© Filip Van Roe
© Filip Van Roe

Sidi Larbi Cherkaoui

Der Poet des Tanzes


Sidi Larbi Cherkaoui inszeniert Tanzstücke und Opern – sowie Musikvideos für Beyoncé. morgen sprach mit dem belgisch-marokkanischen Star-Choreografen über das Potenzial des Versagens, seine kindlichen Fernseh­vorlieben, seine Wege durch die Dunkelheit und sein neues Stück „Ihsane“, das von seinem Vater handelt.

Wenn Sidi Larbi Cherkaouis Eltern glücklich waren, schalteten sie das Radio ein und tanzten. Oft klopfte das Glück nicht an die Tür der marokkanisch-flämischen Familie in Antwerpen. Aber wenn, dann wünschte sich Cherkaoui, für immer in diesem Zustand zu verharren: „Als Kind war Tanz für mich ein Ausdruck von Freude und Verbundenheit.“

Heute gehört der 48-Jährige zu den weltweit bekanntesten Choreografen. Cherkaoui inszeniert Tanzstücke und Opern, hat seine eigene Company, Eastman, choreografiert für Beyoncé und Madonna. Er leitete das Ballet Vlaanderen und ist seit zwei Jahren Ballettchef am Grand Théâtre in Genf. Es ist unmöglich, Cherkaoui auf eine Form festzulegen: Zu unterschiedlich sind seine Stücke. Der Künstler ohne Berührungsängste arbeitete mit Shaolin-Mönchen aus China, renommierten Ballettensembles und Tangopaaren aus Argentinien. Er stand mit der britisch-bengalischen Tanzikone Akram Khan auf der Bühne und mit Tänzerinnen und Tänzern aus den Sparten Hip-Hop, Akrobatik und Lindy-Hop.

Sprachenwahnsinn

morgen trifft ihn an einem Sonntagvormittag zum Online-Gespräch. Cherkaoui sitzt im karierten Flanellhemd in seiner Wohnung in Antwerpen. Im Hintergrund steht eine mit Blumen verzierte, mexikanische Totenkopfmaske. An der Wand lehnt eine Aufnahme aus seinem Stück „Vlaemsch (chez moi)“. Der Künstler erweist sich als freundlicher und aufmerksamer Gesprächspartner. Er spricht schnell, viel – er hoffe, betont er, dass er genug Brauchbares erzähle. Dieses Wochenende habe er seine Mutter besucht, am nächsten Tag gehe es zurück nach Genf. Seit er dort als Ballettdirektor arbeitet, pendelt er zwischen der Schweiz und Belgien, wo seine Company Eastman (die englische Übersetzung seines Nachnamens) ihren Sitz hat. Sein neues Projekt „Ihsane“ ist eine Kooperation des Genfer Balletts mit Eastman.

Im November feiert das Stück seine Uraufführung, im Jänner gastiert es im Festspielhaus St. Pölten, mit dem Cherkaoui eine lange Beziehung verbindet: 2010/11 war er dort Artist in Residence, ebenso standen schon zahlreiche seiner Projekte auf dem Spielplan. Neben Stücken wie dem Tangoabend „m¡longa“, dem Sprachenwahnsinn „Babel(words)“ – gemeinsam mit Damien Jalet – und dem Shaolin-Projekt „Sutra“ war im Jahr 2022 „Vlaemsch (chez moi)“ zu sehen, eine Ode an Cherkaouis Mutter. Die neue Arbeit „Ihsane“ setzt die Erzählung fort, indem sie den Blick auf den Vater lenkt.

1972 in der Hafenstadt Antwerpen geboren, wuchs Cherkaoui im flämischen Teil von Belgien auf. Sein muslimischer Vater stammte aus Marokko, seine katholische Mutter aus Flandern. Zuhause sprach die Familie französisch. Beide Elternteile waren Halbwaisen. „Diese Parallele brachte sie schicksalhaft zusammen“, so der Choreograf. Als er 15 war, ließen sie sich scheiden. Seine Mutter wurde Alleinerzieherin, wie schon ihre eigene.

Neues Stück: Proben zu „Ihsane“

© Gregory Batardon / Grand Théâtre de Genève
© Gregory Batardon / Grand Théâtre de Genève

Faszinosum Voguing

Zum Tanz kam Cherkaoui vor allem übers Fernsehen. Er liebte den Musicalfilm „Fame – Der Weg zum Ruhm“. Und er sah viele Musikvideos: Kate Bush, Michael Jackson, Madonna. Vor allem faszinierten ihn die Bewegungen des Voguing. Beim exzentrischen Tanzstil aus der queeren afro- und lateinamerikanischen Ballroom-Szene in New York steht das dramatische Posieren im Zentrum. „Erst später verstand ich, warum ich mich als queerer Mann dem Voguing so verbunden fühlte“, erinnert sich der Choreograf.

Mit 15 begann er selbst zu tanzen: Flamenco, Stepptanz, Hip-Hop, Ballett. Nichts davon habe er besonders gut gekonnt, beteuert Cherkaoui. Bis er mit 19 Jahren den zeitgenössischen Tanz entdeckte. In den Stücken von Pina Bausch fand er sich wieder: „Ich hatte so viel Traurigkeit in mir, vor der ich davonlief. Der zeitgenössische Tanz wurde zu einem Ort für meine Melancholie.“ Der Tod war sehr präsent in seinem Leben: Sowohl sein Großvater, seine Tante als auch sein Vater starben, als er sehr jung war. Angesichts von Pina Bauschs Stücken bekam er das Gefühl, „dass Tanz eine Art ist, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen“.

Cherkaoui begann, zeitgenössischen Tanz in Brüssel bei P.A.R.T.S., der Schule der belgischen Choreografin und Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker, zu studieren. Es folgten Engagements für prominente Compagnien wie Alain Platels Truppe Les Ballets C de la B, Les Ballets de Monte-Carlo oder Sasha Waltz & Guests. 2010 gründete der Tänzer seine eigene Compagnie: Eastman. In der Arbeit mit seiner Gruppe fühle er eine andere Freiheit, so der Choreograf. Hier könne er experimentieren und Fehler riskieren. „Im Versagen liegt viel Potenzial“, findet Cherkaoui. „In meiner Karriere waren immer die Dinge, die nicht funktionierten, am nützlichsten. Sie gaben mir das Werkzeug in die Hand, es besser zu machen.“

Orte der Dunkelheit

Nach wie vor fängt der Tanz Cherkaouis Melancholie auf: „Ich gehe gerne an Orte der Dunkelheit und zeige, dass wir es schaffen können durchzugehen.“ Eine seiner jüngsten Arbeiten, die diesen Sommer beim Wiener Performance-Festival Impulstanz zu Gast war, erschütterte in ihrer Direktheit: In „3S“ reflektiert Cherkaoui die Verzweiflung über den Zustand der Welt, zeigt auf, wie nah am Abgrund die Menschheit steht – von der nuklearen Katastrophe in Fukushima über den Bürgerkrieg in Kolumbien bis zur industriellen Umweltzerstörung in Australien. Die Mischung aus Tanz, Text, Livemusik und dokumentarischen Videoaufnahmen schreit förmlich: Lasst uns diesen Planeten bewahren!

Wer sich mit Cherkaoui beschäftigt, stößt regelmäßig auf die Bezeichnung „Vermittler zwischen den Kulturen“. Das hat nicht nur mit seiner eigenen Herkunft zu tun, sondern vor allem damit, dass er seit jeher mit Künstlerinnen und Künstlern aus unterschiedlichsten Nationalitäten auftritt und Elemente aus vielen Traditionen, Religionen und Kunststilen verbindet. Der Mix der Kulturen wirkt bei ihm authentisch. In „Babel(words)“ etwa fragen sich 18 Künstlerinnen und Künstler aus 13 Ländern mit 15 Sprachen und sieben Religionen: Welche Sprache verwendeten die Menschen, bevor es die gesprochene Sprache gab? Sie hatten Gesten, lautet die tänzerische Antwort dieses vielsprachigen Haufens im nüchternen Bühnenbild. In „Sutra“ stehen Shaolin-Mönche auf der Bühne. Das Stück wurde Cherkaouis größter Hit, es tourt seit über 16 Jahren um die Welt. Die Faszination dafür ist nachvollziehbar: Akrobatik und Synchronizität begegnen choreografischer Poesie. Die traditionellen Bewegungen der Shaolin-Mönche treffen auf langsam ausgeführte Breakdance-Moves und melancholische Geigenmusik. In „Sutra“ gibt es eine Sequenz, in der Cherkaoui ausschließlich mit seinen Händen und Fingern tanzt, während ein Shaolin-Mönch im Hintergrund ein langes Schwert schwingt.

Der zeitgenössische Tanz wurde zu einem Ort für meine Melancholie.

Schreiende Ziege

Auch während des Interviews führt der Choreograf immer wieder seine Fingerspitzen aneinander, um das, was er sagt, zu verdeutlichen. Er streicht sich sacht über den Bart am Kinn, während er über die komplizierte Beziehung zu seinem Vater spricht, der nun Gegenstand seiner neuesten Arbeit „Ihsane“ ist. „Ihsane“ bedeutet Güte und Freundlichkeit. Der Titel spielt auch auf den aus Marokko stammenden Ihsane Jarfi an, den vier Männer 2012 im belgischen Liège aus homophoben und rassistischen Motiven ermordeten. Als queerer, arabischstämmiger Künstler meint Cherkaoui: „Ihsane hätte ich sein können.“

Die Sehnsucht seines Vaters, einen „echten Mann“ aus ihm zu machen, sei schwierig für ihn gewesen. In Flandern hatte der Marokkaner Probleme, Arbeit zu finden. „Es war hart zu sehen, wie er kämpft. Es war aber auch hart für mich, mit ihm zu kämpfen.“ Sein Papa brachte ihn zum Beispiel in Schlachthäuser, wo Tiere blutend an Haken hingen. „Ich sollte verstehen, dass Tiere getötet werden, damit wir sie am Abend essen können. Mein Vater dachte, ich würde davon richtig stark werden. Aber ich wurde Veganer.“ Heute ist er ihm dankbar dafür, dass er ihn nicht in einer Blase aufwachsen ließ. „Auch wenn es traumatisch war, eine Ziege schreien zu hören, während ihr der Kopf abgeschnitten wird: Er zeigte mir, was das Leben ist.“

Während sich Cherkaoui in „Vlaemsch (chez moi)“ mit dem flämischen Erbe seiner Mutter, der Rolle der Frau in Belgien und dem erstarkenden Nationalismus beschäftigte, nähert er sich nun der marokkanischen Herkunft seines Vaters. Wie hat dieser seine Identität geformt? In „Ihsane“ arbeitet Cherkaoui vor allem mit Künstlerinnen und Künstlern aus dem Nahen Osten und Marokko zusammen. Wie immer wird Livemusik eine fundamentale Rolle spielen. Cherkaoui wird auch in diesem Stück nicht selbst tanzen. Seit der Pandemie ist er nicht mehr aufgetreten. „Ich fühlte mich nach der langen Pause nicht gut genug als Tänzer“, sagt er. „Aber ich will nicht lügen: Ich vermisse es sehr.“ ● ○

Sidi Larbi Cherkaoui, Ballet du Grand
Théâtre de Genève, Eastman: „Ihsane“ Österreichpremiere: Festspielhaus
St. Pölten, 24. Jänner 2025, 19.30 Uhr
Einführung von Festspielhaus-Leiterin Bettina Masuch um 18.30 Uhr
Tickets unter:
shop.festspielhaus.at