso wichtig war wie in Mathematik oder Geschichte. Alles hatte seine Ordnung, sogar das auf die gleiche Länge geschnittene Holz in der Scheune.

Nichts ist wichtiger, als anständig zu sein. Die Fachlehrerin Johanna Radeczki klopfte Beáta auf die Handknöchel, während diese mit den Fingern, ohne ihre Silberringe abzunehmen, auf dem Holzbrett Germteig knetete. Sie zog die Hände des Mädchens aus der klebrigen Masse, schrie etwas hysterisch im stärksten burgenländischen Dialekt durch die unbeheizte Steinküche im alten Trakt der Schule und schickte Beáta hinaus. Der violette Nagellack in Kombination mit den Onyxringen in der Größe eines Fingerglieds irritierte die Lehrerin so sehr, dass sie nach Luft schnappte.

Erst unlängst hatte sie Beáta bezüglich des absoluten Verbots, Ringe, die Brutstätte von Bakterien, beim Kochen zu tragen, ermahnt. Dort, wo man mit Lebensmitteln arbeitete, erwartete man durch und durch Verantwortung und die Einhaltung höchster Sauberkeitskriterien. Es ging hier ums Prinzip. Es wäre etwas anderes gewesen, hätte der Ring die Form eines Rosenkranzes gehabt, aber so, diese abscheulichen Extravaganzen. Dieser violette Nagellack war sicher ein Teil der ekelhaften slowakischen Provokation, der die Lehrerin schon seit ein paar Jahren ausgesetzt war. Seit die Grenzen offen waren, schreckte sie oft aus dem Schlaf hoch wegen des slawischen ohrenzerreißenden Mischmaschs, dem sie jeden Tag für viele Stunden ausgesetzt war. Sogar während der Häkelstunde musste sie den frechen, flüsternden, slowakischen Schnauzen lauschen, ohne zu wissen, ob sie schon wieder über sie tuschelten. Seit der Grenzöffnung erfüllte der Beruf Johanna Radeczki, Österreicherin der zweiten Generation, nicht mehr. Grund waren die slowakisch plappernden Fremdlinge in Miniversion.

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Ihr eigenes Abteil. Durch die verschmutzten Fenster konnte man den rosafarbenen Himmel und österreichische Felder sehen. Die Umrisse der österreichischen Landschaft wuchsen und verschwanden in der Dämmerung. Sie ähnelten den Panoramakonturen anderer Länder, sogar jenen ihrer Heimat, ähnlich und doch so fremd. Die Abteil-Belegschaft wusste das. Tag für Tag spürten sie, dass sie in dem Nachbarland nur zu Besuch waren. Ein Tagesausflug auf unbestimmte Zeit.

Ihre Besuche bildeten ein Kolorit mit eigenartigen Grenzen. Nicht die von Staatsterritorien, durch internationale Verträge definiert, sondern die, die in jedem Einzelnen dieser fröhlichen Gruppe gezogen waren. Diese Grenzen waren streng bewacht und das nicht, weil sie es so wollten, sondern weil sie nicht anders konnten. Tag für Tag besuchten sie ein fremdes Land und am Abend, auf dem Heimweg, war ihnen bewusst, dass auch Jahrzehnte in diesem Land keine Einheimischen aus ihnen machen würden. Sie würden immer Ausländer aus dem Ostblock, aus der unterentwickelten Slowakei bleiben. Aus Bratislava, das österreichische Mitschüler zu besuchen sich weigerten, weil dort viel gestohlen und gemordet wurde. Mafia überall. Als Martin seinen Mitschüler Akçam Büyüktürk zu seiner Geburtstagsfeier einladen wollte, zischte ihm dieser ins Gesicht: „Euch hat man sogar den Präsidentensohn entführt.“

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Das Abteil, das geschlossene, stickige, verrauchte Kämmerchen, war eines der Schlüsselräume ihres Erwachsenwerdens. Überschreitung der Grenzen, das Hin- und Herpendeln. Amantes amentes. Dort bei den Gleisen begriff er die Liebe und erlebte auch ihren Verlust. Amantes amentes. Verrückte Liebende. (…)

Martin starrte auf den Monitor in dem Bemühen, die Vergangenheit zu rekonstruieren, und spürte, wie in seinem Inneren alles lebendig wurde. 

Er hörte ihre Stimmen. Zu Pendler-Zeiten standen sie ihm am nächsten.

Janas Ohr voll von Silberringen. Lindas Fleck auf dem Rucksack, Kaugummi auf die Zigarettenschachtel geklebt, Durchzug im Gang, ein schmutziges Fenster, das klemmte, die Schiebetür aus Sperrholz.

Geratter, Geratter.

Geratter als unaufhaltbares Metronom. Verwaschenes Bild wie nach einem Doppelliter Zweigelt vom Bahnhofskiosk.

Quietschen der Schienen, Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Abfahrten. Ankünfte. Verspätungen.

Geratter, Geratter.

Geratter wie ein feiner Sand. Alles durchdringend.

Wie ein weißes Rauschen.

Ihr Abteil, ihre Clique, ihr alltägliches Miteinander.

Er saß wie angeklebt im Lehnstuhl und tauchte wie paralysiert seinen Blick in die flimmernden Bilder. In eines nach dem anderen. ● ○

Excalibur City

Niemandsland


Im Grenzgebiet zwischen Tschechien und Österreich liegt die Excalibur City, ein Shoppingcenter, dessen Gäste sich wie in der Artus-Legende fühlen sollen. Die junge Fotografin Marie Haefner gewann der Kitsch-burg und ihrer Umgebung melancholische Seiten ab. Ihre Serie „Excalibur City“ entstand 2018.

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„Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“