© Alexi Pelekanos

Burgtheater

Alle zusammen!


Vor 200 Jahren beschlossen Bewohnerinnen und Bewohner von St. Pölten, gemeinsam ein Theater zu gründen. Wie geht dieses heute mit seiner emanzipatorischen Tradition um? Und was kann ein Bürgertheater für eine Stadt leisten?

Hätte es vor 200 Jahren bereits den Begriff des Crowdfunding gegeben, so wäre das Projekt damit benannt worden: Umgerechnet 3.000 Euro zahlten wohlhabende Bürgerinnen und Bürger von St. Pölten damals in eine Aktiengesellschaft ein, um ihren Traum von einer eigenen Bühne zu verwirklichen. Sie wollten nicht nach Wien fahren müssen, um Schauspielkunst hautnah zu erleben. Ihr gesellschaftliches Selbstbewusstsein drückte sich darin aus, dass sie sich den Kunstgenuss in der Heimatstadt leisten konnten. Apotheker, Geistliche, auch einige Adelige griffen dafür freigiebig in ihre Privatkassen. Es sollte einen Direktor und ein festes Ensemble in St. Pölten geben. Die Devise: Gemeinsam schaffen wir das!

Akrobatische Darbietungen

Dauerbrenner waren bereits in den Anfangsjahren Stücke von Schiller, Shakespeare und Kleist, auch Nestroy sah man gern. Das erzählt der Wiener Dramatiker Bernhard Studlar, der viele Stunden in Archiven verbracht hat, um die Gründungsgeschichte des heutigen Landestheaters Niederösterreich zu erforschen. Wobei man damals ohnehin einen viel breiter gefassten Theaterbegriff pflegte: „Es war ein höchst diverser Spielplan“, sagt Studlar. „Meist gab es einen Prolog, der vom Direktor persönlich gesprochen wurde. Darauf folgten akrobatische Darbietungen, dann erst das Drama. Es war ein gesellschaftliches Event.“

Seit damals hat sich nicht nur auf der Bühne viel verändert: Theater werden subventioniert (obwohl es zudem Fördervereine gibt). In den vergangenen Jahren konnte man aber auch beobachten, dass etwa in Deutschland viele feste Häuser nicht nur mit finanziellen Problemen zu kämpfen haben. Zunehmend stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir diese altmodische Kunstform in Zeiten von Netflix überhaupt noch? Für wen spielt man eigentlich? Der Druck ist größer geworden, der Zwang zur Quote gestiegen. Wie die Kunst- und Kulturbudgets nach der Covid-­19-Krise aussehen werden, steht in den Sternen. Sich grundlegende Fragen zu stellen, ist aber sicher keine schlechte Strategie, um fit für die Zukunft zu sein. Gerade, wenn es um den Punkt geht, wie man ein Publikum dauerhaft bindet. Wie man es schafft, sich in einer Stadt unverzichtbar zu machen.

Theater war lange des „sittlichen Bürgers Abendschule“, wie die österreichische Wissenschaftlerin Hilde Haider-Pregler in ihrem gleichnamigen Buch ausführt: Ein stolzes Bürgertum, das dem Adel an Prunk in nichts nachstand, versicherte sich seiner Werte in der Kirche und im herrschaftlichen Theater. Welche gemeinsamen Werte gibt es inzwischen noch in einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft? Und, wer um alles in der Welt, möchte sich im Theater noch belehren lassen? Stadttheater suchen gerade nach neuen Wegen, direkter mit ihrem Publikum zu kommunizieren. Sie wollen diverser werden, vermehrt junge Menschen, Migrantinnen und Migranten, Nicht-Deutschsprachige einbeziehen. Wie gelingt es, dass die Bevölkerung einer Stadt eine Bühne als ihre eigene betrachtet, für die sie im Notfall auch kämpft?

In den Nullerjahren machte der deutsche Regisseur Völker Lösch mit seinen Bürgerchören am Staatsschauspiel Dresden vor, wie es gehen könnte. Zu seinem Markenzeichen gehört es, Stücke des bürgerlichen Bildungskanons mit Laienchören zu kontrastieren, die konkrete Probleme wie Mietwucher thematisierten oder das immense Vermögen der Millionäre von Dresden offenlegten. Seine Inszenierungen sorgten für Skandale, aber auch für politische Diskussionen, die weit über das Theater hinausreichten. Unterprivilegierte Gesellschaftsschichten wie Haftentlassene oder Sexarbeiterinnen kamen da zu Wort; Fragen der sozialen Gerechtigkeit wurden von Betroffenen angesprochen. Theater hatte plötzlich eine sehr direkte Kraft, es packte aktuelle Missstände an und vergrößerte sie auf der Bühne. Löschs Einbeziehen von Laienchören war auch eine Kampfansage an die Bewohnerinnen und Bewohner von Dresden: Wenn ihr dieses Theater haben wollt, dann müsst ihr es auch selbst gestalten. Ihr müsst es euch zu eigen machen und mitspielen.

Wir haben eine Band aus 65 Menschen.

Große Bühne

Löschs Engagement war ein wesentlicher Motor, der das sogenannte Bürgertheater modern machte. Mit spielwütigen Laiinnen und Laien werden da neue Stoffe entwickelt und aufgeführt. Am Landestheater Niederösterreich betreut Regisseurin Nehle Dick seit fünf Jahren die bereits unter der früheren Intendantin Bettina Hering gegründete Bürgertheater-Schiene. In St. Pölten ist man diesbezüglich übrigens innovativer als anderswo: Die Stücke landen auf der großen Bühne, während andere Häuser eher auf kleine Nebenspielstätten ausweichen oder überhaupt nur Workshops anbieten. „Wir haben mittlerweile eine flexible Band, wie ich es gern nenne, aus rund 65 Menschen, die regelmäßig mitmachen“, erklärt Dick. Die bisherigen Aufführungen waren aber auch schon in einem Zirkuszelt oder in einer Fabrikhalle angesiedelt. „So lernen die Menschen ihre eigene Stadt und deren Geschichte besser kennen“, sagt sie.

Inge (78) und Norbert (79) Pohl können das bestätigen. Sie sind die Stars des Ensembles, erzählt Autor Bernhard Studlar, der begeistert ist vom Humor der beiden. „‚Stars‘ ist sicher übertrieben“, sagt Norbert Pohl, „wir haben halt einen Altersbonus“. Ihm gefällt die „schöne Gemeinschaft“, die auf den Proben entsteht. Seine Frau findet, dass Regisseurin Dick „sehr einfühlsam arbeitet“. Außerdem genießt das Paar es, dass verschiedene Altersstufen zusammenkommen. „Wenn man älter ist, hat man ja vor allem mit anderen älteren Leuten zu tun“, sagt Inge.

Gemeinsam mit dem Autor Bernhard Studlar wird gerade an einer Jubiläumsinszenierung gebastelt, auch, um den 200. Geburtstag gebührend zu feiern. Unter dem Titel „Eine Stadt sucht ihr Theater“ (Uraufführung ist für 2. Juni 2021 geplant) soll der Gründungsmythos des Hauses künstlerisch untersucht werden. Für Studlar ist es eine neue Erfahrung, für bis zu 50 Personen ein Stück zu schreiben. Es soll eine Art Parcours durchs ganze Theatergebäude werden, in Kleingruppen geht es von den Künstlergarderoben bis in die Werkstätten und Katakomben. „Es wird eine Reise durchs Haus und durch die Jahrhunderte“, sagt Studlar, der seine Texte für die Darstellerinnen und Darsteller maßschneidert. „Manche sprechen weniger gern, andere trauen sich lange Passagen zu. Einige sind zu Beginn eher scheu, blühen aber während der Proben auf“, berichtete er von seinen bisherigen Erfahrungen. Für die Pohls hat er eigens eine Szene geschrieben: Sie spielt die Intendantin des Theaters, natürlich im Büro von Landestheater-Direktorin Marie Rötzer, er ist ein Autor, der glücklos versucht, ihr sein jüngstes Stück anzudrehen.

Ungefiltertes Feedback

Studlar begeistert auf den Proben auch die Ehrlichkeit, die direkte, ungefilterte Art des Feedbacks. „Im klassischen Stadttheaterbetrieb hat man gar nicht so viel Zeit, das Ensemble probt mehrere Stücke gleichzeitig“, sagt er. „Die Laien sind neugieriger, setzen sich zum Teil intensiver mit ihren Texten auseinander. Sie fragen nach, weil sie sich nicht mit Kunstfertigkeit über Stellen mogeln können, die ihnen nicht klar sind.“ Nehle Dick sieht das ähnlich: „Sie verstehen den Prozess besser als zuvor – wie Theater entsteht, was Proben bedeuten. Dadurch blicken sie anders auf fertige Produkte, die sie auf der Bühne sehen.“

Der elfjährige Paul Scheiblauer ist der Jüngste im Ensemble. Er ist über die Theaterpädagogik zur Bürgerbühne gekommen und seit der ersten Klasse dabei. „Ich habe ein schönes Gefühl im Bauch, wenn ich auftrete“, erzählt er begeistert. „Man schließt während der Proben neue Freundschaften.“ Zu den Vorstellungen kommen andere Kinder aus seiner Schule und Verwandte. Ein angenehmer Nebeneffekt: So füllt sich ein Theater mit Publikum. Für Paul ist schon jetzt klar: Er möchte später Schauspieler werden.

Die Zukunft des Theaters ist also gesichert. ● ○