© Magdalena Schrefel
© Magdalena Schrefel

Essay

Hearsing, Singenhören, Hörensagen


Radio-, Kassetten- und Walkmankind: Schriftstellerin Magdalena Schrefel über ihre mediale Sozialisierung und das Momenthafte analogen Hörens.

In seiner „Traumdeutung“ schreibt Sigmund Freud: „In einem längeren wüsten Traume von mir, der eine Schiffsreise zum scheinbaren Mittelpunkte hat, kommt es vor, daß die nächste Station Hearsing heißt“, und weiter: „Hearsing aber ist kombiniert aus den Ortsnamen unserer Wiener Lokalstrecke, die so häufig auf -ing ausgehen: Hietzing, Liesing, Mödling (…) und dem englischen Hearsay = Hörensagen.“

Diesen Auszug aus der „Traumdeutung“ höre ich im Radio, und sofort fühle ich mich angesprochen: von dem Witz, der sich darin entbirgt, genauso wie von dem Gedanken, dass sich in den Witzen, die unsere Träume über uns machen, etwas offenbart, mit dem wir auch bei Tag noch etwas anfangen können.

Was Freud nicht anspricht, ist die Doppelung, die sich klanglich in dem Kofferwort Hearsing zeigt. Denn neben dem Hörensagen ist es auch das Singenhören, das sich in Hear-sing versteckt. Beide zusammen aber machen das Wesen des Radios aus: Ich höre jemanden etwas sagen, zum Beispiel die Nachrichten, und dann wieder jemanden singen, zum Beispiel das: Hello! It’s me. I was wondering if after all these years you’d like to meet …

Meine Verwunderung, dass Freud das Singenhören nicht anspricht, hält nur kurz an, denn noch während das Radio läuft – there’s such a difference between us, and a million miles –, klärt schon eine kurze Recherche, dass Freud die „Traumdeutung“ noch vor der massenhaften Verbreitung des Radios geschrieben hat. Veröffentlicht wird sie erstmals 1899, als erste Rundfunksendung sendet man in Deutschland hingegen erst 1920 ein Weihnachtskonzert. Und erst der Herbst 1923 gilt als Urstunde des Radios: Achtung, Achtung ... hier ist die Sendestelle Berlin, tönt es aus dem Apparat. In Österreich, wo Freud zu diesem Zeitpunkt noch lebt, geht der Rundfunk bereits am 1. April 1923 – kein Scherz – on air. Da mir die ersten Worte nicht bekannt sind, setze ich die Sendung im Heute fort: Hello from the other side. I must’ve called a thousand times. Für die massenhafte Verbreitung der Apparate sorgen dann erst die Nationalsozialisten. Mit dem Volksempfänger VE 301 (das steht für den Tag der Machtübergabe) steigt die Zahl der Hörerinnen und Hörer exponentiell, von vier auf sechzehn Millionen. Freud kann Wien im Juni 1938 gerade noch verlassen.

Seit ich diesen Auszug aus seiner „Traumdeutung“ kenne, stelle ich mir vor, ein Hörspiel zu machen, in dem ich mit meinem Aufnahmegerät zu allen Vorverkaufsstellen der Wiener Linien gehe, der Nachfolgerin der Lokalbahnen, und dort also in Hietzing oder Liesing oder Penzing oder auch Ottakring nach einem Ticket frage: Ein Ticket nach Hear­sing, bitte. Was dann passiert, weiß ich noch nicht, das ist das Schöne an O-Ton-Hörspielen: dass man sie nicht allein schreiben kann.

Dass ich dieses Fundstück im Radio aufgelesen habe, ist kein Zufall, denn ich war ein Radiokind und bin es bis heute. Schon in meinen frühesten Erinnerungen spielt das Radio eine Rolle, allerdings nicht durch die Kindersendungen („Das Traummännlein“ oder auch „Niños del mundo“), die ich zu hören gelehrt bekomme, und auch nicht als das Hintergrundrauschen von Schlagern, „Trost und Rat“ oder Verkehrsmeldungen auf Ö2 während der vielen Nachmittage, die ich bei meinen Großeltern verbringe, sondern vor allem durch Ausflüge auf den nahe gelegenen Bisamberg, auf dem damals noch zwei Sendemasten stehen. Wenn wir nach dem Schaukeln, Rutschen und Toben auf dem Spielplatz endlich stehen bleiben, denke ich, dass das meine ältere Schwester und ich sind: Sie der große und ich der etwas kleinere Sender. Vielleicht überschreibt die Autorin hier aber auch ihre Erinnerung. Die Sendemasten wurden 2010 gesprengt, gut 15 Jahre, nachdem sie zuletzt gesendet hatten. Kurz danach verließen erst ich, dann auch meine Schwester Wien.

Wer ein Radiokind war, ist wahrscheinlich auch ein Kassettenkind gewesen.

Wer in einer bestimmten Zeit ein Radiokind war, ist wahrscheinlich auch ein Kassettenkind gewesen. „Bibi Blocksberg“ bekam ich über Jahre in Fortsetzung zu Geburtstagen und zu Weihnachten geschenkt, das größte Geschenk war es jedoch, zu lernen, wie man das Radio selbst auf die Kassette bringt. Damit wurde etwas wiederholbar, das bis dahin vergänglich und momentan gewesen war, allem voran Musik, die ich im Unterschied zu heute nicht über Streamingplattformen wiederfinden und nachhören konnte; wenn mir ein Lied im Radio gefiel, dann musste ich darauf lauern, dass es wiederkam. Ein guter Ort für die Lauer waren die wöchentlichen Ö3 Top 40, später die FM4-Charts. Die Kunst der Lauer bestand darin, die Ansage abzuwarten; das Verstummen des Moderators oder der Moderatorin erkannte ich an der Betonung der letzten Silben, an einer beinahe nicht hörbaren Atempause. So passte ich den richtigen Moment ab, um gleichzeitig auf Record und Play zu drücken und die Aufnahme zu starten. Weil das Radio aber Radio war, quatschten der Moderator oder die Moderatorin auch gern mal in Songs hinein, damit mussten wir leben, ihre Worte wurden Ewigkeit.

Das Momenthafte des Radios – für alle, jetzt, gleichzeitig – wiederholten wir, wenn wir die Kassetten Montag bis Freitag in den Schulpausen anhörten, und unterliefen es doch konstant: Denn eine ganze Woche lang konnte das Radio vor- und zurückgespult und, wenn die Glocke das Ende der Pause einläutete, auch angehalten werden. In ihrem Buch „Trost“ schreibt die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier: „Das ist der Besitz. Ich kann das bedienen, ich habe eine Kassette, ich habe einen Rekorder, ich habe einen Computer, ich habe einen MP3-Player, ich habe ein Smartphone, ich habe eine Stimme: im Kopf und in der Tasche.“

Wer zu einer bestimmten Zeit ein Kassettenkind war, ist früher oder später auch ein Walkmankind gewesen. Diese Geräte scheinen spätestens seit 2007, als Steve Jobs seine berühmte Rede zur Einführung des iPhones hielt, vollkommen anachronistisch: Today, we’re introducing three revolutionary products, sagt er, an iPod, a revolutionary mobile phone, and a breakthrough internet communication device. Er läuft auf und ab auf der Bühne, schlicht gekleidet in seinen Rollkragenpulli, und wiederholt das: an iPod, a phone, and an internet communicator, an iPod, a phone … Bis er anhält, ins Publikum grinst, weil die Leute es endlich verstanden haben, und sagt: This is one device, and we are calling it iPhone.

Aber schon der Walkman war eine Innovation, weil Musik damit portabel wurde und der Alltag dadurch auf eine Weise individualisierbar, die es vorher nicht gab. Mussten wir uns bis dahin in der Schulpause noch einigen, welche Kassette alle hörten – Ö3- oder FM4-Charts –, gab es jetzt die Möglichkeit, dass jede und jeder die eigene hören konnte. Walkmans haben Safe Spaces geschaffen, bevor es solche Orte oder auch nur die Worte für sie gab, weil sie eine Abgeschiedenheit und Aufgehobenheit herstellten, sobald man Kopfhörer aufsetzte und Play drückte. Früh schon wurde das beschrieben, durchaus kritisch: „Die praktische Bedeutung des Walkman besteht in der Distanz, die er zwischen der Wirklichkeit und dem Realen, der Stadt und dem Urbanen und insbesondere zwischen den anderen und dem Ich entstehen lässt.“

Was der Sozialwissenschaftler Shuhei Hosokawa in den 1980er-Jahren konstatiert, macht uns heute bestenfalls schmunzeln. Denn mit der Revolution, die Steve Jobs 2007 versprach, trage ich, wie die meisten anderen auch, heute ein Gerät bei mir, das all das in einem ist: Gleichzeitigkeit, Wiederholbarkeit, Abgeschiedenheit; Radio, Kassette, Walkman. Und in dem als App auch meine Methode Platz hat, das Schreiben.

Geprägt bin ich darin auf das gesprochene Wort, von Anfang an war das die Frage, wie ich das Sprechen, das Gesprochenhaben und auch das Gesprochenwerden in Texte bringen kann. Diese Dinge bestimmen Inhalt und Form, und beide stehen nicht außerhalb der Verhältnisse: Wer spricht, und wer kann Gehör finden? Was mich als Kassettenkind geprägt hat, ist die Wiederholbarkeit, die auch Texte haben, im Schreiben genauso wie im Lesen, und was mich als Walkmankind geprägt hat, sind Safe Spaces, die handlich, tragbar und mobil sind – für die Autorin wie für die Leserin. Lange bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe, hat das Radio also Spuren in mir gelegt, die ich mir mit jedem Text weiter erschließe: Bereits eine meiner ersten Veröffentlichungen war ein Text, der als fiktiver Forschungsbericht vorgab, wiederzugeben, was andere über das Hören und den Klang einer Stadt gesagt haben: „Das Rauschen der Welt“. Und die Autorin? Eine Bandmaschine, die nicht nur aufnimmt, sondern verfremdet bis zum Bandsalat, oder, mit Freud geträumt, ein Rekorder nicht nur des Hörsensagens und Singenhörens, sondern auch der Töne dazwischen: Hello from the outside … ● ○