(c) Alexi Pelekanos
(c) Alexi Pelekanos

„Eine Flagge ist noch keine Haltung“

„Eine Flagge ist noch keine Haltung“


Kulturinstitutionen navigieren angesichts aktueller Kriege zwischen Solidaritätsbekundungen, Distanzierungen und Absagen. Wie sollen sie sich der Öffentlichkeit gegenüber positionieren? Ein Gespräch mit Stella Rollig, Direktorin des Wiener Belvedere, Marie Rötzer, Intendantin des Landestheaters Niederösterreich, sowie Autor, Kurator und Filmemacher Fabian Burstein.

Herr Burstein, in Ihrer Streitschrift „Eroberung des Elfenbeinturms“ kritisieren Sie die Abgehobenheit des Kulturbetriebs. Scheitern viele Institutionen deshalb gerade im Umgang mit dem Nahostkonflikt?

Fabian Burstein

:

Mein Buch ist entstanden, als der Ukraine-Krieg begann. Ich fand schon damals, dass sich der österreichische Aktionismus sehr stark auf das Bestrahlen von Fassaden beschränkt hat. Da beobachtete ich in Deutschland eine intensivere Diskussion auf den eigentlichen künstlerischen Flächen. Die Überforderung mit der Sache an sich finde ich nicht problematisch, es ist ja ein großes Asset von Kunst, dass sie nicht sofort in die populistische Reaktion geht.

Marie Rötzer

:

Wir sind als Kulturinstitutionen sehr schnell dabei, aus unserer Komfortzone heraus eine Flagge zu hissen oder ein Posting online zu stellen. Dabei können wir nicht immer sofort wissen, was die richtige Seite ist. Wir haben die Wahrheit nicht gepachtet. Umso wichtiger finde ich, dass wir uns diese Fragen inhaltlich stellen, um die Auseinandersetzung anzukurbeln. So haben wir im Landestheater etwa sehr spontan eine szenische Lesung mit Texten ukrainischer Autorinnen und Autoren zum Ausbruch des Krieges in ihrem Heimatland und Publikumsgespräche dazu angesetzt.

Stella Rollig

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Beim Überfall auf die Ukraine hissten wir im Belvedere auch eine Flagge. Das kann man als symbolische Geste bezeichnen, aber aus heutiger Sicht finde ich diese sehr richtig. Ansonsten gab es hinter den Kulissen viel Unterstützung, die Museen schickten Materialien in die Ukraine und halfen, Kulturgüter zu schützen. Es gab freien Eintritt für Geflüchtete und erweiterte Sprachangebote. Im Ukraine-Russland-Krieg stellte sich die Frage, wer Täter, wer Opfer ist, klar dar. Beim Nahostkonflikt ist unklar, wer in der Position des Schwächeren ist.

Aber wo zieht man eine Grenze? Gibt man offen antisemitischen Kulturschaffenden ein Forum? Und wie schlägt man Brücken?

Rollig

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Wir stehen klar dazu, Antisemitismus im Belvedere keinen Raum und keine Öffentlichkeit zu geben. Das Misstrauen und die starken Emotionen über die Reaktionen und Ansichten der jeweils anderen schaffen derzeit allerdings Gräben, die schwer zu schließen sein werden. Wir zeigen eine große Ausstellung zur ukrainischen Moderne, zwei Jahre nach Beginn des Krieges. Alle Beteiligten aus der Ukraine sind strikt dagegen, dass irgendwo die russische Sprache verwendet wird. Aber wir wissen, für viele Ukrainerinnen und Ukrainer war und ist Russisch ihre Sprache. Können oder sollen wir diese Tatsache berücksichtigen? Vermutlich werden wir nicht allen alles recht machen können.

Burstein

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Eine Flagge, die man an eine Institution hängt, ist noch keine Haltung – genauso wenig wie ein Social-Media-Profilbild, auf das wir „Je suis Charlie“ schreiben. Vielleicht war es ein Fehler, dass wir solche Aktionen lange als Positionen durchgehen ließen. Wir beobachten, dass es ziemlich ruppig wird, wenn es in die Tiefe geht. Die Leute sind entwöhnt, eine unaufgeregte, substanzielle Debatte zu führen, weil Symbolhandlungen lange gereicht haben. Im Leopold Museum hat man Gemälde in eine 1,5-Grad-Schräglage gebracht, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Da sind wir schon in einer sehr wohlstandsverwahrlosten Form von politischer Positionierung. Da braucht es wesentlich mehr Tiefgang in der Auseinandersetzung.

Rötzer

:

Wir müssen selbstkritisch sein, um nicht blind Trends zu folgen. Der Nahostkonflikt ist ein gutes Beispiel. Institutionen wandten sich schnell Palästina zu und traten zwei Tage später gegen Antisemitismus auf. Wenn wir gerade Ilse Aichingers Debütroman „Die größere Hoffnung“ auf dem Spielplan haben, in dem sie mit den Augen eines jüdischen Kindes vom Nationalsozialismus erzählt, dann nicht, weil Antisemitismus gerade ein Thema ist, sondern weil Erinnerungskultur schon seit Langem bei uns behandelt wird. Weil vieles in Österreich in Sachen Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde.

Rollig

:

Unsere Kulturinstitutionen haben ihr größtes Potenzial darin, in ihren Programmen zu wirken. Dass Menschen bei uns zusammenkommen, um zu diskutieren, das hätte ich mir früher gewünscht. Nach 20 Jahren Museumsleitung halte ich diesen Ansatz aber für weitgehend gescheitert.

Rötzer

:

Darf ich widersprechen? Es sind so viele Gemeinschaftsräume abhandengekommen. Dabei gibt es ein unglaubliches Bedürfnis nach Streit, danach, Fragen zu stellen. Eine Sehnsucht nach Diskussion ist da.

Rollig

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Natürlich findet das im Belvedere 21 statt, aber ich denke, dass wir mit dem 7. Oktober einen großen Bruch erlebt haben, der lange nicht zu kitten sein wird. Ich fühle mich manchmal wie eine Zeichentrickfigur, die gar nicht merkt, dass sie keinen Boden mehr unter den Füßen hat, aber trotzdem weiterläuft.

Ich sehe das Theater nicht als moralische Anstalt.

Wie begegnet man dem Problem, dass es gesellschaftlich kaum mehr einen gemeinsamen Nenner gibt?

Burstein

:

Nicht jeder Ort kann alles leisten. Es ist eine kulturpolitische Aufgabe, zu entscheiden, welcher Raum wofür zuständig ist.

Rollig

:

Unsere Dauerausstellung ist ein wichtiges Mittel, um offenzulegen, wie wir das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft sehen. Ein Waldmüller zeigt in seiner Malerei auch Ungleichheiten in der Gesellschaft und nicht nur das schöne Licht, das in den Blättern flirrt. Früher wurden kaum Künstlerinnen gezeigt, mittlerweile viele wiederentdeckt. Es geht um diesen inhaltlichen Dialog mit der Kunstgeschichte, der Gegenwart und dem Publikum.

Rötzer

:

Vielleicht ist die Sehnsucht, sich an Ideologien festhalten zu wollen, ein Problem. Wir leben in einer Zeit der extremen Gruppenbildungen, wo man früher gedacht hat, man gehört zusammen. Diese Schnitte gehen oft durch Familien oder Freundeskreise. Die Covid-Pandemie hat das verstärkt. Trotzdem muss man in dem Moment, wo jüdische Friedhöfe beschmiert werden, eine Haltung entwickeln. Da möchte ich die Möglichkeit haben, auf eine Homepage ein Statement zu stellen, das sich gegen Antisemitismus wendet.

Kunst richtete sich früher an eine gebildete bürgerliche Schicht. Mittlerweile gibt es den Auftrag, sich zu öffnen, migrantisch, jung, queer zu werden. Wie schwierig ist das?

Burstein

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Man muss leider kon­statieren, dass Kunst noch immer ein eher bürgerliches Phänomen ist. Die Diversifikation des Publikums ist ein Ziel, aber noch lange keine Realität. Dazu muss man festhalten: Nur, weil wir die jüngere Generation anziehen wollen, heißt das nicht, dass wir die ältere ausschließen. Wir müssen Räume schaffen, in denen wir für neue Zielgruppen experimentieren können, aber auch in Kauf nehmen, dass vielleicht nur zehn Leute im Publikum sitzen. Zugleich braucht es weiterhin Theaterhäuser, die auch ein traditionsbewusstes Publikum bedienen. Veränderung bedeutet nicht automatisch Verdrängung.

Rollig

:

Da hat sich viel verändert in den letzten Jahren. Ich merke bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass wir viel diverser geworden sind. Wenn wir ein diverseres Publikum anziehen wollen, müssen wir uns auch innerhalb verändern, damit wir glaubwürdig bleiben. Positiv beobachte ich auch, dass migrantische Einrichtungen wie Kültüř gemma! mit uns gemeinsam etwas entwickeln wollen. Sicher ist es oft schwierig, eine selbstbestimmte Partnerschaft für alle zu ermöglichen. Aber es bewegt sich. Auch wir vier an diesem Tisch sind eine rein weiße Diskussionsgruppe. In zehn Jahren wäre das sicher anders.

Rötzer

:

Immerhin sind wir hier schon drei Frauen und ein Mann. Institutionen sind längst nicht so divers, dass sie ein Spiegel der Gesellschaft sein können. Ich frage mich aber auch, wie weit wir Bubbles platzen lassen können. Wie schafft man es, ein Thema zu kreieren, das heterogene Gruppen interessiert? Auch da geht es nicht um das schnelle Fangen von Communitys, indem wir die Klimafahne raushängen.

Burstein

:

Die aktuellen Kämpfe sind wichtig, um unsere Profile zu schärfen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir da ein bisschen zu larmoyant sind. Wir haben als Veranstalter das Risiko, dass uns an den Orten, die wir verantworten, ordentlich eingeschenkt wird. Aber ich denke, wir halten das schon aus. Die Gesellschaft kann von Kulturverantwortlichen lernen, wie man offen mit Konflikten umgeht. Es ist auch wichtig, dass sich die Systeme, die wir verantworten, immer wieder gegen uns richten. Nur so können wir uns selbst hinterfragen.

Rollig

:

Ich fürchte keine Shitstorms. Ich beobachte aber mit Sorge, wie Kolleginnen und Kollegen wie etwa die Ausstellungskuratorin Nancy Spector in den USA ihre Jobs verlieren wegen einer einzigen „Verfehlung“, die ihnen tatsächlich unterlaufen ist oder die ihnen unterstellt wurde.

Einerseits fordern Sie Haltung ein, andererseits soll es keine Konsequenzen geben?

Rollig

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Es wird nicht mehr auf einen größeren Zusammenhang geschaut: Wie viel hat eine Kuratorin in ihrer ganzen Laufbahn geleistet? Wofür ist sie eingetreten? Ein Fehler löscht alles aus. Das ist so brutal geworden.

Burstein

:

Natürlich muss man jeden einzelnen Fall differenziert betrachten. Es geht aber schon um eine gesunde Tendenz, dass bestimmte Dinge nicht mehr durchgehen. Es würde uns in Österreich guttun, wenn wir wesentlich klarer festlegen, was nicht mehr tragbar ist. Ämterkorruption ist zum Beispiel kein Phänomen, das vor Kunst und Kultur Halt macht. Dasselbe gilt für autoritäre Strukturen. Sie fordern völlig zurecht, dass eine Person nicht sofort öffentlich geschlachtet wird, wenn eine Verfehlung im Raum steht. Aber es braucht Konsequenzen, wenn man bestimmte Grenzen überschreitet.

Rötzer

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Vieles ist zugespitzt, weil wir an einem bestimmten Punkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind. Ich denke aber, wir müssen vor allem dort handeln, wo wir können. Ich habe zum Beispiel beschlossen, dass auf meiner Bühne auf Proben nicht geschrien wird. Weil ich das so kenne von den cholerischen – tatsächlich meist männlichen – Regisseuren. Oft haben es die Schauspielerinnen abbekommen. Das hat die Kunst aber nicht besser gemacht.. ● ○

Die aktuellen Kämpfe sind wichtig, um unsere Profile zu schärfen.