Pendler

Die Pendler


In ihrem Roman „Pendleri“, zu Deutsch: „Die Pendler“, schreibt die Autorin Tamara Šimončíková Heribanová über slowakische Jugendliche, die kurz nach der Grenzöffnung täglich nach Österreich pendeln, um dort zur Schule zu gehen. morgen bringt exklusiv einige Auszüge aus dem 2018 bei Ikar auf Slowakisch erschienenen Roman, für den die Schriftstellerin kürzlich den Hauptpreis des slowakischen PEN-Clubs erhielt.

Dichter Rauch, Pikos, Briefchen mit Pervitin, auch Crystal genannt, aufgereihte Abteile. Ein langer Gang, aus jedem Abteil hängen Köpfe heraus. Gleise, Bahnsteige. Dort haben wir gelebt, auf der Plattform. In der Halle. Nicht in den Wartesälen, dort hat es gestunken. Eine tote Taube auf dem Beton, Tschicks, Standln mit Leberkäs’ und Bratwürsteln. Kaffeeduft, frisches Brot und Semmeln in der Luft rund um den ANKER. Ich versuche, mich daran zu erinnern.

Die Waggons waren unser Zuhause, so viel Zeit haben wir dort verbracht. Alltägliches Reisen. Morgens sehr früh hin, abends, nachts zurück. Zweimal täglich die Reisepässe zücken. Für manche von uns war das Pendeln ein Albtraum. Und die Unseren dachten, dass wir ein traumhaftes Leben führten. Oder so. Sie haben den Traum geträumt, noch viele Jahrzehnte lang, und so dachten sie, wir wären glücklich. Aber unsere Freiheit war anders. Viele von uns haben sich schon am Anfang darin verloren, die anderen später.

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Milan sah Beáta an, hörte ihre bekannte Stimme. Sie kannten sich noch von der Hauptschule. Gemeinsam fuhren sie mit dem Schulbus, der weißen Karosse, in Richtung Bratislava–Kittsee. Sie haben gemeinsam Deutsch gelernt, gemeinsam über die Lehrerinnen geschimpft. Das Lachen war ein gutes Mittel gegen die Angst, die ihnen das alltägliche Versagen bereitete. Sie beherrschten die Sprache nicht, sie waren nicht einmal imstande, auf die einfachsten Fragen zu antworten. Und schon gar nicht auf die, die den Lehrstoff betrafen. Alles in einer Fremdsprache. In einer fremden Umgebung.

Mit jedem neuen Wörtchen, das in ihren Köpfen haften blieb, kamen sie näher ans Ziel, erreichten eine bessere Stabilität. Die Fünfer wurden nach einigen Monaten von Vierern abgelöst. Zu der Zeit, in der sie die österreichische UNESCO-Dorfschule besuchten, wussten die Österreicher nicht sehr viel über ihre Nachbarn. Dieses kleine Dorf an der Grenze hatte damals einen ganz anderen Charakter. Es wurde bis ins letzte Detail von fleißigen österreichischen Händen gepflegt. Es war ein österreichisches Territorium mit ausschließlich österreichischen Häusern, österreichischen Scheunen, Stadeln, Höfen, Vorgärten, vor denen Autos mit österreichischen Kennzeichen parkten. Es war klar, wer dort zu Hause war und wer auf Besuch.

Bis zur Grenzöffnung verwendeten die fleißigen österreichischen Dorfbewohner das Wort „Diebstahl“ nicht. Aus Sicht der Semantik war es vorhanden, es fehlte nur die Empirie. Bis in die 90er-Jahre brauchten sie die Haustore nicht zu versperren, konnten ihre Fahrräder vor dem Supermarkt ungesichert stehen lassen. Solche Vorsichtsmaßnahmen waren nicht notwendig. Es war ein Landstrich von Bauern und Kleinhäuslern, denen der Unterricht ihrer schulpflichtigen Kinder in Haus- und Gartenarbeit und Religion genauso wichtig war wie in Mathematik oder Geschichte. Alles hatte seine Ordnung, sogar das auf die gleiche Länge geschnittene Holz in der Scheune.

Nichts ist wichtiger, als anständig zu sein. Die Fachlehrerin Johanna Radeczki klopfte Beáta auf die Handknöchel, während diese mit den Fingern, ohne ihre Silberringe abzunehmen, auf dem Holzbrett Germteig knetete. Sie zog die Hände des Mädchens aus der klebrigen Masse, schrie etwas hysterisch im stärksten burgenländischen Dialekt durch die unbeheizte Steinküche im alten Trakt der Schule und schickte Beáta hinaus. Der violette Nagellack in Kombination mit den Onyxringen in der Größe eines Fingerglieds irritierte die Lehrerin so sehr, dass sie nach Luft schnappte.

Erst unlängst hatte sie Beáta bezüglich des absoluten Verbots, Ringe, die Brutstätte von Bakterien, beim Kochen zu tragen, ermahnt. Dort, wo man mit Lebensmitteln arbeitete, erwartete man durch und durch Verantwortung und die Einhaltung höchster Sauberkeitskriterien. Es ging hier ums Prinzip. Es wäre etwas anderes gewesen, hätte der Ring die Form eines Rosenkranzes gehabt, aber so, diese abscheulichen Extravaganzen. Dieser violette Nagellack war sicher ein Teil der ekelhaften slowakischen Provokation, der die Lehrerin schon seit ein paar Jahren ausgesetzt war. Seit die Grenzen offen waren, schreckte sie oft aus dem Schlaf hoch wegen des slawischen ohrenzerreißenden Mischmaschs, dem sie jeden Tag für viele Stunden ausgesetzt war. Sogar während der Häkelstunde musste sie den frechen, flüsternden, slowakischen Schnauzen lauschen, ohne zu wissen, ob sie schon wieder über sie tuschelten. Seit der Grenzöffnung erfüllte der Beruf Johanna Radeczki, Österreicherin der zweiten Generation, nicht mehr. Grund waren die slowakisch plappernden Fremdlinge in Miniversion.

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Ihr eigenes Abteil. Durch die verschmutzten Fenster konnte man den rosafarbenen Himmel und österreichische Felder sehen. Die Umrisse der österreichischen Landschaft wuchsen und verschwanden in der Dämmerung. Sie ähnelten den Panoramakonturen anderer Länder, sogar jenen ihrer Heimat, ähnlich und doch so fremd. Die Abteil-Belegschaft wusste das. Tag für Tag spürten sie, dass sie in dem Nachbarland nur zu Besuch waren. Ein Tagesausflug auf unbestimmte Zeit.

Ihre Besuche bildeten ein Kolorit mit eigenartigen Grenzen. Nicht die von Staatsterritorien, durch internationale Verträge definiert, sondern die, die in jedem Einzelnen dieser fröhlichen Gruppe gezogen waren. Diese Grenzen waren streng bewacht und das nicht, weil sie es so wollten, sondern weil sie nicht anders konnten. Tag für Tag besuchten sie ein fremdes Land und am Abend, auf dem Heimweg, war ihnen bewusst, dass auch Jahrzehnte in diesem Land keine Einheimischen aus ihnen machen würden. Sie würden immer Ausländer aus dem Ostblock, aus der unterentwickelten Slowakei bleiben. Aus Bratislava, das österreichische Mitschüler zu besuchen sich weigerten, weil dort viel gestohlen und gemordet wurde. Mafia überall. Als Martin seinen Mitschüler Akçam Büyüktürk zu seiner Geburtstagsfeier einladen wollte, zischte ihm dieser ins Gesicht: „Euch hat man sogar den Präsidentensohn entführt.“

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Das Abteil, das geschlossene, stickige, verrauchte Kämmerchen, war eines der Schlüsselräume ihres Erwachsenwerdens. Überschreitung der Grenzen, das Hin- und Herpendeln. Amantes amentes. Dort bei den Gleisen begriff er die Liebe und erlebte auch ihren Verlust. Amantes amentes. Verrückte Liebende. (…)

Martin starrte auf den Monitor in dem Bemühen, die Vergangenheit zu rekonstruieren, und spürte, wie in seinem Inneren alles lebendig wurde. 

Er hörte ihre Stimmen. Zu Pendler-Zeiten standen sie ihm am nächsten.

Janas Ohr voll von Silberringen. Lindas Fleck auf dem Rucksack, Kaugummi auf die Zigarettenschachtel geklebt, Durchzug im Gang, ein schmutziges Fenster, das klemmte, die Schiebetür aus Sperrholz.

Geratter, Geratter.

Geratter als unaufhaltbares Metronom. Verwaschenes Bild wie nach einem Doppelliter Zweigelt vom Bahnhofskiosk.

Quietschen der Schienen, Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Abfahrten. Ankünfte. Verspätungen.

Geratter, Geratter.

Geratter wie ein feiner Sand. Alles durchdringend.

Wie ein weißes Rauschen.

Ihr Abteil, ihre Clique, ihr alltägliches Miteinander.

Er saß wie angeklebt im Lehnstuhl und tauchte wie paralysiert seinen Blick in die flimmernden Bilder. In eines nach dem anderen. ● ○