Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!


Hätte ich dieselben Chancen bekommen wie in Österreich?

Es war einer dieser ziellosen Sonntagnachmittage, als ich mit meiner Familie durch das Marchfeld kreuzte. Irgendwann kam uns die Idee, das Nachbarland zu besuchen. Die nächste Gelegenheit zum Grenzübertritt bot sich in Angern. Dort gelangt man auf einer Autofähre über die March von Österreich in die Slowakei. Der Fluss ist nur wenige Meter breit. Die kürzeste Überfahrt meines Lebens dauerte nicht einmal eine Minute. Danach fuhren wir vorbei an Häusern, die weniger geschniegelt, Vorgärten, die nicht ganz so manikürt waren wie daheim. Unweigerlich stellte sich die Frage: Wie wäre das Leben verlaufen, wäre ich nicht in Niederösterreich, sondern hier, gleich nebenan aufgewachsen, jenseits der March in der damaligen Tschechoslowakei? Wären meine Eltern Dissidenten oder Angepasste gewesen? Hätte ich dieselben Chancen bekommen wie in Österreich, einem der reichsten Länder der Welt? Wie hätte ich 1989 erlebt? 

Das Special des aktuellen morgen beleuchtet die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die sich heuer zum 30. Mal jährt. Darüber hinaus widmen wir das Heft dem Thema Grenzen. Dieses begleitet uns das ganze Leben hindurch. Schon Babys testen ihre Grenzen aus, erforschen, wie weit sie gehen können – wie oft sie, zum Beispiel, ihr Spielzeug sanktionslos auf den Boden knallen oder Marmelade am Tisch verschmieren können. Und das ist – Jungeltern mögen verzeihen – gut und wichtig so. Denn wer nie seine Beschränkungen infrage stellt, bleibt stehen. Wenn nicht ständig Menschen über die Limits gehen, die sie sich selbst oder die Gesellschaft ihnen gesetzt haben, dann existiert kein Fortschritt. Weder in der Kunst noch in der Wissenschaft. Ein Kulturmagazin, das sich mit Grenzen befasst, muss daher mehr von ihrer Überwindung handeln denn von ihrer Errichtung.

Wobei es sicher ganz hilfreich ist, der klebrigen Dekoration von Möbelstücken durch Minderjährige Einhalt zu gebieten. ● ○

Herzlichst

Ihre Nina Schedlmayer