Heute Morgen glaubte ich an ein Wunder. Ich setzte mich an die Arbeit, und die Katze sprang, in einer ihr längst in Fleisch und Blut übergegangenen Alltagschoreografie, in die auf meinem Schreibtisch bereitgestellte Kiste. Und gerade, als ich anfangen wollte zu tippen und mit einer Abfolge rechnete, die immer die gleiche ist – Katze springt in Kiste, putzt sich, schaut mich kritisch an und schläft ein –, merkte ich, wie sich ihr kritischer Blick in einen aufgeregten, ja, blutrauschigen Blick verwandelte. Ich kenne diese mörderische Stimmung meines Haustieres. In diesem Zustand registriert es die kleinsten Bewegungen im Raum, etwa eines Insekts. Ich folgte der Linie, die ihre Jagdpupillen durch die Luft schnitten. Sie starrten auf das Gemälde hinter mir, ein 150 mal 180 Zentimeter großes Bild, auf dem, mit dynamischen Pinselstrichen gemalt, ein Reiter auf einem Pferd zu sehen ist, das durch einen Schmetterlingshain galoppiert. Meine Augen wanderten die Oberfläche des Bildes ab, doch da war kein Insekt. „Was siehst du?“, fragte ich die Katze. „Da ist nichts.“ Ich kam zu dem Schluss, ein Wunder sei geschehen, und meine Katze nehme jetzt plötzlich Kunst wahr.
Es ist schön, so früh am Morgen ein Wunder erlebt zu haben, denke ich, wische mir den Schweiß von der Stirn, und beginne zu schreiben. Der Schweiß auf der Stirn irritiert Sie jetzt, denn Sie lesen diesen Text im November. Ich aber befinde mich noch in der Zeit der tropischen Nächte und ungewöhnlich warmen Morgenstunden. In einer Zeit vor der Nationalratswahl, in der man noch auf ein Wunder hofft. Ich schaue aus dem Fenster in die Ferne, wo sich etwas zusammenbraut, wo sich ein Gewitter auf seinen Auftritt vorbereitet.
Ich drücke mich nicht davor, zum Thema zu kommen, es ist nur so: Ich frage mich oft, wo er eigentlich beginnt, der zeitgenössische Tanz. Wenn Sie, so wie ich, gerne mal tanzen, auf einer Party, im Club, in Ihrem Wohnzimmer, denken Sie dann auch über sich als zeitgenössische Tänzerin nach? Jetzt schaut die Katze doch kritisch. Keine zeitgenössische Tänzerin im professionellen Sinn, sag ich zu ihr, aber eben eine Zeitgenossin, die tanzt.
„Ich tanze nur, wenn es etwas bedeutet“, sagte die professionelle Tänzerin, mit der ich unlängst in einem Berliner Club zufällig ins Gespräch gekommen war. Das war der traurigste und dümmste Satz, den ich in meinem ganzen Leben gehört hatte, und ich gab ihr einen Drink aus. Für die professionelle Tänzerin muss also jede Bewegung auf der Tanzfläche an eine Aussage gekoppelt sein. Das Tanzen, das viele Menschen auf der Suche nach Gemeinsam- oder Einsamkeit, nach Subjektzentrierung oder Selbstvergessenheit pflegen, steht außerhalb ihrer Reichweite. Sie schafft es aufgrund ihres Selbstverständnisses als Künstlerin nicht, tanzend die Trennlinie von Kunst zu Leben zu überschreiten.