Rötzer

Theater ist keine Kanzel


Wie kann eine Landesbühne neue Communitys ansprechen? Welche Ideen vermögen, das Theater heute mit Land und Leuten zu verbinden? Und wie gelangt Europa nach St. Pölten? Intendantin Marie Rötzer sprach mit morgen über die bewegten Anfangsjahre des Landestheaters, seine internationalen Ansprüche und seine Verankerung in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

morgen: Das Landestheater Niederösterreich feiert heuer sein 200-jähriges Bestehen. Gegründet wurde die Bühne auf Betreiben der Bevölkerung. Wie kam es dazu?

Marie Rötzer

:

Die Menschen in St. Pölten hatten offenbar schon damals ein reges Interesse am Theater. Im 19. Jahrhundert wollte sich das aufstrebende und finanzkräftige Bürgertum eine fixe Bühne leisten. Damals erlebte der gesamte deutschsprachige Raum einen Theaterboom; die dabei gegründeten Bühnen waren wesentlich für die Entwicklung des bürgerlichen Selbstverständnisses. Das Theater wurde als ein Ort verstanden, an dem sich die Bourgeoisie über sich selbst, ihre Werte und Ideale verständigen konnte – es wirkte identitätsstiftend. Für mich hat es diese Bedeutung nie verloren, obwohl sich die Gesellschaft inzwischen grund­legend verändert hat.

Sind die Namen der Gründungsmitglieder überliefert?

Eine Aktiengesellschaft mit dem Namen „Gesellschaft des Theaterbaus in St. Pölten“ wurde eigens gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern zählten 47 Aktionärinnen und Aktionäre, darunter Bischof Dr. Johannes Ritter von Dankesreiter sowie neun Adelige aus der Stadt und der Umgebung. Frauen waren ebenfalls mit von der Partie, für die damalige Zeit mehr als außergewöhnlich, darunter die Fürstin und Prinzessin von Lothringen. Sie nahmen vergleichsweise viel Geld in die Hand, um das ehemalige Garnisonsgefängnis zu erwerben und zu renovieren. Die ersten 150 Jahre der Institution waren anschließend von radikalen Höhen und Tiefen geprägt, fortlaufende finanzielle Krisen führten in den 1920er- und 1930er-Jahren sogar wiederholt zu kurzzeitigen Schließungen. Aber es gelang stets aufs Neue, das Theater wieder aufzusperren, auch unter den widrigsten Umständen. Die Geschichte der Bühne ist eng mit der Geschichte St. Pöltens verwoben.

Welche Publikumsschichten wollen Sie heute ansprechen?

Unsere Gesellschaft gestaltet sich weitaus diverser als im 19. Jahrhundert. Ich spreche deshalb weniger gern von Schichten, lieber von vielfältigen Communitys.

Was unternehmen Sie, um diese ins Theater zu bringen?

Wir erfinden laufend neue Formate, die auf den ersten Blick nichts mit Theater zu tun haben. Im Vorjahr riefen wir etwa das „Zukunftsbüro“ ins Leben, eine Vortragsreihe, bei der es um die Zukunft der Arbeit ging. Die Fortsetzung davon ist das „Erinnerungsbüro“, in dessen Rahmen wir uns dieses Jahr mit der Geschichte St. Pöltens beschäftigen. Beispielweise erarbeiten wir gerade einen historischen Stadtspaziergang zum Schwerpunkt jüdisches Leben in St. Pölten. In einer Art Theaterlabor arbeiten wir darüber hinaus mit Flüchtlingen und NS-Zeitzeugen zusammen, indem wir versuchen, gegenwärtige Migrationserfahrungen mit historischen Berichten über Exil und Verfolgung zu verbinden. Wir haben Gesprächsrunden im St. Pöltner Sonnenpark und in Kaffeehäusern initiiert, sind stolz auf unser Kinder- und Jugendtheater; beim sogenannten Klassenzimmertheater erlebt man unsere Schauspielerinnen und Schauspieler direkt in den Klassenräumen. Nicht zu vergessen das Bürgertheater: Dabei erarbeiten wir mit Laiendarstellerinnen und -darstellern jedes Jahr ein Stück, das sich um die Stadt und die Region dreht.

Wie nimmt das Publikum diese Aktivitäten an?

Sehr gut! Es besteht eine große Sehnsucht sich auszutauschen. Mit solchen Veranstaltungen versuchen wir, auf anderen Wegen auf die Gesellschaft einwirken zu können, darauf aufmerksam zu machen, dass ein Theaterbesuch nicht mit Mühsal verbunden ist, sondern einen durch und durch bereichert. Wir suchen ständig nach neuen Verbindungen, versuchen Brücken zu schlagen. Meine Hoffnung ist, dass unsere Angebote Hemmschwellen senken und das Publikum mit derselben Selbstverständlichkeit ins Theater wie ins Kino geht.

Theater sind kulturelle Nahversorger. Welchen Beitrag leistet die Bühnenkunst für den öffentlichen Diskurs?

Wie Kunst generell ist auch das Theater stets Spiegel seiner Zeit. Es stellt gesellschaftliche Probleme, Ängste, Herausforderungen zur Debatte. Das Besondere an der Bühnenkunst ist jedoch, dass sie einzigartige Gemeinschaftserlebnisse hervorbringt, indem sie Spielerinnen und Spieler mit dem Publikum in einem Raum versammelt. Theater sind deshalb auch Erfahrungsräume für Demokratie, laden zum Gespräch ein. Im Dialog mit den Geschichten, die auf der Bühne verhandelt werden, können alle ihren eigenen Standpunkt zum jeweiligen Thema entwickeln, über Dinge nachdenken, die sie sonst vielleicht unberührt gelassen hätten, sich mit Zusammenhängen konfrontieren, die womöglich außerhalb der eigenen Komfortzone liegen. Im Idealfall vermag eine bestimmte Inszenierung ein fortlaufendes Gespräch in Gang zu setzen: im Foyer, während der Pause, beim Publikumsgespräch, im Lokal nach der Vorstellung – coronabedingt im Moment sehr reduziert. Aus den Dramen der Vergangenheit lernt man, die Gegenwart besser zu verstehen, um die Zukunft zu gestalten. Theater ist keine Kanzel, von der herab Moral gepredigt wird. Es ermöglicht einen Erkenntnisgewinn durch lebendigen Austausch, der alle Sinne anspricht. Ich bin eine Anhängerin guter Unterhaltung: Die Komödie ist bekanntlich die wirksamste Form der Kritik.

Mit internationalen Koproduktionen, mehrsprachigen Aufführungen und Gastspielen machen Sie sich für ein europäisches Theater stark. Ist Europa bereits in St. Pölten angekommen?

Im Musik- und Tanztheater ist die internationale Zusammenarbeit längst eine Selbstverständlichkeit. Das Sprechtheater war wegen der Sprachbarrieren viel zögerlicher, fremdsprachige Passagen werden bei uns im Haus nun mit Übertiteln versehen. Die Auflösung von Grenzen, die Begegnung mit anderen Kulturen ist im Sprechtheater genauso bereichernd wie in allen anderen Kunstgattungen. Mit dem Theater Bozen arbeiten wir seit Längerem zusammen, heuer ist zum ersten Mal Luxemburg dazugekommen, und ich freue mich heute schon auf die Zusammenarbeit mit Luk Perceval und dem Theater NTGent: In „Yellow“ wird sich der Regisseur mit flämischen Nazi-Kollaborateuren auseinandersetzen und ein dunkles Kapitel belgisch-österreichischer Geschichte aufarbeiten.

Die Komödie ist die wirksamste Form von Kritik.

Wie wirkt sich Corona auf die internationalen Projekte aus?

Die Pandemie stellt uns vor große Probleme, wir mussten vieles verschieben, einiges absagen. Percevals „Yellow“ war etwa für diese Spielzeit geplant, wird aufgrund der coronabedingten Reisebeschränkungen aber erst in der kommenden Spielzeit stattfinden. Wir hoffen, dass wir zumindest die Vereinbarungen, die wir mit Bozen und Luxemburg geschlossen haben, einhalten können. Mir ist wichtig, dass wir trotz Corona in die Welt hinausgehen – alles andere wäre ein Rückschritt. Gastspiele sind eine wesentliche Säule der Programmatik des Landestheaters, sie sind unser Fenster zur Welt. Österreich ist keine Insel, auch wenn uns Teile der Politik das immer wieder weismachen wollen. Kultur muss da dagegenhalten. Die Kulturschaffenden müssen zusammenstehen, als gesellschaftliche Kraft auftreten. Wir dürfen uns gerade jetzt nicht auseinanderdividieren lassen.

Wie sehr hat uns der Shutdown verändert?

Wir leben in einer Art Schwebezustand. Gewissheiten haben sich aufgelöst, der hedonistische Lebensstil wurde ordentlich durcheinandergewirbelt. Überhaupt ist unser Leben weniger planbar geworden, wir sind aufgefordert, rasch auf neue Gegebenheiten zu reagieren. Krisen funktionieren immer auch als eine Art Brennspiegel, sie decken Defizite, die bereits zuvor bestanden, erbarmungslos auf. Vielleicht erleben wir aber auch jenen neuralgischen Moment, an dem wir uns neu definieren könnten. Diese Hoffnung will ich mir zumindest nicht nehmen lassen. ● ○