Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser


Wie hätte die 1975 verstorbene Philosophin Hannah Arendt wohl die aktuelle Situation beobachtet?

In ihren „Gedanken zu Lessing“ schrieb Hannah Arendt 1960: „Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Frei-Seins.“ 

Wie hätte die 1975 verstorbene Philosophin wohl die aktuelle Situation beobachtet? Das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist derzeit schlichtweg nicht möglich. Noch im Februar 2020 war eine solche Lage unvorstellbar; jetzt scheint schon der Gedanke an eine Reise auch nur ins benachbarte Ausland geradezu abenteuerlich. Viele von uns fühlen sich eingesperrt. Grund genug, dieses Heft einem Zustand zu widmen, den wir intensiv herbeiwünschen: der Freiheit. Cornelia Mooslechner-Brüll, die sich in ihrem Essay Gedanken zum Zustand der Freiheit in Pandemie-Zeiten macht, bringt es auf den Punkt: „Wollen wir Souverän sein, so müssen wir uns darüber bewusst werden, dass sich der Freiheitsspielraum momentan vor allem auf ein vernünftiges Handeln in Richtung Gemeinwohl orientieren muss.“ Den Text der Autorin, die in Baden eine philosophische Praxis betreibt, lesen Sie ab Seite 54.

Es gibt aber einen weiteren Anlass dafür, dass diese Ausgabe von morgen um das Thema Freiheit kreist. Denn das renommierte Festival Literatur im Nebel, das seit 2006 in Heidenreichstein abgehalten wird und dem diesmal unser Special gilt, hat für 2021 einen besonderen Stargast eingeladen: den chinesischen Dichter Liao Yiwu, der heute im deutschen Exil lebt und viel über das Schreiben und Denken in autoritären Systemen zu sagen hat, ebenso wie seine Kollegin, die Literaturpreisträgerin Herta Müller. Ich freue mich sehr, dass wir beide für Gespräche gewinnen konnten. Die entsprechenden Beiträge finden Sie im Special ab Seite 28. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre dieses Hefts.  

Übrigens: Es gibt uns jetzt auch zum Hören. Den morgen-Podcast finden Sie unter morgen.at. ● ○

Herzlichst

Ihre Nina Schedlmayer