Kolumne

Ins Wasser gefallen


Sich auszuprobieren gehört zum Leben genauso wie das Scheitern. Wie könnte man/frau es sonst wissen, ob man es kann, ob das, wonach einem gerade ist, sich lohnt, ob man vielleicht Freude daran haben wird.

Hätte ich das Radfahren nie probiert, nie ein paar Stürze riskiert, wie hätte ich dann wissen können, was für eine Freude es ist, sich auf den Drahtesel zu schwingen und loszuradeln, irgendwohin?

Der Anfang war nicht einfach. Ich war klein und das Rad meiner Tante groß. Ich wollte es aber unbedingt erlernen und war hartnäckig genug, um es immer wieder zu probieren. Wenn ich mit beiden Füßen auf den Pedalen stand, erreichte ich den Sattel nicht. Deshalb musste ich im Stehen fahren, was wiederum weniger Stabilität bedeutete. Ich wackelte die ganze Zeit und erschrak bei jedem Auto, das mich gerade überholte. Die Tante, bei der ich die Ferien verbrachte, durfte natürlich nichts davon wissen, denn sie hätte mir die Trainingseinheiten auf der Hauptstraße sicher nicht erlaubt.

Die ersten Tage stürzte ich sehr oft und zerschlug mir dabei das rechte Knie. Bis heute sieht man die Narbe, auch wenn sie verblasst ist. Aber es hat sich gelohnt. Ich kann es. Ich kann Rad fahren, Balance halten, Spaß haben.

Meine bescheidene Leistung ist aber nichts, verglichen mit der eines jungen Mannes, den ich bei einer Surfregatta kennengelernt habe. Eine Boots- und Surfschule an der Alten Donau in Wien veranstaltete zum Abschluss der Saison ein Rennen. Die Teilnehmer waren Absolventen diverser Kurse, eine durch und durch gemischte Gruppe mit unterschiedlichen Leistungsprofilen. Registriert haben sich Männer und Frauen, die den Sport seit ein paar Jahren betrieben, aber auch blutige Anfänger. Da es in erster Linie um Spaß ging, spielten das Geschlecht oder die Erfahrung mit dem Surfbrett keine große Rolle.

Im Publikum saßen Angehörige, Freunde und Interessierte, die sich zumindest durchs Zuschauen diesem herrlichen Sport annähern wollten. Die Athleten, manche in Neoprenanzügen, befestigten ihre Startnummern am Oberkörper, spazierten aufgeregt hin und her und trugen ihre Sportgeräte ins Wasser. Danach begaben sie sich hinter die Bojen, die die Startlinie darstellten. Ein Schuss aus der Startpistole und zwanzig Surfbretter mit wunderschönen Segeln setzten sich in Bewegung.

„Papa, Papa …“, schreit ein kleiner Bub neben mir, „gemma, gemma!“ Der entzückende Knirps zieht alle Blicke auf sich. „Mein Papa ist der Beste“, verkündet er stolz. „Er wird gewinnen.“

„Welcher ist dein Papa?“

„Der mit dem weiß-blau-gelben Segel. Der mit der Nummer fünf.“

In dem Moment fällt der Mann vom Brett, rappelt sich aber auf, schwingt sich in die Höhe und zieht sein Segel an sich. Das ist nichts Besonderes, denn die anderen fallen auch. Wie gesagt, es sind lauter Amateure.

Am Ufer herrscht eine entspannte Atmosphäre. Fröhliche Musik unterstreicht die lockere Stimmung unter den Gästen. Gekühlte Getränke und köstliche Snacks werden serviert, für die Kinder gibt es Eis.

Die Stimme aus dem Lautsprecher informiert über den Stand des Wettbewerbs. Einmal ist das Surfbrett mit der Nummer acht ganz vorne, gleich danach die Nummer elf. Die Reihenfolge verändert sich ständig, weil die Surfer ununterbrochen ins Wasser fallen. Wie gesagt, es fehlt ihnen an nötiger Erfahrung, was aber der guten Laune keinen Abbruch tut. Damit ihnen nichts passiert, fährt parallel zu ihnen ein Boot mit zwei Rettungsschwimmern. Sollte sich jemand in kritischer Lage befinden, wird er sofort aus dem Wasser gezogen.

Langsam verändert sich das Wetter. Dicke Wolken schieben sich vor die Sonne, der Wind wird zunehmend stärker und hindert die Athleten am Fortkommen. Es wird immer schwerer, die schwarze Boje am oberen Ende der Alten Donau, die als Umkehrpunkt dient, zu erreichen. Der Wind peitscht auf die Segel, die Surfer fallen noch öfter ins Wasser als zuvor. Der erste gibt auf, bald der zweite, dritte. Der Kampf der Übrig­gebliebenen wird immer härter. Vor allem der Mann mit dem weiß-blau-gelben Segel tut sich sehr schwer.

„Er steht erst zum dritten Mal auf dem Brett“, sagt die Mutter des kleinen Buben. „Aber er will das unbedingt schaffen.“

„Er schafft das! Mein Papa ist der Beste!“

Der Kampf geht weiter. Im Wasser sind nur mehr drei Bretter, die gerade bei der schwarzen Boje umdrehen. Es regnet in Strömen. Die Athleten sind mehr im Wasser als auf dem Brett. Das Publikum raunt, manche Angehörige machen sich Sorgen. Irgendwann schießt eine Leuchtrakete in die Luft, eine krächzende Stimme aus dem Lautsprecher verkündet den Abbruch der Regatta wegen der schlechten Wetterbedingungen. „Wir bitten alle Teilnehmer, das Wasser zu verlassen und sich in die Umkleidekabinen zu begeben!“

Zwei Athleten steuern das Ufer an, nur einer kämpft weiter. Es ist der Mann mit dem weiß-blau-gelben Segel. Er igno­riert die Durchsage, kämpft ab jetzt nur seinen eigenen Kampf. Aufstehen, zwei Wellen reiten, fallen. Aufstehen, fallen.

Es regnet immer mehr. Das Publikum bleibt unter den Regenschirmen stehen. Alle feuern den einsamen Surfer an. Er steht, lenkt … fällt ins Wasser. Er steigt auf, richtet sich, fährt (reitet?) ein Stück, fällt, steigt auf … Der Wind peitscht gegen das Segel, gegen den Mann, der sich Meter für Meter sein Territorium erobert und das Ziel ansteuert.

„Mama, werde ich, wenn ich groß bin, auch so ein guter Surfer wie der Papa sein?“, fragt der Kleine.

„Hoffentlich nicht“, stöhnt die Mama.

„Warum nicht?“

Die letzten Meter. Der einsame Mann kämpft gegen den Wind, gegen die Wellen und gegen sich selbst, aber er kommt vorwärts. Das Publikum fiebert mit, feuert ihn stürmisch an. Und es scheint zu helfen. Noch eine Welle, noch ein Windstoß … und der Mann berührt die Zielboje.

Applaus! Applaus!

Die Rettungsschwimmer packen den Mann unter den Achseln und helfen ihm, ans Ufer zu kommen. Er lacht, er strahlt und ist gleichzeitig so erschöpft, dass sich er kaum auf den Beinen halten kann. Seine Frau läuft ihm entgegen, umarmt ihn, drückt ihn an sich. „Du hast mir einen großen Schrecken eingejagt“, sagt sie.

„Wieso? Ich habe nur das getan, wofür ich gekommen bin.“

„Mein Papa hat gewonnen!“, schreit der Knirps und hüpft fröhlich in der Pfütze herum, die unter ihm entstanden ist. Der Mann kommt auf uns zu, das Publikum jubelt, macht eine Welle. Obwohl die Regatta abgesagt worden ist, überreicht ihm der Veranstalter den Pokal. Den hat er wirklich verdient. ● ○