© Minitta Kandlbauer
© Minitta Kandlbauer

Kultur • Essay

Wie die Fliegen


„Ich frage mich, wo er eigentlich beginnt, der zeit­genössische Tanz“: Unsere Autorin reflektiert über die Überschreitung von Trennlinien zwischen Kunst und Alltag, Choreografien als Mischung aus Intuition und Handwerk sowie ihre blutrauschige Katze.

Heute Morgen glaubte ich an ein Wunder. Ich setzte mich an die Arbeit, und die Katze sprang, in einer ihr längst in Fleisch und Blut übergegangenen Alltagschoreografie, in die auf meinem Schreibtisch bereitgestellte Kiste. Und gerade, als ich anfangen wollte zu tippen und mit einer Abfolge rechnete, die immer die gleiche ist – Katze springt in Kiste, putzt sich, schaut mich kritisch an und schläft ein –, merkte ich, wie sich ihr kritischer Blick in einen aufgeregten, ja, blutrauschigen Blick verwandelte. Ich kenne diese mörderische Stimmung meines Haustieres. In diesem Zustand registriert es die kleinsten Bewegungen im Raum, etwa eines Insekts. Ich folgte der Linie, die ihre Jagdpupillen durch die Luft schnitten. Sie starrten auf das Gemälde hinter mir, ein 150 mal 180 Zentimeter großes Bild, auf dem, mit dynamischen Pinselstrichen gemalt, ein Reiter auf einem Pferd zu sehen ist, das durch einen Schmetterlingshain galoppiert. Meine Augen wanderten die Oberfläche des Bildes ab, doch da war kein Insekt. „Was siehst du?“, fragte ich die Katze. „Da ist nichts.“ Ich kam zu dem Schluss, ein Wunder sei geschehen, und meine Katze nehme jetzt plötzlich Kunst wahr.

Es ist schön, so früh am Morgen ein Wunder erlebt zu haben, denke ich, wische mir den Schweiß von der Stirn, und beginne zu schreiben. Der Schweiß auf der Stirn irritiert Sie jetzt, denn Sie lesen diesen Text im November. Ich aber befinde mich noch in der Zeit der tropischen Nächte und ungewöhnlich warmen Morgenstunden. In einer Zeit vor der Nationalratswahl, in der man noch auf ein Wunder hofft. Ich schaue aus dem Fenster in die Ferne, wo sich etwas zusammenbraut, wo sich ein Gewitter auf seinen Auftritt vorbereitet.

Ich drücke mich nicht davor, zum Thema zu kommen, es ist nur so: Ich frage mich oft, wo er eigentlich beginnt, der zeitgenössische Tanz. Wenn Sie, so wie ich, gerne mal tanzen, auf einer Party, im Club, in Ihrem Wohnzimmer, denken Sie dann auch über sich als zeitgenössische Tänzerin nach? Jetzt schaut die Katze doch kritisch. Keine zeitgenössische Tänzerin im professionellen Sinn, sag ich zu ihr, aber eben eine Zeitgenossin, die tanzt.

„Ich tanze nur, wenn es etwas bedeutet“, sagte die professionelle Tänzerin, mit der ich unlängst in einem Berliner Club zufällig ins Gespräch gekommen war. Das war der traurigste und dümmste Satz, den ich in meinem ganzen Leben gehört hatte, und ich gab ihr einen Drink aus. Für die professionelle Tänzerin muss also jede Bewegung auf der Tanzfläche an eine Aussage gekoppelt sein. Das Tanzen, das viele Menschen auf der Suche nach Gemeinsam- oder Einsamkeit, nach Subjektzentrierung oder Selbstvergessenheit pflegen, steht außerhalb ihrer Reichweite. Sie schafft es aufgrund ihres Selbstverständnisses als Künstlerin nicht, tanzend die Trennlinie von Kunst zu Leben zu überschreiten.

Jemand wie ich kann nur rätseln, wie diese Zugriffe auf den mensch­lichen Körper funktionieren.

Es gibt viele Argumente, diese Trennlinie als reine kulturelle Erfindung zu bezeichnen. Und trotzdem oder deswegen hat sie viele Eigenschaften. Ich denke bei der Frage, wo der zeitgenössische Tanz beginnt, an zwei davon: Absicht und Professionalität. Auf der einen Seite steht mein absichtsloses Tanzen im Club, auf der anderen die absichtsvolle Übersetzung eines Themas auf der Bühne. Zum Thema ungewöhnliche Hitze fällt mir die Tanzvorstellung des Choreografen Jan Martens ein, die ich letztes Jahr im Festspielhaus St. Pölten gesehen habe. Er beschäftigte sich da­rin mit der ernsten Lage, in der sich die Menschheit in Bezug auf die Klimakrise befindet. Ich weiß noch, am Ende des Stückes standen die Tänzer:innen, unterstützt von einer infernalischen Beleuchtung, wie geschmolzene Kerzen da. Das war schon sehr eindrucksvoll, aber eindrucksvoll war auch der Schweiß im Gesicht der professionellen Tänzerin im Berliner Club und die Art, wie sie mit ihren Handballen in einer bestimmten rhythmischen Abfolge die nassgeschwitzten Haare aus der Stirn strich. Ob wir wollen oder nicht, wir arbeiten alle ununterbrochen und überall in die Datenbank der gegenwärtigen Gesten, Bewegungen und Handlungen ein. Und ist es nicht diese Datenbank, aus der die Choreograf:innen und Tänzer:innen dieser Welt ihre Werke schaffen?

Ein heißer Wind strömt ins Zimmer, und ich strecke meine Zehen. Die Katze hüpft indessen aus der Kiste, streicht um das Bild, stellt sich auf die Hinterbeine, das Bild hängt tief, ihre rechte Pfote berührt die Leinwand. Gscht! Das darf sie nicht! Sie weiß das, aber sie kann nicht aus ihrer Haut, etwas raubt ihr jede Möglichkeit der Entspannung – so geht es einem manchmal mit guter Kunst. Sie lässt sich nach meinem sie zurechtweisenden Zischen wütend auf den Boden fallen, die Pfoten schweben in der Luft, aktionszentriert, doch in der Mitte: nichts. Nichts, das sie fassen könnte. Es blitzt, es donnert, es maunzt, es summt. Ja, es summt, und da fällt bei mir (endlich! würde die Katze sagen) der Groschen: Da ist ja doch etwas. Eine Fliege nämlich, gefangen hinter dem Bild. In dem Hohlraum zwischen Mauer und Leinwand verübt die Fliege ihre Bewegungen, ich weiß nicht, ob verängstigt, irritiert, freudig, aber jedenfalls: ohne Publikum.

Zeitgenössische Choreografien entstehen in der Regel ebenfalls ohne Publikum, aber das heißt nicht, dass wir nicht daran beteiligt sind. Tanz, wenn wir ihn im definierten Setting erleben – hier wir in den Sitzreihen, dort die Profis auf der Bühne –, hat sich bereits lange vor der Vorstellung aus dem Formenfundus der historischen und modernen Kunst, aber auch aus unseren gegenwärtigen Gesten und Handlungen bedient. Am Ende steht ein Werk, das meist im Feld der Perfektion angesiedelt ist, auch wenn diese Perfektion von aufgeklärten Choreograf:innen gerne als ein nicht vordergründiger oder gar hinderlicher Aspekt bezeichnet wird. Eine Choreografie entsteht aus einer komplexen Mischung aus Intuition und Handwerk. Jemand wie ich, die so wenig von diesen Prozessen versteht, kann nur rätseln, wie diese Zugriffe auf den menschlichen Körper funktionieren. Und wenn ich mich diesem Rätsel annähere, mir Gedanken mache, über die Arbeit von Choreograf:innen und Tänzer:innen, deren Muskelkönnerschaft von meiner Muskelkönnerschaft so weit entfernt ist wie der Blitz dort am Horizont von meinem großen Zeh unter diesem Schreibtisch, dann möchte ich doch gerne wissen, wie und wo sie die Trennlinien von Leben zu Kunst überschreiten, ob sie sie überhaupt wahrnehmen, wie sie zu ihrem Bewegungsmaterial kommen, einem Material, so unendlich wie unsere gesprochene Sprache, oder noch unendlicher. Ein Material, das historisch und mythisch gewachsen ist, seitdem Eva mit ausgestrecktem Arm – die Achselhaare wehen im damals noch kühlen Wind – ins Relevé gegangen ist und den Apfel vom Baum gepflückt hat.

Was bei der Entstehung eines Kunstwerks, bei der Entwicklung einer Choreografie, passiert, bleibt meist hinter dem Bild, das wir von dieser Arbeit haben, zurück. Und wenn die Arbeit schließlich nach langem Präzisieren und Proben vor Publikum präsentiert wird, bringt sie etwas in Bewegung (für manche von uns, zu manchen Zeiten, an manchen Orten). Manchmal trägt man diese Bewegung für immer in sich, manchmal ist sie nach kurzer Zeit wieder vergessen und liegt zusammen mit anderen durch Kunst evozierten Emotionen, Gedanken und Handlungsinspirationen auf einem Wahrnehmungsfriedhof, irgendwo in uns.

Apropos Sterben. Jetzt mache ich mir langsam Sorgen um die Fliege. Die Hitze. Ich hebe das Bild ein wenig an. Es dauert nicht lange und sie findet ihren Weg hinaus. Sie taumelt benommen und in scheinbar absichtslosen Flugbahnen durchs Zimmer. Die Barthaare der Katze beben jetzt vor Aufregung, in ihren Augen flattern Tausende bunte Schmetterlinge, sie duckt sich, schlägt zum Sprung ansetzend mit dem Schwanz auf den Boden, öffnet das Maul und sagt: „Wunder gibt es keine, Margit. Wer zu den Künstlern schaut, damit sie die Welt ändern, schaut ziemlich sicher in die falsche Richtung.“

Da hat sie recht. Für die Rettung der Welt braucht es absichtsvolles und professionelles Tun im echten Leben. Und vermutlich werden die Wähler:innen dieses Landes zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Text gedruckt sein wird, genug getan haben, um dieses Wunder zu verhindern. ● ○

Dank an den Autor Samuel Hamen, von dem ich den Titel seines Romans geborgt habe. „Wie die Fliegen“ ist 2023 im Diaphanes Verlag erschienen.