Kolumne

Preis der Freiheit


„Damals war alles besser.“ Diesen Satz höre ich in der Slowakei immer wieder. Vor allem die ältere Generation sehnt sich nach der mit Stacheldraht eingezäunten Sicherheit, die auch Vorteile hatte. „Die Kommunisten haben uns Arbeit gegeben, Wohnungen gebaut, für Ordnung gesorgt. Und was haben wir heute? Korrupte Politiker, die sich am Staatseigentum bereichern.“

Im Sozialismus hatten wir kein Recht auf Arbeit, sondern die Pflicht, einer geregelten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Einfach zu Hause zu bleiben und vom Einkommen des Partners oder der Eltern zu leben, hieß parazitizmus, und parazitizmus war strafbar. Sogar die Mütter von Säuglingen kehrten schon oft sechs Monate nach der Geburt an ihren Arbeitsplatz zurück und übergaben ihren Nachwuchs der Obhut des Staates, der ihn schon im zarten Alter nach seinen Vorstellungen zu formen wusste.

Die Kinder verbrachten den Tag in der Krabbelstube, dem Kindergarten, der Schule oder dem Hort und gingen genauso wie ihre Eltern nach Hause in die Plattenbausiedlung, nur zum Schlafen. Im Urlaub fuhren wir in die Hohe Tatra, an den Plattensee oder nach Bulgarien ans Meer und träumten davon, zumindest einmal im Leben Italien, Deutschland oder gar Amerika besuchen zu dürfen. 

Die einen passten sich an und waren zumindest zum Schein zufrieden, die anderen wehrten sich und litten. Die abtrünnigen Rebellen überquerten aus Sehnsucht nach der Ferne, aber vor allem nach Freiheit verzweifelt die March, kletterten über die Mauer oder flohen im Kugelhagel über die grüne Grenze in den freien Westen. Hunderte Tote säumten den Weg der Flucht. 

Wir, die geblieben waren, lernten Sprachen, nahmen an Mathematik- und Physikolympiaden sowie Rezitationswettbewerben teil, übten uns im Sport, trainierten bis zum Umfallen, nur um die berühmte Tür in die weite Welt aufzustoßen und durch die Höchstleistung in die Freiheit zu gelangen. Als Aufnahmekriterien auf die höheren, weiterbildenden Schulen und Universitäten galt weniger das exzellente Schulzeugnis, vielmehr der politische Background der Eltern. Wenn beides fehlte, genügte ein dezent überreichtes, mit Banknoten gefülltes Briefkuvert immer. 

Und auf einmal fällt die Mauer, der Stacheldraht wird von Politikern beider Seiten medienwirksam durchgeschnitten, es fließen Tränen der Freude und Erleichterung, die Menschen fallen einander in die Arme. Der Verkehr bricht zusammen. Die Menschen lassen sich nicht aufhalten und marschieren über die Donaubrücke, an deren Ende die geheimnisvolle, unbekannte Welt beginnt. „Wir gehen nach Wien“, heißt es, endlich sind wir frei.

 Wiener Geschäfte sind innerhalb weniger Tage fast ausverkauft, jeder kehrt mit einer kleinen Trophäe nach Hause, die nach dem Krieg auseinandergerissenen Familien lernen sich neu kennen. War es früher der Eiserne Vorhang, der sie voneinander getrennt hatte, baut sich vor ihnen eine neue Barriere auf: die Sprache. Sie reden mit Händen und Füßen, verlegen umarmen sie einander, versprechen, den Kontakt zu halten. Alle sind glücklich. 

Aber irgendwann steigt der Rauch der sanften Revolution auf, und der Blick fällt auf die neue Realität. Die Machtverhältnisse im ehemaligen Osten werden neu verteilt, aber es sind vorwiegend dieselben Menschen, die das Ruder in den Händen halten. Es sind die Alphatiere, die Fähigen, die Macher. Die Preise steigen, Wohnungen werden unleistbar, die Gehälter und Pensionen halten mit den Teuerungen nicht mit. Es wird auf Teufel komm raus privatisiert, restituiert, gestohlen und betrogen. Der Reichtum und die Macht sind wichtiger als der Mensch, so manche Familien- oder Firmenstruktur zerfällt an der Gier ihrer Mitglieder.

Die Schüler und Studenten bekommen die Möglichkeit, österreichische Gymnasien und Universitäten zu besuchen. Ausgestattet mit europäischen Stipendien, pendeln sie jeden Tag nach Wien, lernen, plagen sich mit der neuen Sprache, verzweifeln am Dialekt, machen Bekanntschaft mit Phänomenen, die sie bis dahin nicht gekannt haben. Schmuggel, Drogen, Prostitution. Die Jugendlichen verfallen den Versuchungen, stehlen in Kaufhäusern Waren, die sie in Wirklichkeit nicht brauchen, schwänzen die Schule, ruinieren ihre Gesundheit, verlieren sogar ihr junges Leben, das gerade begonnen hatte. Manche zerbrechen an der Belastung, in einem fremden Land, ohne dessen Sprache perfekt zu beherrschen, immer fremd zu sein, andere trösten sich damit, dass auch die Einheimischen ihre Probleme haben. 

Junge Akademiker aus dem Osten wandern ins Ausland ab, lassen sich Wirtschaftsflüchtlinge schimpfen; ihre Ausbildung wird gerade von jenen angezweifelt, die keine Fachdiplome nachweisen können. Jenseits der Heimat bauen sie sich voller Hoffnung auf ein besseres Leben eine neue Existenz auf. Wie Seiltänzer ohne Sicherheitsnetz balancieren sie im luftleeren Raum, fürchten Brexit und seine Folgen, haben Angst, nach zehn bis 15 Jahren ins eigene Land zurückzukehren und auch dort fremd zu sein. 

Frauen, vorwiegend aus der Ostslowakei, wo die Wirtschaft aufgrund der Abwanderung und Schließung der maroden Betriebe beinah zum Erliegen kam, nehmen im Zweiwochenrhythmus stundenlange Fahrten mit ermüdeten Chauffeuren auf sich, setzen sogar ihr Leben aufs Spiel, nur um ihre Familien mit dem Nötigsten zu versorgen. Sie füttern, baden, wickeln, cremen ein, streicheln, trösten die fremden Alten und überlassen ihre eigenen Kinder und alten Eltern sich selbst. Aber der Preis für die besser bezahlte Arbeit ist hoch: der Haushalt ohne Mutter, das kranke Kind, das von der Nachbarin versorgt werden muss, ein unbeaufsichtigter Teenager, der sich den ersten Joint dreht. Ein Geflecht aus ewig schlechtem Gewissen, weil die, die man am meisten liebt, nur aus den WhatsApp-
Nachrichten lächeln. Die Frau spürt, dass etwas Entscheidendes fehlt und Zufriedenheit nichts mit Geld, sondern mit dem warmen Gefühl zu tun hat, das dort entsteht, wo sich die Familie am Tisch trifft, wo Geschichten erzählt werden und Umarmungen aus Zuneigung und Liebe wachsen. Und trotzdem kann sie nicht anders, die neue Waschmaschine ist noch nicht abbezahlt, und sie rennt weiterhin wie ein Hamster im Rad.

Aber die Welt bleibt nicht stehen. Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg und verlassen ihre Heimatländer. Freiwillig ist ihre Reise nicht. Revolutionen und Kriege in Afrika und Asien zwingen sie zur Flucht. Europa öffnet die Tore. „Das kann nicht sein!“, rufen die Menschen aus Ost und West. „Wir können nicht alle aufnehmen!“ Und wieder wird demonstriert, diesmal gegen die Fremden, gegen die Politik, die dem Volk etwas aufzwingen möchte, gegen die Roma im eigenen Land, eigentlich gegen alles und alle, die uns ärmer machen könnten. 

Im Sozialismus marschierten wir bei den obligatorischen Maidemonstrationen Schulter an Schulter, täuschten Entschlossenheit und Überzeugung vor, winkten mit Fähnchen den Politfunktionären auf den Tribünen, die mit der geballten Faust der Kämpfer für Recht und Ordnung für die Kameras posierten. Heute, 30 Jahre danach, sieht man wieder gestreckte Arme, diesmal die, die mit offener Hand gegen die Andersartigkeit demonstrieren und zur Tat schreiten. 

Und es werden erneut Zäune gebaut und von den entlang der Grenzen patrouillierenden Soldaten bewacht. „Ich bin kein Rassist, aber …“, hört man immer wieder.  So manche Mauer ist leichter abzubauen als die im Kopf. ● ○