Forschungsethik

Menschliche Mäuse


Was darf die Forschung, was nicht? Welche Grenzen soll sie respektieren? Eine Wissenschaft, die immer komplexer wird, muss sich mit ethischen Fragen befassen und dabei künftige Entwicklungen antizipieren. Häufig steht sie vor gewaltigen Dilemmata.

Am 5. August 2014 wurde der Molekularbiologie Yoshiki Sasai tot in seinem Institut aufgefunden. Auf seinem Schreibtisch fand die Polizei einen Abschiedsbrief. Der japanische Forscher hatte sich in seinen Arbeitsräumen im Riken-Institut für Entwicklungsbiologie in Kobe erhängt.

Sasai war Co-Autor einer umstrittenen Stammzellen-Studie. Er gehörte zu einer Forschungsgruppe, die nach eigenen Angaben eine neue Methode zur Verjüngung von Zellen mit Säure entwickelt und die Studie im Jänner im britischen Fachmagazin Nature veröffentlicht hatte. Rasch gab es Zweifel an der Auswertung. Ein Prüfungskomitee stellte unmissverständlich fest, dass die Ergebnisse verfälscht waren. Anfang Juni kündigte es an, dass eine beteiligte Wissenschafterin, Haruko Obokata, ihre Forschungspapiere zurückziehen werde. Die Frau war der Manipulation beschuldigt worden, was sie entschieden zurückgewiesen hatte. Sasai hatte ihre Arbeit beaufsichtigt.

Missbrauch von Ideen

Inwieweit dürfen wir wissenschaftlichen Ergebnissen trauen? Und wie weit dürfen Forscher und Forscherinnen für Erkenntnisgewinn gehen? Die Wissenschaftsethik verfolgt zwei Pfade. Der eine strebt nach der Wahrhaftigkeit von Forschungsergebnissen. Sind medizinische Substanzen wirksam? Ist der Klimawandel auf menschengemachtes CO2 zurückzuführen? Die Arbeit an Fragestellungen wie diesen erfolgt nach Grundprinzipien von wissenschaftlicher Integrität und wissenschaftlicher Praxis, die auch Formen des Fehlverhaltens definieren.

Der zweite Pfad ist philosophisch und definiert sich über die grundlegenden Annahmen und Werte einer Gesellschaft. Dabei geht es um den Umgang mit Forschungsergebnissen und die Frage, welche Anwendungen wir als legitim erachten. Wollen wir mit Hilfe von künstlicher Befruchtung durch In-vitro-Fertilisation nicht nur gesunde Kinder zeugen, sondern auch solche, die bestimmten Rassebildern entsprechen? Wollen wir Menschen klonen? Wollen wir die Kernspaltung für Atombomben einsetzen? „Grundlagenwissenschafter versuchen herauszufinden, welche Mechanismen die Welt erklären. Man kann keinem Forscher sagen, denke nicht in diese oder in jene Richtung, denn deine Ideen könnten missbraucht werden. Was aber definitiv Regeln benötigt, sind die Rahmenbedingungen, wie man Forschung betreibt“, erläutert der Zellbiologe Michael Sixt, Vizepräsident des Institute of Science and Technology (IST) Austria in Maria Gugging bei Klosterneuburg, Österreichs größtem Institut für Naturwissenschaften und Informatik. Auf seiner Homepage hat das IST Richtlinien für gute wissenschaftliche Praxis festgelegt. „Dabei geht es um die Integrität, mit der Wissenserwerb funktioniert, also um den Prozess und darum, wie man seine Ergebnisse dokumentiert und kommuniziert“, sagt Sixt.

Müsste ein Mathematiker, dessen Formeln auch einen militärischen Nutzen haben könnten, überlegen, ob er weiterforscht? Als die Physikerin Lise Meitner 1939 das entscheidende Experiment ihres Kollegen Otto Hahn zur Kernspaltung deutete, machte ihr das nicht nur Freude, sondern auch Angst. „Während des Krieges pflegte ich zu sagen: Ich hoffe, die Konstruktion einer Atombombe gelingt nicht, aber oft fürchte ich, sie gelingt doch. Meine Furcht war berechtigt“, wird sie in der Biografie „Lise Meitner“ von David Rennert und Tanja Traxler zitiert. Bahnbrechende Ergebnisse zurückzuhalten, ist dennoch keine Option.

Um die Freiheit der Forschung ist es nicht schlecht bestellt. Generell ist unabhängige Grundlagenforschung zum größten Teil staatlich finanziert. Forschungsfragen aus allen Bereichen – von Medizin über Gravitationswellen bis hin zu selbstfahrenden Autos oder archäologischen Ausgrabungen – werden mit öffentlichen Budgets beantwortet, die üblicherweise keine industrienahen Anwendungen zur Bedingung haben. Auch die Zulassung neuer Therapien und Technologien muss nach objektiven Kriterien erfolgen. Präparate in der letzten klinischen Studienphase kommen nicht auf den Markt, wenn sie unwirksam sind, auch wenn ihre Entwicklung bereits Milliarden gekostet hat.

Zwickmühle

Doch selbst wenn die Praxis perfekt befolgt wird und Ethikkommissionen sowie Gesetzgeber einig sind, welche Anwendungen der Menschheit dienen und welche nicht, schafft eine immer komplexere Wissenschaft paradoxe Situationen. Der japanische Stammzellforscher Hiromisuto Nakuchi lässt menschliche Zellen in Tieren heranwachsen, mit dem Ziel, ihre Organe in Menschen zu transplantieren. Bei Mäusen und Ratten wurden humane Zellen bereits erfolgreich verpflanzt. Es sollen Schweine folgen, deren Organe groß genug wären. Ethiker sehen darin kein grundsätzliches Problem, so lange keine menschliche DNA in Tiergehirne eindringt, und der menschliche Anteil im Schwein nur so hoch ist, dass das Organ vom Empfänger nicht abgestoßen wird. „Unter einem Mischwesen würde ich mir ein Lebewesen vorstellen, dessen äußeres Erscheinungsbild zwischen zwei Spezies läge. Davon sind wir weit entfernt“, kommentiert der Stammzellforscher Jürgen Knoblich die Arbeit des Kollegen.

Es entsteht eine Zwickmühle: Wollen wir Tiere mit menschlichen Genen als Organ-Ersatzteillager oder wollen wir schwerkranke Menschen sterben lassen, weil wir zu wenig Spenderorgane haben? „Wir als Gesellschaft müssen über Anwendungen diskutieren, bereits während geforscht wird. Das ist unglaublich schwierig, weil wir nicht wissen, wie sich das Wissen ändern wird. Wir müssen also mit Parametern rechnen, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht existieren“, sagt Michael Sixt.

Paula Boddington, Senior Research Fellow am Institut für Biowissenschaften der britischen Universität Cardiff, räumt ein: „Angesichts der faszinierenden Seiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der eine immer bessere Welt verspricht, ist man verleitet zu meinen, dass er die Menschheit auf jeden Fall weiterbringt. Der Erkenntnisgewinn hat sich derart intensiviert, dass Fortschritt selbst eine Wertigkeit darstellt.“ Die Fortschritts- und Technologiebegeisterung überschattet dann andere, vielleicht tiefere Werte.

Während die Heilung von Krankheiten zweifelsohne erstrebenswert ist, ist es Heilung um jeden Preis nicht unbedingt. „Wir wollen ein gutes menschliches Leben führen, in dem wir uns gedeihlich entwickeln, uns unserer Taten bewusst sind und Handlungen bedacht setzen. Wissen um des Wissens willen ist ein Teil unserer Existenz, doch es sollte so verwendet werden, dass der Nutzen die Kosten überwiegt“, erklärt Boddington. Manche Forschungsziele rechtfertigen Tierversuche – etwa wenn es darum geht, menschliches Leben zu retten. Wenig gerechtfertigt erscheinen dagegen Manipulationen an befruchteten Eizellen ohne Not um Leben und Tod. Darf man, wie der chinesische Forscher He Jiankui, in die Keimbahn eingreifen, damit der Nachwuchs und all seine Nachkommen kein HIV bekommen könnten? Die Welt sagte Nein, und doch hatte jemand die Forschungsarbeiten dafür bezahlt.

Wir können uns um diese Probleme nicht mit simplen Binsenweisheiten schwindeln. Womit eine der wichtigsten Eigenschaften, die die Wissenschaft haben muss, die Demut ist. ● ○