Widersprüche machen den Kopf frei. Durch sie lernt man, nicht immer in denselben, festgefahrenen Kategorien denken zu müssen. Die Wiener Regisseurin Sara Ostertag hatte in ihrer Oma eine wichtige Mentorin in Sachen Neugierde: Im Sommer ging es gemeinsam zu den Seefestspielen Mörbisch, die in gigantischen Bühnenbildern dem als seicht verschrienen Genre der Operette huldigen. Gleichzeitig war Ostertags Großmutter ein großer Fan des 2010 verstorbenen deutschen Film- und Theaterregisseurs Christoph Schlingensief, der mit seiner radikalen Entgrenzung von Kunst, Politik und Leben als Provokateur galt. Im Teenageralter stand Ostertag neben der Staatsoper, als Schlingensief einen Big-Brother-Container mit Asylwerbern aufgestellt hatte und die hetzerischen Parolen der Rechtspopulisten künstlerisch annektierte. Er schrie: „Ausländer raus!“ Das war auch der Titel dieser Kunstaktion, die im Jahr 2000 im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand. Und dann war da noch der Musicalstar Dagmar Koller, den sowohl Oma als auch Enkelkind anhimmelten. Die Texte aus „My Fair Lady“ konnte Sara Ostertag als Kind auswendig, selbst, wenn sie im Halbschlaf auf die Toilette tapste. Fragte man sie in der Volksschule, was sie später einmal werden wolle, sagte sie aus vollem Herzen: Dagmar Koller. Zumindest ist das eine Legende, die ihre Großmutter gern retrospektiv über sie erzählte.
Warum dieser Exkurs in die Kindheit? Experimentierfreudigkeit wird einem zwar nicht in die Wiege gelegt, aber man kann lernen, offen zu sein. Nur weil man gern in die Oper geht, muss man nicht Musicals abwerten. Es macht Spaß, Widersprüche auszuhalten. Sara Ostertag, 1985 in Wien geboren, ist eine der herausragendsten heimischen Theaterregisseurinnen und lässt sich auf kein Genre und keinen Stil festlegen. Sie hat mit Kindertheater begonnen, arbeitet in der freien Szene, zugleich aber auch an großen Tankern – etwa dem Landestheater Niederösterreich in St. Pölten, wo im Mai ihre Inszenierung von Elfriede Jelineks „Angabe der Person“ zur Uraufführung kommt. Außerdem ist sie als Dramaturgin für Florentina Holzingers waghalsige Tanztheaterabende im Einsatz.