Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!


Ich möchte Sie zu einem kleinen Gedanken-Experiment einladen

Ich möchte Sie zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen: Wo wären Sie persönlich ohne Zivilgesellschaft? Ohne privates und unbezahltes Engagement von Menschen, denen etwas ganz Bestimmtes am Herzen liegt? Ich kann die Frage für mich, nur auszugsweise freilich, so beantworten: Hätten sich nicht vor mehr als hundert Jahren Frauenrechtlerinnen Kämpfe mit der Obrigkeit geliefert, dürfte ich nicht wählen. Wären nicht in den 1970er-Jahren Feministinnen auf die Straße gegangen, könnte mein Mann mir – theoretisch! – die Erwerbstätigkeit verbieten. Und genau genommen hätte ich mir unlängst Ruth Brauer-Kvams hochgelobte Inszenierung von „Molières Schule der Frauen“ nicht ansehen können. Die Wurzeln des Landestheaters Niederösterreich, wo diese gerade läuft, liegen nämlich ebenfalls in zivilgesellschaftlichem Engagement: Wie Karin Cerny in ihrem Beitrag ab Seite 37 beschreibt, gründeten vor 200 Jahren einige Enthusiasmierte in St. Pölten ein Theater und legten so den Grundstein für das heutige Haus. Grund genug, ihm anlässlich des Jubiläums ein Special zu widmen.

Freilich ist das Spektrum der Werte, für die sich Menschen engagieren, breit. Gerade jene, die undemokratische Anliegen vertreten, nehmen gern demokratische Institutionen in Anspruch. Das sieht man aktuell an jenen Demos, bei denen Rechtsextreme und Fans von Verschwörungstheorien aufmarschieren. Im Gegensatz zu tatsächlich zivilgesellschaftlichen Bewegungen agieren sie ausschließlich im eigenen Interesse. Sie nutzen dabei ebenso die Form des Protests, allerdings mit dem Anliegen, autoritäre Regime zu errichten – und damit genau das abzuschaffen, von dem sie profitieren: Rede- und Demonstrationsfreiheit.

Die wahre Zivilgesellschaft trotzt nicht nur in autoritären Staaten wie Belarus, sondern auch mit den Fridays-for-Future- und Black-Lives-Matter-Protesten der Pandemie. Ebenso wenig hielt Corona viele Freiwillige von ihrem Engagement ab – egal, ob sie sich im Theater, in der Wissenschaft oder in einer Dorfgemeinschaft einbringen. Davon können Sie sich in diesem Heft ein Bild machen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen. ● ○

Herzlichst

Ihre Nina Schedlmayer