Essay

Radetzkymarsch in Salerno


Das Forschungsnetzwerk Kakanien revisited öffnet unterschiedliche Perspektiven auf Mitteleuropa. Es ruft zu einer Neubetrachtung des Gebiets der einstigen Habsburger-Monarchie auf – und zum Überwinden eines allzu schlichten Blicks darauf, der zwischen rosaroter Operette und rhetorischer Verdammnis oszilliert.

In seinem unvollendeten Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ prägte Robert Musil die liebevoll-ironische Bezeichnung Kakanien. Er ist das Porträt eines politischen Territoriums, in dem alles gemütlich, aber auch kompliziert geregelt ist, beinahe so unüberschaubar wie heute in der EU. Dieses Reich in der Mitte Europas – Musils Begriff leitete sich von der k. und k. Monarchie her – besaß, so der Schriftsteller, einen Staat, der irgendwie hinterherhinkte und zugleich der „fortgeschrittenste“ war. Er verfügte über eine gut geölte Bürokratie und war zugleich ein Gemeinwesen, in dem jeder jedem misstraute und das sich selbst „irgendwie nur noch mitmachte“ (Musil). Kakanien nannte es Musil wegen seiner verwirrenden Strukturen seit dem ungarischen Ausgleich von 1867 – ist es doch ein raffinierter Staat im Staat, einmal österreichisch-kaiserlich, das andere Mal ungarisch-königlich und nicht zuletzt auch gedoppelt kaiserlich-königlich. Wenn der Regent in seinen Schlössern in Ungarn residierte, musste er die kaiserlichen mit den königlichen Gewändern tauschen. Ein merk- und denkwürdiger Vielvölkerstaat, ein Imperium und ein Staat, der auch – man denke an Bosnien – koloniale Züge aufweist.Dieses merkwürdig ambivalente Staatswesen hinterließ erstaunlich viele Spuren, und zwar nicht nur im kleinen Nachfolgestaat Österreich, sondern auch in jenen Ländern, die diesen nördlich, östlich und südlich umgeben. Nie werde ich vergessen, wie vor vielen Jahren eine Blaskapelle vor dem Dom von Salerno zu Kaisers Geburtstag den Radetzkymarsch erklingen ließ. In dem italienischen Germanisten und Schriftsteller Claudio Magris mit dessen Buch „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur“ hat das mittlere Imperium im Herzen Europas einen geistigen Testamentsvollstrecker erhalten. Man tut Magris Unrecht, wenn man ihn nur als den Erfinder des habsburgischen Mythos ansieht und nicht auch als einen Autor, der diese mythische Verklärung bei Joseph Roth, Stefan Zweig, Heimito von Doderer oder eben auch bei Musil kritisch kommentierte – etwa die Vorstellung eines gemütlich-friedlichen und eleganten Reiches, das in seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt das politische Europa von heute vorwegnahm. Magris begreift den Mythos als das Format einer ins Imaginäre gerückten, überhöhten Vorstellungswelt. Man darf nicht das Schicksal dieser Länder vergessen, die fast allesamt der politischen Gewalt des Dritten Reiches anheimfielen und danach – Österreich und später Jugoslawien bilden Ausnahmen – in den stalinistischen Herrschaftsbereich gerieten. Dieser Umstand und der damit verbundene Vergleich führten in Ländern wie Tschechien und Italien zu einer Revision des Bildes von der hässlichen habsburgischen Herrschaft. Insbesondere im Westen der von Putin überfallenen Ukraine spielt das habsburgische Reich eine wichtige Rolle, insofern als die einstige Zugehörigkeit zu ihm dort als Eintrittskarte nach Europa verstanden wird. Jahre vor dem ersten Überfall Russlands auf seinen Nachbarn 2014 erklärte mir ein prominenter Journalist aus Lemberg, warum die Erinnerung an die Monarchie so positiv besetzt ist. „Sie werden das vermutlich nicht verstehen“, meinte er, „aber wir hatten seitdem kein so gut funktionierendes Staatswesen mehr.“ Weshalb Kaiser Franz Josef vor der Jesuitenkirche in Czernowitz ein neues Denkmal erhalten hat.Wie das englische Anhängsel andeutet, ist das Forschungsnetzwerk Kakanien revisited der Versuch, diesen Mythos zurechtzurücken und die falsche Alternative zwischen rosaroter Operette und rhetorischer Verdammnis zu verlassen. Diese Neubetrachtung der Habsburger-Monarchie schlug sich bisher unter anderem in Forschungsprojekten und Tagungen in vielen „Nachfolgestaaten“, einem digitalen Archiv sowie einer 2002 geschaffenen internationalen Buchreihe mit dem Thema „Kultur – Herrschaft – Differenz“ nieder. Die letzten beiden Tagungen fanden 2019 und 2022 in Drosendorf, die erste 2000 in Raabs statt.Das multidisziplinäre Netzwerk verdankt sich drei einander überlappenden Impulsen: Der erste ist der Zusammenbruch der kommunistischen Regime. Denn die Losung der Rückkehr nach (Mittel-)Europa, die Autoren wie György Konrád und Milan Kundera ausgaben, war ohne Bezugnahme auf die gemeinsame Vergangenheit dieser Länder kaum denkbar. Bei der prominent besetzten Tagung in Drosendorf im April 2022 beschwor der ukrainisch-galizische Essayist und Germanist Jurko Prochasko den unmöglichen Mitteleuropäer, eine Figur des Dazwischen und der Nicht-Zugehörigkeit zu West und Ost. Nicht einmal in den Zeiten ihrer größten Machtfülle im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert habe die Habsburger-Monarchie das politische Zentrum des europäischen Halbkontinents gebildet.

Der zweite Anstoß zu Kakanien revisited hängt mit der kulturellen Wende in den Humanwissenschaften zusammen. Insbesondere in den angelsächsischen Cultural Studies und den aus ihnen entwickelten postkolonialen Konzepten wurde Kultur als ein Großphänomen bestimmt, in dem es nicht nur um die hohe Kunst, sondern um Mentalitäten, Zugehörigkeiten und Unterschiede geht. Anders, als ein abgehobener Begriff von Kultur suggeriert, ist die Asymmetrie der Macht in kulturellen Differenzen eingeschrieben, die sich in Sprache, Symbolismus und Alltag äußern und im gegenwärtigen Europa eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen: Nord und Süd, Ost und West.In gewisser Weise kehrte der kulturwissenschaftliche Blick die Perspektiven um, waren doch Geschichtsschreibung und die literarische Kanonbildung zumeist auf das Zentrum gerichtet. Nun aber rückt die Peripherie in den Fokus, was bei einem Autor wie Joseph Roth ins Auge sticht: Nicht selten blickte er – etwa in seinen Romanen „Radetzkymarsch“, „Hiob“ und „Das falsche Gewicht“ – von der Grenze auf das Zentrum. Wie der Semiotiker Juri Lotman zeigte, ändert sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie stetig und schafft damit kulturellen Wandel: Was Zentrum war, kann Peripherie werden. Und umgekehrt. Die Peripherie und mit ihr die Grenze ist jener entlegene Raum, in dem der Einfluss des Zentrums relativ gering ist. Zugleich aber ist die Grenze ein Ort sich überkreuzender kultureller Traditionen, Sprachen und Codes. Der dritte Anstoß für das Kakanien-Projekt kam durch die angelsächsische Geschichtsschreibung und die deutsche Imperienforschung (Herfried Münkler, Jürgen Osterhammel). Die Studie „Habsburg: Geschichte eines Imperiums“ von Pieter Judson, Eröffnungsredner des jüngsten Symposions in Drosendorf, ist dabei nur eines von mehreren Werken aus dem angelsächsischen Raum, das höchst ausgewogen und unvoreingenommen das kakanische Imperium in Augenschein nimmt. Der auf den ersten Blick so eindeutige Unterschied zwischen Imperium und Nation löst sich bei näherem Hinsehen tendenziell auf, so wie umgekehrt die Unterschiede zwischen traditionellen kontinentalen Herrschaftsbereichen (Osmanisches Reich, Habsburger-Reich, Zarenreich / Sowjetunion) und (west-)europäischen Kolonialreichen, historischen Vorreitern der Globalisierung, ins Blickfeld rücken.

Was könnte an die Stelle von Nationen und Imperien treten?

Eine beinahe magische Bedeutung im gegenwärtigen Diskurs besitzt die mehrdeutige Präposition „post“. Sie verweist auf ein zeitliches Danach, aber auch auf eine Fortdauer sowie auf eine Distanz, die Reflexion ermöglicht. Mit Blick auf die heutige Situation, die Implosion der europäischen Nachkriegsordnung durch das revisionistische Regime Putins, stellt sich die Frage, wie postimperial und postnational etwa EU-Europa ist, ob die Zeit von Imperialität, Nationalismus und verdecktem globalem Kolonialismus tatsächlich hinter uns liegt. Unübersehbar ist auch, dass wir es – etwa im Falle Russlands – mit einem Revisionismus zu tun haben, der sowohl neoimperial wie neonationalistisch ist und auf die Wiederherstellung alter Herrlichkeit und Herrschaft ausgerichtet ist. Putins Überfall auf die Ukraine hat bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit jenem Hitlers auf Polen, zerstörten doch beide Interventionen die Sicherheitsordnung Europas. Was könnte an die Stelle von Nationen und Imperien treten? Vielleicht am Ende – Rest von Utopie – ein föderales Europa gleichberechtigter Staaten? ● ○