Dorfplatz

Wagnis willkommen


Ein Landwirt rettet einen Vierkanter vor dem Abriss, dann mietet sich eine idealistische Initiative ein: In St. Andrä-Wördern zeigt der Verein Dorfplatz, wie ein leerstehendes Gebäude zu einem Ort der Kreativität und Nachhaltigkeit werden kann – mit Ausdauer, Gemeinschaftssinn und einer Maschine namens „Rote Elsa“.

Die Adresse Josef-Karner-Platz 1 in St. Andrä-Wördern ist etwas missverständlich. Das lange, weiß verputzte, niedrige Haus, das hier sein soll, liegt nämlich eigentlich am Beginn der Franz-Schubert-Gasse. Es sieht so unauffällig aus, dass man versucht ist, einfach daran vorbeizugehen. Ein zweiter Blick lohnt sich. „Hofküche, Buntes Ofengemüse 7,50 Euro, Marokkanische Fleischbällchen 9,50 Euro, Tagessalat 2,50 Euro, Kaffee und Kuchen bis 15 Uhr“ hat jemand in gut leserlicher Handschrift mit weißer Kreide auf die schwarze Schiefertafel geschrieben, die an der Hausmauer lehnt.

Hinter dem hölzernen Eingangstor beginnt eine andere Welt. Zuerst ein kleiner Hof, dann ein Durchgang in einen hellen, langgezogenen Innenhof. Zweigeschoßige Wirtschaftsbauten aus Backsteinmauerwerk mit einer der frühesten Stahlbetonkonstruktionen unterm Dach auf der einen Seite, verglaste Werkstätten auf der anderen rahmen einen großen Platz. Hier lugen grüne, gelbe, blassrote Cocktailtomaten aus dem Blätterdickicht, wächst Gras aus den Ritzen im Beton, recken sich vertrocknete Sonnenblumenköpfe himmelwärts und beginnt eine ausgemusterte Badewanne ihr zweites Leben als Pflanzbeet. An diesem Ort ist Wachstum erwünscht und Wagnis willkommen.

Um 1900 war der Hof noch ein Gestüt, angeblich sogar das erste Sommerquartier der Lipizzaner, später Bauernhof, Baumschule, Traktorenwerkstatt und Landmaschinenpark. Schließlich kaufte der Landwirt Alfred Kögl den Vierkanthof, in dem er als Kind gespielt hatte, und rettete ihn vor dem Abriss und späterer Verbauung. „Es war fünf vor zwölf“, sagt Barbara Oberndorfer, die mit Grafikerin Barbara Resl das Geschäftsführerinnenteam des Vereins Dorfplatz bildet. 2015 mietete sich dieser in das landwirtschaftliche Gebäude ein, um es in Kooperation mit dem Hausherrn zu dem zu machen, was es heute ist.

Hippies oder Profitgeier?

Eine Sattlerin, ein Pilzzüchter, ein Bogenbauer, ein Messerschmied – insgesamt zwölf Werkstätten gibt es derzeit, zehn Personen teilen sich Co-Working-Spaces und das Gemeinschaftsbüro, außerdem betreibt der Verein Dorfplatz die Hofküche mit sechs Angestellten. Insgesamt arbeiten etwa 30 Menschen hier, schätzt Resl. Dazu kommen die vielen Vereinsmitglieder, die unterstützend tätig sind.

Es ist ein lebendiges Soziotop, das am Miteinander aller hängt, ein ständiger Prozess mit unzähligen Diskussionen. „Natürlich gab es Konflikte“, sagt Resl. „Mehr als einen. Es gibt immer einige, die mehr tun, irgendwann ist wer frustriert und flippt aus.“ Entscheidungen fallen soziokratisch. Das heißt: Sobald jemand einen wesentlichen, nachvollziehbaren Einwand hat, sucht man eine Lösung, die alle mittragen können. Ein echter Knackpunkt war die einstige Traktorenwerkstatt. Sie wurde in ein Vereinslokal und eine Gemeinschaftsküche umfunktioniert. Dann wagte man den Schritt zum sozioökonomischen Gastrobetrieb Hofküche. „Da konnten nicht mehr alle reingehen, um ihr Essen zu machen. Einige hatten das Gefühl, es würde ihnen etwas genommen“, sagt Resl. So sah man sich nach Ersatz für die gemeinsame Kochstelle um: „Wir öffneten dann die Teeküche im Büro für alle.“ In der Hofküche stehen verschiedene Sessel an den Tischen – Thonet-, Garten- und Schulstühle – viele gespendet, alle aus Holz, jeder nummeriert, damit man sie bei Veranstaltungen leichter aneinanderreihen kann. Die kunstvoll spiralig geflochtene Lampenkugel an der Decke stellte Korbflechter Luc Bouriel her, die Garderobe stammt aus dem Fahrradfilet, der Werkstätte von Stefan Novak und Joschi Sedlak – sie verwandeln alte Fahrradteile in Designobjekte. An diesem Freitag gibt die junge Chefköchin Christina Grassnigg an die hundert Portionen aus. „Ich koche immer regional, aber immer anders. Meist zwei Gerichte, eins davon vegetarisch oder vegan. Unsere Zutaten sind aus biologischer Landwirtschaft.“ Im Kühlschrank stehen Bio-Limonaden, selbstgemachter Eistee und Kuchen, außerdem Suppen und Eintöpfe im Einmachglas zum Mitnehmen.

Begonnen hat alles 2014 mit einer Gruppe von etwa zwölf Leuten aus St. Andrä, die einen Platz zum gemeinsamen Tun brauchten. „Bei uns im Ort gibt es viele engagierte Initiativen, die nach Büros und Werkstätten suchten, aber auch nach einem Ort für ein soziales Miteinander“, sagt Barbara Resl. Einen solchen gab es bis dahin aber nicht. Bei der Bedarfsfindung wurden unterschiedliche Generationen und Interessensgruppen einbezogen, „vom Seniorenbund bis zum Integrationsverein.“ Die Umsetzung der Idee war eine Herausforderung. „Für eine EU-Förderung musste der Verein eine GmbH gründen. Manche meinten, wir wären Hippies. Sie waren ganz erstaunt, dass wir eine GmbH sind“, sagt Resl. „Die Leute aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich dachten, wir wären nun auf Profit aus. Dabei kann man auch in der Satzung einer GmbH viele soziale Eckpunkte festlegen. Da lernen wir ständig dazu.“

Die Initiative erkannte schnell das atmosphärisch-räumliche Potenzial des Bauernhofs: Das war der richtige Ort. Eigentümer Alfred Kögl nutzte ihn teilweise zur Lagerung von Holz und Mais, er wollte die Immobilie nicht verkaufen, und der Verein hatte ohnehin kaum Kapital. Man einigte sich auf ein Mietverhältnis. Der Bestand war von seiner Vergangenheit gezeichnet, seine Revitalisierung ein Großprojekt. „Die heutigen Werkstätten waren nicht viel mehr als ein Flugdach und ziemlich kaputt. Es gab keine geschlossenen Räume und keine Zwischenwände. Die Hofküche war eine Garage mit einem Loch zum Reparieren der Motoren“, erinnert sich Architektin Johanna Aufner. Sie hatte beim Büro AWG den Umbau eines abgewohnten Pflegeheims in Magdas Hotel in Wien betreut, einem Social-Business-Projekt der Caritas, wo auch Flüchtlinge arbeiten.

Unisex-Hose für zwei

Verwandlung des Streckhofs vor. Aufner firmiert heute mit Alex Mayer unter ViA Architektur. Gemeinsam betreuen sie das Projekt. „Die Leute haben irrsinnig viel selbst gemacht. Es waren sehr viele Hände, die da anpackten.“ Das Kollektiv brachte viel Eigeninitiative mit. Die Glasfassade, die nun den Werkstatttrakt zum Hof hin abschließt, stammt aus dem Tüwi der Wiener Universität für Bodenkultur, einem legendären Studentenlokal. Nach dessen Abriss organisierte jemand den Transport der 50 Fenster, für die Konstruktion der Holz-Ständerwand konsultierte man ViA Architektur. Laut eigener Aussage waren Aufner und ihr Kollege „weit mehr beratend als gestaltend tätig“. Gebaut wurde selbst. Als sehr vorteilhaft erwies sich dabei die Widmung des Areals zur landwirtschaftlichen Nutzung, wo­runter sich sehr vieles subsummieren lässt: Lagerräume, Werk- und Produktionsstätten, die Pilzzucht, die Hofküche. Die Dynamik der Baustelle war stark davon bestimmt, wer sich vor Ort wie einbrachte. Ein Freund, der Lehmputz macht, hielt einen Workshop ab, danach verputzten die Teilnehmenden ihre Wände selbst. „Am Ende spürt man die Liebe und die Energie, die da drin steckt. Es ist sehr authentisch“, sagt Aufner. Am Dorfplatz kann die Seele atmen und der Blick entspannt schweifen. Unter der einstigen Tenne parken Kindergefährte, Tische und Stühle stehen in der Sonne vor der Hofküche, die längst auch in St. Andrä-Wördern eine eingeschworene Fangemeinde hat.

2016 eröffnete Gertraud Gerst in einer der Werkstätten ihre Modemanufaktur für Slow Fashion. Weich fällt an diesem Nachmittag das Sonnenlicht auf die jungen Birkenstämmchen, die sie als Garderobenstangen nutzt. Wie hingetupft wirken die weiten, lockeren Gewänder aus feinen, naturfarbenen Stoffen. Gerst hat immer schon ihre eigene Kleidung genäht, Mode ist ihre Leidenschaft. 2016 legte sie in der Schneiderinnung ihre Berufsberechtigungsprüfung als Damenkleidermacherin ab. Ihre Schnitte sind zeitlos, die Stoffe aus der Region, das Nähen übernimmt sie selbst, jedes Stück ist ein handgefertigtes Unikat. Auf dem Arbeitstisch vor ihr liegt ein Mantel. Heimischer Flachs und zwanzig Arbeitsstunden stecken drin. „Der Flachs wächst 200 Kilometer von hier und wurde im Mühlviertel gewebt“, sagt Gerst. „Das ist echte Nachhaltigkeit.“ Jede Österreicherin, jeder Österreicher gibt durchschnittlich 400 Euro pro Jahr für Gewand aus, das entspricht 17 Kilo Textilien. Gerst verlangt 580 Euro für ihren Mantel, eigentlich müssten es 900 Euro sein. Sie würde gern Mode für alle machen, doch regionale Wertschöpfung kostet. Dafür werden keine Näherinnen und Baumwollpflanzer ausgebeutet, keine Gerbstoffe eingesetzt, es fallen keine Zölle an und es gibt keine langen Lieferketten. Außerdem ist Mode von Gerst langlebig und vielseitig: Ein Bekannter schenkte seiner Freundin eine Latzhose aus Leinendenim. Gerst nähte die Hose mit dem losen Unisex-Schnitt so, dass beide sie tragen können.

Hauch von Utopie

riel seine Korbflechterei. 2008 begann er eine Permakulturausbildung in Irland, dort war Korbflechten ein Nebenfach. „Es ist ein gutes Beispiel für Permakultur. Man kann das Rohmaterial selbst anbauen und braucht keine zusätzlichen Mittel: keinen Kleber, keinen Zwirn“, erklärt Bouriel. „Mich faszinierte, dass man aus ein paar Ruten Gebrauchsgegenstände machen kann.“ Früher war Korbflechten ein Gewerbe, heute gibt es nur noch in Frankreich, Deutschland und Polen Schulen, wo man es lernen kann. Bouriel betrieb das Korbflechten zuerst als Hobby und weichte seine Ruten in der Badewanne ein. Seit 2015 logiert sein Unternehmen hier, seine Weiden baut er auf einem Feld im Augebiet selbst an. In seiner Werkstatt sind die Weidenruten nach Farben und Längen sortiert, einen großen Steintrog zum Einweichen gibt es auch. Etwa viereinhalb Stunden braucht er für einen Einkaufskorb. „Der kostet 180 Euro und hält richtig lang.“ Bouriel verpasst auch alten Körben neue Henkel und macht sie so wieder brauchbar. Ein gedrechselter Lampenschirm, wie er in der Hofküche hängt, ist ein Projekt von zwei bis drei Tagen. Seine Workshops sind sehr gefragt. Flechtkörbe lassen sich nicht industriell herstellen. „Körbe sind üblicherweise handgefertigt“, sagt Bouriel. „Die meisten werden von armen Familien in China oder Osteuropa gemacht. Von einem Korb, der 24 Euro kostet, bekommen diese schließlich etwa fünf Euro für vier Stunden Arbeit.“

Michaela Noack steht knapp vor ihrer Meisterprüfung als Tischlerin. „Der Dorfplatz hat mich bewegt, in die Selbständigkeit zu gehen“, sagt sie. Noack arbeitet im Holzatelier, fertigt Möbel, verleimt alte Sessel neu und repariert vieles. Herzstück der Werkstatt ist die „Rote Elsa“. Diese riesige Maschine kann fast alles: sägen, hobeln, schleifen, schneiden. Auch eine Bandsäge aus dem Jahr 1893 steht da. „Sie funktioniert wirklich“, sagt Noack. „Ein halbes Jahr haben wir sie repariert, sie ist aus Gusseisen und wahnsinnig präzise.“ Wer die „Rote Elsa“ braucht, bekommt eine Einschulung. Hier wird vieles geteilt. Wenn sich Utopien schon nicht umsetzen lassen: Versuchen kann man es. Wie gut, dass Alfred Kögl diesen Hof einst vor dem Abriss rettete. ● ○