Melandri

„Nicht noch mehr Mauern"


Wir müssen aus einem völlig anderen Blickwinkel über Grenzen sprechen: Das sagt die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri. In ihrem Roman „Alle, außer mir“ begegnet ihre Heldin Ilaria einem äthiopischen Flüchtling. morgen befragte die Autorin über ein verdrängtes Kapitel der italienischen Geschichte, multikulturelle Gesellschaften und die Schranken im Kopf.

morgen: Wo verlaufen derzeit die schärfsten Grenzen in der italienischen Gesellschaft?

Francesca Melandri

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Ich halte die Überalterung der Bevölkerung für das wichtigste Thema. Alte, vor allem ältere Männer, besetzen nach wie vor die meisten Machtpositionen, dominieren Entscheidungsfindungen, die Medien und den Reichtum des Landes. Dem stehen zu wenige Junge gegenüber, deren kreative Energie und Beitrag zur Gesellschaft nicht gefördert und ausreichend geschätzt werden. Oft sind sie auch dramatisch unterbezahlt.

Eine schlecht bezahlte römische Lehrerin namens Ilaria ist auch die Heldin Ihres aktuellen Romans „Alle, außer mir“. Er spannt einen Bogen vom Ende der Berlusconi-Jahre bis zurück zum Ersten und Zweiten Weltkrieg und der faschistischen Kolonial­zeit Italiens in Äthiopien und Eritrea. Rassismus ist eins seiner Hauptthemen. Warum ist der Rassismus so unausrottbar populär – auch heute wieder?

Melandri

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Wir leben in Zeiten einer massiven Umgestaltung der Welt, die wir kannten. In unsicheren Zeiten ist die Versuchung immer groß, sich in den Mythos vom „großartigen Gestern" zu flüchten, wie Ryszard Kapuściński es nannte, jene fabelhafte Vergangenheit, in der die Dinge noch einfach waren und unsere Nachbarn alle so aussahen wie wir. Dieser Mythos ist zwangsläufig fremdenfeindlich, und natürlich hat es dieses „großartige Gestern" weder je gegeben, noch war es jemals großartig. Trotzdem baut eine riesige Propagandamaschinerie darauf auf.

Der Roman beginnt damit, dass eines Tages ein junger äthiopischer Flüchtling vor der Tür Ihrer Heldin Ilaria steht, der behauptet, ihr Neffe und der Enkel ihres Vaters Attilio zu sein, der in den 1930er-Jahren als junger Mann im italienisch besetzten Äthiopien gedient hat. Die Suche nach der Wahrheit stellt viele Konstanten von Ilarias Leben infrage. Welche Idee stand am Beginn des Schreibens?

Melandri

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Es waren eher Fragen als Ideen. Etwa: Wie gehen wir mit unserem kollektiven Gedächtnis um und welche Auswirkungen hat das auf die Erinnerungskultur in unseren Familien? Oder: Wie ist es um das Verhältnis zwischen der Angst vor dem Fremden und der allermenschlichsten, universellsten Angst, nämlich der vor dem Tod bestellt?

Tod und Sterben sind besonders in den Kapiteln präsent, in denen es um die italienische  Kolonialzeit in Ostafrika geht. Deutschsprachige Leser werden feststellen, wie erschreckend wenig sie bisher über dieses dunkle Kapitel der italienischen Geschichte wussten. Wie sieht es damit in Italien aus?

Melandri

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Einige Dinge, die mein Roman erzählt, waren auch für viele italienische Leserinnen und Leser ein Schock. Die Geschichtswissenschaft kennt die Fakten schon seit gut 40 Jahren, trotzdem sind sie irgendwie nie ins allgemeine Bewusstsein durchgesickert. Ich finde diese kollektive Ignoranz sehr interessant. Nicht zu wissen, nicht wissen zu wollen oder zu leugnen, was bekannt ist – das sind alles relevante Themen meines Romans.

„Ihr wisst nichts von uns, nicht einmal, wenn ihr hier gewesen seid“, sagt im Buch Ilarias äthiopischer Neffe.

Melandri

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So funktioniert, kurz gesagt, das kognitive Beziehungsmuster der Unterdrückung, das ebenso in Klassen- oder Gender-Belangen gilt. Die Mächtigen brauchen nicht viel über die Unterdrückten zu wissen, während diese umgekehrt die Mächtigen sehr genau verstehen müssen, weil Unwissenheit für sie eine ernste, mitunter tödliche Gefahr darstellt. Die Mächtigen hingegen können in ihrer privilegierten Ignoranz verharren.

Was tut man gegen die Grenzen im Kopf?

Melandri

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Der einzige Ausweg besteht darin, überzeugende Alternativen anzubieten: andere Weltanschauungen und Zukunftsvisionen. Einen Rassisten „Rassist“ zu nennen, macht ihn nicht weniger rassistisch. Man muss die Ängste, die ihn dazu gemacht haben, ansprechen und anders beantworten. Etwa durch einen gemeinsamen Kampf für eine gerechtere Gesellschaft. Ich spreche von Angst-Wählern, nicht etwa von explizit rassistischen Politikern und Provokateuren, mit denen kein Dialog möglich ist.

Wie soll das gehen?

Melandri

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Das führt zum nächsten großen Thema: Auf welcher Seite stehen die Mainstream-Medien, wenn es um die Bekämpfung von Rassismus geht? Viel zu oft behandeln sie Rassismus, als wäre er einfach eine Haltung unter vielen. Das ist er nicht, vor allem nicht in Ländern mit nationalsozialistischer oder faschistischer Vergangenheit wie Italien oder Österreich. Mainstream-Medien müssen mehr Verantwortung für die gesellschaftliche Stimmung übernehmen. Statt bereitwillig Internet und Social Media für die Verbreitung von Hass gegen Minderheiten oder Frauen verantwortlich zu machen, sollten sie einen genauen Blick auf ihre eigene Ambivalenz und Heuchelei werfen.

Martialisch abgesicherte Grenzen sind der Fetisch der Gegenwart – von Trumps Grenzzaun zu Mexiko bis zur EU-Außengrenze. Was will man da angesichts von immer multikultureller werdenden Gesellschaften draußen halten?

Melandri

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Es ist ein historisches Paradoxon: Wir erleben das Ende des Nationalstaats, den wir Europäer im Lauf einiger blutiger Jahrhunderte erfunden haben. Gleichzeitig wird die Idee des Nationalstaats mit Zähnen und Klauen verteidigt, und zwar gerade weil sie von den Kräften der Globalisierung so dramatisch infrage gestellt wird. Mauern zu bauen klingt da wie eine gute Lösung.

Was folgt daraus?

Melandri

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Unsere Generation wird das Ende des Zeitalters der europäischen Hegemonie erleben, das etwa 500 Jahre gedauert hat. Wie das nächste Zeitalter aussehen wird, wissen wir nicht. Wenn wir als Spezies überleben wollen, müssen wir auch die gesamte Beziehung, die wir zu unserem Planeten haben, infrage stellen. Natürlich sind wir von all dem überwältigt! Es wäre dumm, es nicht zu sein! Diese globalen Herausforderungen beantwortet man aber nicht mit mehr Mauern, sondern mit globalen Lösungen.

„Auswanderungswellen sind wie Gezeiten, wie Stürme, wie die Umlaufbahnen der Planeten, wie Geburten, sie lassen sich nicht aufhalten. Und schon gar nicht mit Gewalt“, heißt es einmal in Ihrem Roman. Also: Alle Grenzen auf?

Melandri

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Wir müssen unsere Perspektive völlig verändern, wenn wir über Grenzen sprechen. Für viele Menschen wie Sie und mich ist das „Alle Grenzen auf"-Szenario längst Realität. Ich kann mit meinem europäischen Pass in fast jedes Land der Welt legal einreisen. Eine Frau, geboren in Guinea oder Ecuador, genießt diese Bewegungsfreiheit, die der gesamte reiche Westen als selbstverständlich erachtet, hingegen nicht. Die Frage lautet also nicht: „Sollen wir offene oder geschlossene Grenzen haben?“, sondern „Ist es richtig, dass die Grenzen nur für eine Minderheit offen sind, während sie für alle anderen geschlossen bleiben?“ Das ist die Debatte, die wir führen müssen. Es geht nicht um Grenzen, sondern darum, wie die Menschheit durch diese „Mobilitäts-Apartheid“ segregiert wird.

Sie beschreiben die Situation von Flüchtlingen in Italien als aussichtslos und verzweifelt. Sind es wirklich viel zu viele, die die Grenzen nach Europa überschreiten?

Melandri

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Nicht im Geringsten. Die Rhetorik von der „Invasion“ stimmt einfach nicht. Europa, der reichste Kontinent der Welt mit 500 Millionen Einwohnern, ist mehr als in der Lage, viele der Menschen, die hierherkommen wollen, aufzunehmen. Außerdem kommt ohnehin nur ein Bruchteil der Migranten und Migrantinnen der Welt nach Europa: Die überwiegende Mehrheit migriert in die unmittelbaren Nachbarländer. Dass Invasionen vor unserer Haustür stehen, ist einfach höchst erfolgreiche populistische Propaganda. Dass sie falsch ist, widerlegen zuverlässige Daten und Zahlen.

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Unter welchen Kopf-Schranken leidet denn die Linke?

Melandri

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Es gibt bei Linken eine Art von wohlwollendem Rassismus, der dennoch Rassismus ist, nämlich sich Migrantinnen und Migranten nicht als Menschen voller Potenzial und intelligente Akteure ihres eigenen Schicksals vorzustellen, sondern ausschließlich als bedürftig und verzweifelt. Die „Güte“ der „Weißen“, die ihnen helfen, steht im Mittelpunkt und nicht der wechselseitige Austausch.

Trübe Aussichten also?

Melandri

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Ich habe große Erwartungen an die zweite Generation der neuen europäischen Bürger und Bürgerinnen, die diese Art von Rassismus ihr ganzes Leben lang hautnah erlebt haben. Diese jungen Männer und vor allem Frauen machen hervorragende Arbeit, wenn sie den „weißen Progressiven“ sagen, wie rassistisch es ist, weiterhin über sie, aber nie mit ihnen zu sprechen. Es ist an der Zeit, endlich auf sie zu hören. ● ○