Berg

Es war unglaublich!


Theatermacher und Festivalleiter Airan Berg ist Experte dafür, die Öffentlichkeit aktiv in Kulturprojekte zu involvieren.

morgen unterhielt sich mit Airan Berg im Haus seiner Eltern nahe Klosterneuburg und erfuhr, wie Jugendliche aus der „Orestie“ einen Zombiefilm machen, wieso Partizipation manchmal zur Alibiaktion verkommt und warum das Motto „Pay as you wish“ nicht unbedingt das richtige ist.

morgen: Bereits 2003, als Direktor des Schauspielhauses in Wien, riefen Sie – zusammen mit der Armutskonferenz – die Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ ins Leben, um Menschen, die es sich nicht leisten können, den kostenlosen Zugang zu Veranstaltungen zu ermöglichen. Mittlerweile machen Hunderte Kulturbetriebe mit. Hätten Sie sich das gedacht?

Airan Berg

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Ich äußerte damals meine Hoffnung, dass dieses Projekt obsolet würde. Aber leider leben immer mehr Menschen in Armut. Daher gibt es auch immer mehr Menschen, die sich die kulturelle Teilhabe nicht leisten können. Covid-19 und die daraus folgende Arbeitslosigkeit werden das verschlimmern. Damals haben mir viele Menschen geschrieben: Sie seien immer ins Theater gegangen, dann aber in die Armutsfalle getappt. Durch diese Aktion hätten wir ihnen ihr Leben und ihre Würde zurückgegeben. Eben weil sie ins Theater gehen konnten. Ich erinnere mich auch an den Brief einer Person, die untertags am Naschmarkt nach Essensresten suchte. Und am Abend war sie, als Teil des Theaterpublikums, mitten in einer Gemeinschaft.

In der Debatte um Lockerungen für Veranstaltungen wurden Kunst und Kultur immer wieder als „Lebensmittel“ bezeichnet. Klaus Albrecht Schröder, der Direktor der Albertina, hingegen meinte, dass wir zunächst aufs Theater verzichten sollten. Was denken Sie?

Kunst und Kultur sind lebensnotwendig. Sie machen uns zu Menschen, sie machen uns aus. Und Menschen brauchen die sozialen Räume. Wenn wir diese relativ gefahrlos nutzen können, sollten wir das auch tun – und Veranstaltungen anbieten. Denn auch Vereinsamung und Depression sind schlimme Krankheiten. Die Sehnsucht, etwas gemeinsam zu erleben, ist eben groß. Das merken wir auch beim oberösterreichischen Festival der Regionen, das ich seit 2018 leite. Unser Job als Kulturschaffende ist es, diese Sehnsucht – im Rahmen des Möglichen – zu befriedigen. Also unseren Beitrag zu leisten, dass wir eine gesunde, auch mental gesunde Gesellschaft bleiben.

Es geht Ihnen aber nicht nur um das gemeinsame Erleben: Sie wollen mit den Menschen künstlerisch in Dialog treten. Wie kam es dazu?

Das begann eigentlich schon am Schauspielhaus, das ich ab 2001 mit Barrie Kosky geleitet habe. Es war ein offenes Haus, wir arbeiteten mit Flüchtlingen und Schulklassen. In den Mittelpunkt rückte die Idee ab 2008, als wir das Programm für die Kulturhauptstadt Linz entwickelten. Damals wurde mir zum ersten Mal klar, dass man mit Kunst und Kultur das Leben von anderen Menschen positiv beeinflussen kann. Und daher mache ich auf diesem Weg weiter. Um die Teilhabe zu vergrößern, ist beim Festival der Regionen unser Prinzip „Pay as you can“. Bei „Pay as you wish“ kann es passieren, dass reiche Menschen wenig geben. Deshalb sind sie auch reich. Aber bei „Pay as you can“ soll jeder das geben, was er kann. Einen Euro oder 50.

Sie machen mit Ihren partizipativen Projekten Angebote, halten sich mit Vorgaben aber zurück.

Ja. Als künstlerische Leitung ist es auch unsere Aufgabe, Menschen zu verführen, ins Theater zu gehen. Genauso ist es bei partizipatorischen Projekten. Im Rahmen der „Stadtrecherchen“ für das Burgtheater haben wir die Menschen jenseits der Donau gefragt, was sie interessiert. Es war klar, dass unsere Angebote in irgendeiner Form mit einer zentralen Produktion zu tun haben mussten. Das war zum Beispiel die „Orestie“, wo es um Rache, um Familie, um Macht, um Demokratie geht. Die Genres wurden von denen, die teilnahmen, selbst definiert. Sie entschieden, ob sie zum Beispiel mit Medienkünstlerinnen, mit Musikern oder mit Theatermacherinnen zusammenarbeiten wollten. So kam es, dass wir mit einem Jugendzentrum einen Zombie-Rachefilm gedreht haben. Andere schrieben unglaubliche Raptexte, eine Schulklasse machte ein Musical, alle haben etwas über die „Orestie“ gelernt.

Nach Linz haben Sie unter anderem auch für Lecce und Mannheim sowie in Australien gearbeitet. Welches Projekt war für Sie das beglückendste?

Ich hasse solche Fragen! Ich denke sehr gerne an Linz zurück. Das Thema der Klangwolke im Kulturhauptstadtjahr war „Flut“. Der Bildhauer Roger Titley und zehn Studierende der Kunstuni bastelten zusammen mit der Bevölkerung im ehemaligen Finanzamtsgebäude etwa 400 Tiere. Und dann, vor Beginn der Klang­wolke, zogen etwa 1.000 Menschen mit den beweglichen Tieren hinaus in die Stadt und weiter zur Donau. Welche Stimmung das erzeugt hat! Wir rechneten mit vielleicht 4.000 Leuten, aber es waren fast 20.000 bei der Parade. Jemand rief mich an und sagte: „Die ganze Stadt lächelt! Und das in Österreich!“

Wie erinnern Sie sich an Ihr Linzer Projekt „I like to move it move it“? Ich dachte, Sie würden es als Antwort auf meine vorige Frage nennen.

Der Autor Sir Ken Robinson, der leider im August zu früh gestorben ist, bezeichnete „I like to move it move it“ als das nachhaltigste Projekt, das er je gesehen hat. Was dabei in den Schulen passiert ist, war unglaublich! Ein Semester lang machten Künstlerinnen und Künstler mit Schulklassen Theater. Mein Ansatz war: Wir haben keine Ahnung von der Arbeitswelt in 20 Jahren, müssen daher den Schülerinnen und Schülern Tools mitgeben, die sie in jedem Fall brauchen können. Drei Jahre später war im Parlament ein Demokratietag mit vielen Schulklassen. Plötzlich ruft mich jemand: „Herr Berg! Herr Berg!“ Ich dreh mich um, vor mir stehen ein Schuldirektor und eine Lehrerin. Sie erzählten, dass man die Auswirkungen des Projekts noch immer spüre. Wie das? „Die Schüler, die teilgenommen haben, sind doch nicht mehr an der Schule“, meinte ich. Die Antwort war: „Das stimmt. Aber wir sind als Schule mutiger geworden.“

Es geht also darum, Selbstvertrauen zu entwickeln?

Zum Beispiel. Oder eine Veränderung herbeizuführen. Lecce wurde zwar nicht Kulturhauptstadt, aber die Arbeit an der Bewerbung – zusammen mit der Bevölkerung – hat die Stadt tatsächlich verändert. Ich wurde einst von einem Forza-Italia-Bürgermeister geholt. Und nach der Bewerbungsphase gewann ein Linker die Wahl.

Auch St. Pölten wurde nicht Kulturhauptstadt. Schade?

Ich möchte zwei Dinge sagen. Erstens: Ich finde es großartig, wenn sich eine Stadt, die den Titel nicht bekommen hat, nicht zerfleischt, sondern an der Idee festhält, mit Kunst und Kultur die Region entwickeln zu wollen. Denn das Budget war ohnedies schon reserviert, und von der EU wären nur 1,5 Millionen Euro gekommen. Eine wahre Kulturhauptstadt macht das Programm – mit oder ohne Titel. Zweitens: Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, alles auf das vorgesehene Jahr zu konzentrieren. Denn man könnte wie ein schlechter Verlierer ausschauen, wenn man der offiziellen Kulturhauptstadt Konkurrenz macht. Und man bekommt vielleicht auch nicht die Aufmerksamkeit, die man verdient hätte. Daher könnte man das Geld auch über einen längeren Zeitraum ausgeben, verteilt auf zum Beispiel drei Sommer. Im Winter ist das Kulturjahr ohnedies immer schwierig, weil man den öffentlichen Raum nicht bespielen kann.

Das Festival der Regionen findet alle zwei Jahre an einem anderen Ort statt. Dadurch gibt es keine Kontinuität. Ist das nicht auch ziemlich schwierig?

Ja. Denn es müssen immer neue Strukturen aufgebaut werden. Partizipation funktioniert nur über Vertrauen. Das gewinnst du aber erst, wenn du Projekte realisierst. Und schon ist alles wieder aus.

Das Scheitern gehört zu meinem Beruf.

Allerorts, auch in St. Pölten, wird jetzt Bürgertheater gemacht. Das müsste Ihnen eigentlich widerstreben, denn es gilt zumeist das Top-down-Prinzip.

Ich kenne Leute, die fantastisches Bürgertheater machen. Es gibt viele Formen von Partizipation. Jeder Zugang hat seine Berechtigung. Schließlich arbeiten alle eine längere Zeit an einem gemeinsamen Projekt. Es gibt aber derzeit einen Druck zur Partizipation. Was ich nicht mag: Wenn Institutionen, die gar nicht an Partizipation glauben, Alibiprojekte anbieten, in die nicht genug Geld investiert wird. Von der öffentlichen Hand finanzierte Theaterhäuser gehören eigentlich uns allen. Ich würde mir wünschen, dass diese Häuser auch einen ordentlichen Teil ihres Budgets für partizipative Projekte verwenden. Denn nur dann kann man gute Arbeit leisten. Und dann kann man Menschen an ein Haus binden, die ansonsten gar nicht gekommen wären.

In alle Ihre Projekte passt nur eines nicht hinein: das kulturpolitische Engagement für die Liste Pilz, die mittlerweile Geschichte ist.

Das glaube ich nicht. Denn die Grundidee der Liste Pilz war, eine partizipatorische Bewegung aufzubauen – ohne Parteibuch, ohne Klubzwang. Das ist gescheitert. Auch deshalb, weil es nach dem Ibiza-Skandal vorgezogene Neuwahlen gab. Uns fehlte einfach die Zeit. Aber auch das Scheitern gehört zu meinem Beruf.

Werden Sie weiter politisch aktiv sein?

Ich bin immer politisch aktiv, denn meine Arbeit ist nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch. Aber ich werde mich nicht parteipolitisch engagieren. Außer ich gründe eine eigene Partei. Ich würde sie übrigens „Die Mehrheit“ nennen. Das klingt doch gut: Die Mehrheit fordert – zum Beispiel mehr Geld für Kunst und Kultur. ● ○