Wenn Sidi Larbi Cherkaouis Eltern glücklich waren, schalteten sie das Radio ein und tanzten. Oft klopfte das Glück nicht an die Tür der marokkanisch-flämischen Familie in Antwerpen. Aber wenn, dann wünschte sich Cherkaoui, für immer in diesem Zustand zu verharren: „Als Kind war Tanz für mich ein Ausdruck von Freude und Verbundenheit.“
Heute gehört der 48-Jährige zu den weltweit bekanntesten Choreografen. Cherkaoui inszeniert Tanzstücke und Opern, hat seine eigene Company, Eastman, choreografiert für Beyoncé und Madonna. Er leitete das Ballet Vlaanderen und ist seit zwei Jahren Ballettchef am Grand Théâtre in Genf. Es ist unmöglich, Cherkaoui auf eine Form festzulegen: Zu unterschiedlich sind seine Stücke. Der Künstler ohne Berührungsängste arbeitete mit Shaolin-Mönchen aus China, renommierten Ballettensembles und Tangopaaren aus Argentinien. Er stand mit der britisch-bengalischen Tanzikone Akram Khan auf der Bühne und mit Tänzerinnen und Tänzern aus den Sparten Hip-Hop, Akrobatik und Lindy-Hop.
Sprachenwahnsinn
morgen trifft ihn an einem Sonntagvormittag zum Online-Gespräch. Cherkaoui sitzt im karierten Flanellhemd in seiner Wohnung in Antwerpen. Im Hintergrund steht eine mit Blumen verzierte, mexikanische Totenkopfmaske. An der Wand lehnt eine Aufnahme aus seinem Stück „Vlaemsch (chez moi)“. Der Künstler erweist sich als freundlicher und aufmerksamer Gesprächspartner. Er spricht schnell, viel – er hoffe, betont er, dass er genug Brauchbares erzähle. Dieses Wochenende habe er seine Mutter besucht, am nächsten Tag gehe es zurück nach Genf. Seit er dort als Ballettdirektor arbeitet, pendelt er zwischen der Schweiz und Belgien, wo seine Company Eastman (die englische Übersetzung seines Nachnamens) ihren Sitz hat. Sein neues Projekt „Ihsane“ ist eine Kooperation des Genfer Balletts mit Eastman.
Im November feiert das Stück seine Uraufführung, im Jänner gastiert es im Festspielhaus St. Pölten, mit dem Cherkaoui eine lange Beziehung verbindet: 2010/11 war er dort Artist in Residence, ebenso standen schon zahlreiche seiner Projekte auf dem Spielplan. Neben Stücken wie dem Tangoabend „m¡longa“, dem Sprachenwahnsinn „Babel(words)“ – gemeinsam mit Damien Jalet – und dem Shaolin-Projekt „Sutra“ war im Jahr 2022 „Vlaemsch (chez moi)“ zu sehen, eine Ode an Cherkaouis Mutter. Die neue Arbeit „Ihsane“ setzt die Erzählung fort, indem sie den Blick auf den Vater lenkt.
1972 in der Hafenstadt Antwerpen geboren, wuchs Cherkaoui im flämischen Teil von Belgien auf. Sein muslimischer Vater stammte aus Marokko, seine katholische Mutter aus Flandern. Zuhause sprach die Familie französisch. Beide Elternteile waren Halbwaisen. „Diese Parallele brachte sie schicksalhaft zusammen“, so der Choreograf. Als er 15 war, ließen sie sich scheiden. Seine Mutter wurde Alleinerzieherin, wie schon ihre eigene.