Milan sah Beáta an, hörte ihre bekannte Stimme. Sie kannten sich noch von der Hauptschule. Gemeinsam fuhren sie mit dem Schulbus, der weißen Karosse, in Richtung Bratislava–Kittsee. Sie haben gemeinsam Deutsch gelernt, gemeinsam über die Lehrerinnen geschimpft. Das Lachen war ein gutes Mittel gegen die Angst, die ihnen das alltägliche Versagen bereitete. Sie beherrschten die Sprache nicht, sie waren nicht einmal imstande, auf die einfachsten Fragen zu antworten. Und schon gar nicht auf die, die den Lehrstoff betrafen. Alles in einer Fremdsprache. In einer fremden Umgebung.
Mit jedem neuen Wörtchen, das in ihren Köpfen haften blieb, kamen sie näher ans Ziel, erreichten eine bessere Stabilität. Die Fünfer wurden nach einigen Monaten von Vierern abgelöst. Zu der Zeit, in der sie die österreichische UNESCO-Dorfschule besuchten, wussten die Österreicher nicht sehr viel über ihre Nachbarn. Dieses kleine Dorf an der Grenze hatte damals einen ganz anderen Charakter. Es wurde bis ins letzte Detail von fleißigen österreichischen Händen gepflegt. Es war ein österreichisches Territorium mit ausschließlich österreichischen Häusern, österreichischen Scheunen, Stadeln, Höfen, Vorgärten, vor denen Autos mit österreichischen Kennzeichen parkten. Es war klar, wer dort zu Hause war und wer auf Besuch.
Bis zur Grenzöffnung verwendeten die fleißigen österreichischen Dorfbewohner das Wort „Diebstahl“ nicht. Aus Sicht der Semantik war es vorhanden, es fehlte nur die Empirie. Bis in die 90er-Jahre brauchten sie die Haustore nicht zu versperren, konnten ihre Fahrräder vor dem Supermarkt ungesichert stehen lassen. Solche Vorsichtsmaßnahmen waren nicht notwendig. Es war ein Landstrich von Bauern und Kleinhäuslern, denen der Unterricht ihrer schulpflichtigen Kinder in Haus- und Gartenarbeit und Religion genauso wichtig war wie in Mathematik oder Geschichte. Alles hatte seine Ordnung, sogar das auf die gleiche Länge geschnittene Holz in der Scheune.
Nichts ist wichtiger, als anständig zu sein. Die Fachlehrerin Johanna Radeczki klopfte Beáta auf die Handknöchel, während diese mit den Fingern, ohne ihre Silberringe abzunehmen, auf dem Holzbrett Germteig knetete. Sie zog die Hände des Mädchens aus der klebrigen Masse, schrie etwas hysterisch im stärksten burgenländischen Dialekt durch die unbeheizte Steinküche im alten Trakt der Schule und schickte Beáta hinaus. Der violette Nagellack in Kombination mit den Onyxringen in der Größe eines Fingerglieds irritierte die Lehrerin so sehr, dass sie nach Luft schnappte.
Erst unlängst hatte sie Beáta bezüglich des absoluten Verbots, Ringe, die Brutstätte von Bakterien, beim Kochen zu tragen, ermahnt. Dort, wo man mit Lebensmitteln arbeitete, erwartete man durch und durch Verantwortung und die Einhaltung höchster Sauberkeitskriterien. Es ging hier ums Prinzip. Es wäre etwas anderes gewesen, hätte der Ring die Form eines Rosenkranzes gehabt, aber so, diese abscheulichen Extravaganzen. Dieser violette Nagellack war sicher ein Teil der ekelhaften slowakischen Provokation, der die Lehrerin schon seit ein paar Jahren ausgesetzt war. Seit die Grenzen offen waren, schreckte sie oft aus dem Schlaf hoch wegen des slawischen ohrenzerreißenden Mischmaschs, dem sie jeden Tag für viele Stunden ausgesetzt war. Sogar während der Häkelstunde musste sie den frechen, flüsternden, slowakischen Schnauzen lauschen, ohne zu wissen, ob sie schon wieder über sie tuschelten. Seit der Grenzöffnung erfüllte der Beruf Johanna Radeczki, Österreicherin der zweiten Generation, nicht mehr. Grund waren die slowakisch plappernden Fremdlinge in Miniversion.
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