Andrea Bina, Günther Oberhollenzer, Christiane Erharter (von links) im Büro des Belvedere 21
© Heribert Corn
Andrea Bina, Günther Oberhollenzer, Christiane Erharter (von links) im Büro des Belvedere 21

Kunst und Digitalisierung

"Wertschätzung ist zentral"


Museen versuchen zusehends, ihr Publikum zu erweitern. Dazu treten sie in einen stärkeren Dialog mit der Zivilgesellschaft. Welche Wege gehen sie dabei? morgen befragte eine hochkarätige Expertenrunde.

Die Corona-Pandemie macht Gesprächsrunden nicht gerade einfach. Doch trotz erschwerter Bedingungen lohnte sich das Treffen im Büroturm des Wiener Belvedere 21. Wie können Museen ein Publikum ansprechen, das über das Bildungsbürgertum hinausgeht, wie zivilgesellschaftliche Themen in Ausstellungen und Projekten abbilden? Um Fragen wie diese drehte sich das Gespräch, das morgen mit Kuratorin Christiane Erharter (Belvedere), ihrem Kollegen Günther Oberhollenzer (Landesgalerie Niederösterreich) sowie Andrea Bina, Direktorin des Nordico Stadtmuseum Linz führte. Das Kennenlernen in der „analogen“ Diskussion fiel weitaus lebhafter aus, als es vor Computerscreens die Regel ist.

morgen: Museen stehen heute mehr denn je in Konkurrenz zueinander. Sie bemühen sich aktiv um eine Erweiterung ihres Publikums. Wie erleben Sie dieses Audience Development, wie es im Fachjargon heißt?

Christiane Erharter

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Meine Stelle als Kuratorin für „Community Outreach“ wurde im Belvedere 21 geschaffen, weil sich das urbane Umfeld des Museums sehr stark verändert hat und noch weiter verändert. „Audience Development“ ist im Museumsalltag so ein Schlagwort, dessen Bedeutung sehr davon abhängt, wer es verwendet. Ich bin in der kuratorischen Abteilung angesiedelt. Das macht schon einen Unterschied zu einer Positionierung im Marketing, wo es vorrangig darum geht, mehr Leute ins Museum zu bringen.

Günther Oberhollenzer

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Die Landesgalerie Niederösterreich ist ein „niederschwelliges“ Museum, das sich an ein sehr breites Publikum richtet. Als Kurator finde ich es gleichzeitig aber auch wichtig, Ausstellungen für ein spezielles Publikum zu machen. Im Moment zeigen wir die breitenwirksame Schau „Wachau. Die Entdeckung eines Welterbes“, mit schöner Landschaftsmalerei. Parallel dazu leisten wir uns, spitz formuliert, die Ausstellung „Spuren und Masken der Flucht“. Diese spricht ganz andere Kunstinteressierte an. Das Spannende ist, dass jene Leute, die wegen der lieblichen Wachau-Bilder kommen, dann auch mit berührenden, teils heftigen Fluchtgeschichten konfrontiert werden.

Andrea Bina

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Mit dem Nordico Stadtmuseum in Linz bin ich anders situiert als die Kunstmuseen. Ich kann niemals mit Besucherzahlen in Wien mithalten. Das ist eine Diskrepanz, denn für die Linzer Politik ist es sehr wichtig, dass wir bestimmte Zahlen erreichen. Wir haben eine breite Sammlung und bereiten vor allem kulturhistorische und zeitgeschichtliche Themen auf, zeigen aber auch Kunst. Ich versuche von der Gegenwart in die Vergangenheit zu blicken, zum Beispiel mit Ausstellungen über den 200 Jahre alten Urfahraner Jahrmarkt oder über das Wirtshaus.

Unter dem Begriff „Community Outreach“ ist Arbeit mit der Nachbarschaft zu verstehen. Wie hat man sich das vorzustellen?

Erharter

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Ich sehe es als Herangehensweise und als Prozess. Man könnte sagen, ich kuratiere Beziehungen. Fast alle Aktivitäten finden außerhalb des Museums statt und werden gemeinsam mit Kunstschaffenden erarbeitet. Es geht im Wesentlichen um Teilhabe. Um diese zu ermöglichen, setzen wir verschiedene Akzente und machen Angebote. Aktuell bieten wir mit dem Format des öffentlichen Mikrofons, dessen Gastgeberin die Künstlerin Susanne Schuda ist, eine Bühne für Präsentationen, Debatten, Reden, musikalische Darbietungen. Unter starker Einbindung der Nachbarschaft stellen sich auch Menschen aus der Umgebung des Belvedere 21 mit ihren Anliegen vor. Oder ein anderes Beispiel: Mit der Künstlerin Anita Fuchs haben wir die Biodiversität der umliegenden Grünflächen und Brachen in Spaziergängen erkundet. Alle, die teilnahmen, konnten sich mit ihrem Wissen stark einbringen.

Im Nordico läuft derzeit eine Schau zu Graffiti. Zieht diese auch ein neues Publikum an?

Bina

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Ja, das Museum hat sich dadurch verjüngt. Wir machen alle drei Jahre ein Projekt, wo wir als Scouts aufgreifen, was in der Stadt gerade verhandelt wird. Graffitis haben in Linz sehr zugenommen. Wir hatten einen langen Vorbereitungsprozess, bei dem ganz aktuelle Arbeiten entstanden sind und das Haus als Workspace fungierte. Ein Teil der Schau erzählt auch die Kulturgeschichte des Graffiti. Als Museumsleiterin verstehe ich mich als Gastgeberin, ich öffne das Haus, etwa auch durch Feste auf unserem Vorplatz.

Wie wurden bei der Ausstellung zum Thema Flucht, die aktuell in der Landesgalerie läuft, Betroffene eingebunden?

Oberhollenzer

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Für uns war es sehr wichtig, Geflüchteten auf Augenhöhe zu begegnen. Ich selbst habe ja keine Fluchterfahrung, und natürlich könnte man sagen, es sei vermessen, ohne diese so eine Ausstellung zu machen. Mein Kollege Georg Traska und ich hatten kein in Stein gemeißeltes kuratorisches Konzept, nach dem wir dann die Arbeiten auswählten. Die Schau wurde von Künstlerinnen und Künstlern mitentwickelt, von denen weit mehr als die Hälfte Flucht erlebt hat. Das hat das Konzept sehr verändert. Wir wollten die Teilnehmenden auch nicht als Geflüchtete brandmarken, und ich glaube, diese Gratwanderung ist gelungen. Ein Teil der Vorbereitung bestand aus Gesprächen mit Fluchtorganisationen. Ich habe den Idealismus, dass diese Ausstellung über den Weg der Empathie etwas bewirken kann.

Ich kuratiere Beziehungen.

Im Kunstbetrieb wurde in den letzten Jahren immer wieder mehr Diversity, also Vielfalt, eingefordert. So etwa auch am Rande der Black-Lives-Matter-Proteste in Amerika, wo Kritik an der Ausstellungs- und Einstellungspolitik von US-Museen laut wurde. Wie stehen Sie dazu?

Erharter

:

Ich halte es für sehr wichtig, diese Menschen endlich ins Museum zu holen, weil das auch mit den Institutionen etwas macht. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst geht es sehr stark um Inklusion und Exklusion, wer ist drinnen und wer draußen. Wir hatten im Juli ein „Public Program“ zum Genozid in Srebrenica mit Kulturschaffenden aus Wien, alle mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien. Diese Themensetzung hat auch mit der Lage des Museums in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Südbahnhof, dem heutigen Hauptbahnhof, zu tun. An diesem Bahnhof sind in den 1990er-Jahren viele bosnische Kriegsgeflüchtete angekommen und zuletzt 2015 viele Kriegsgeflüchtete aus Syrien. Auch die Personalpolitik der Museen gehört dazu. Wenn wir uns den feministischen Kampf anschauen, dass es Jahrhunderte gedauert hat, bis Künstlerinnen endlich ernst genommen und ausgestellt wurden – so lange können die unterschiedlichen Kunstszenen in Afrika und Asien doch nicht warten! In Museen geht es nach wie vor um Repräsentationsfragen, und da muss man pushen, damit sich etwas verändert.

Oberhollenzer

:

Leider ist gut gemeint oft nicht gut. Ich kenne das Dilemma mit den Länderausstellungen von meiner früheren Tätigkeit im Essl Museum, wo wir etwa chinesische oder indische Kunst gezeigt haben. Da gab es sehr hitzige Diskussionen mit den Kunstschaffenden, weil sie nicht nur in einem länderspezifischen Kontext gezeigt werden wollten. Ich denke heute, so etwas kann nur ein erster Schritt sein, um eine Kunstszene in einem Land wie Österreich bekannt zu machen. Danach sollten die Künstlerinnen und Künstler in einem ganz anderen Themenfeld auftauchen, und nicht wieder nur aufgrund ihrer Herkunft präsentiert werden.

Sollen Museen gesellschaftliche Probleme aufgreifen, gegen die Menschen auf die Straße gehen?

Oberhollenzer

:

Ja, unbedingt. Unsere Flucht-Ausstellung sollte aber kein agitatorisches oder tagespolitisches Statement sein, auch nicht der erhobene Zeigefinger. Wir wollen unterschiedliche Stimmen vorstellen, verschiedene Facetten von Flucht sichtbar machen. Es geht auch da­rum, das Individuum aus der anonymen Masse herauszuschälen, die im medialen Diskurs dominiert.

Bina

:

Mit aktuell brennenden Themen muss man vorsichtig sein. Doch wir haben festgestellt, dass Zeitgeschichte die Leute sehr interessiert. Unsere Ausstellung zu den Linzer NS-Wohnsiedlungen, den sogenannten „Hitlerbauten“, schlug 2013 große Wellen. Der Katalog war sehr schnell ausverkauft. Wir veranstalten jetzt Diskussionsabende zu zeitgeschichtlichen Themen, die gut besucht sind. Die Leute wollen einfach darüber sprechen. Wir werden auch die Ausstellung „Der junge Hitler“ aus dem Haus der Geschichte in St. Pölten übernehmen. Dafür planen wir einen Stadtplan, der als eine Art Mindmap Hitlers Linz mit all den biografischen Verbindungen zeigt.

Im Nordico starteten Sie ein Sammlungsprojekt, bei dem Sie um Fotos des Corona-Alltags gebeten haben. Wie wächst das Museum durch Beiträge von außen?

Bina

:

Wir bekommen wahnsinnig viel geschenkt. Mir persönlich werden Sachen überreicht, die Leute rufen an oder schreiben uns. Dinge werden auch geschickt oder anonym an der Kassa abgegeben. Für unsere Ausstellung „Erzähl uns Linz“ räumten wir das gesamte Haus aus. Dann forderten wir die Leute auf, Dinge zu bringen. Zu meinen liebsten Schenkungen zählt ein Löscheimer aus Leder, der mit Goldfarbe bemalt ist – eine „Goldhaube für Arme“. Sie wurde wirklich von einer Arbeiterin getragen.

Erharter

:

Im Community Out­reach geht es uns auch um Themen, die sich aus dem Standort und seiner Geschichte ergeben, um lokal situiertes Wissen und Oral History. Was gibt es hier in der Gegend für besondere Geschichten, wie arbeitet man damit, und wie trägt man das Gesammelte weiter? Wir gehen dafür hinaus in das umliegende Stadtentwicklungsgebiet, vor allem in das Sonnwendviertel. Mir geht es auch um Leute, die schon lange im zehnten Bezirk wohnen, denn deren Erzählungen laufen Gefahr, durch die Neubauten und die Gentrifizierung überdeckt zu werden.

Ist bei partizipatorischen Projekten Wertschätzung das Wichtigste?

Oberhollenzer

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Ja, sie ist zentral. Ich lehne auch diese großkopferte Einstellung ab, die manche Kuratorinnen und Kuratoren nach wie vor haben, dass wir scheinbar die Welt verstehen und mit belehrender Attitüde eine Ausstellung machen. Ich sehe unsere Aufgabe eher darin, Angebote und Vorschläge zu unterbreiten, anstatt Hürden aufzubauen. Eines fordere ich vom Publikum aber schon ein, und das ist Neugierde.

Wie schafft man es, dass sich Menschen mit einer Institution identifizieren, sie als „unser“ Museum sehen?

Erharter

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Es geht darum, durchlässig und offen zu sein. In unserem Nachbarschaftsforum treffen wir uns alle sechs Wochen – darauf verlassen sich die Leute mittlerweile. Es kommen Kunstschaffende, Leute von benachbarten Institutionen und Initiativen aus den Bereichen Kultur und Bildung sowie allgemein Kulturinteressierte. In Erkundungstouren besuchen wir einander und schmieden gemeinsam Pläne. Wir waren unter anderem schon in der Brotfabrik, im Zwischennutzungsareal Am Kempelenpark, im Wohnprojekt Gleis 21 und im Kunstraum toZomia. Einige Wohn- und Gemeinschaftsprojekte habe ich ins Museum zum „Public Program“ eingeladen, damit sie sich und ihre Ideen vorstellen. Durch die Kontinuität im Angebot entsteht Vertrauen und Identifikation mit dem Haus.

Bina

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Wir haben schon ein Stammpublikum, das uns begleitet. Unser Wissen wird durch die Besucherinnen und Besucher ständig erweitert. Mir ist die Forschung im Haus sehr wichtig, dass wir Wissen generieren und dazu publizieren.

Oberhollenzer

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Als die Landesgalerie Niederösterreich um 35 Millionen Euro in Krems gebaut wurde, gab es auch Kritik. Wir hielten noch vor Baubeginn und während der Bauarbeiten zahlreiche Veranstaltungen ab und holten Ideen ein. Ich diskutierte etwa mit einer Gastwirtin ums Eck hitzig über das Museum. Sie war nicht glücklich darüber und gab diese Meinung natürlich ihren Gästen weiter. Ich versuchte ihr dann mit meiner Leidenschaft zu vermitteln, dass das neue Museum auch für sie eine Bereicherung sein kann. ● ○

Es gab hitzige Diskussionen mit Kunstschaffenden.